Viele brachten ihre neuen Bekannten mit. Flüchtlinge aus Syrien, dem Nordirak oder Afghanistan. Als die Hannoversche Landeskirche im Rahmen der Allianz "Niedersachsen packt an" zu einer Vorschau des Films "Human Flow" ins Kino geladen hatte, fanden sich auch zahlreiche Besuchende ein, die als Flüchtlinge ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wie der Film sie zeigt.
Mit dem Film "Human Flow" hat einer der bekanntesten Künstler der Gegenwart, Ai Weiwei, ein eindrückliches Statement abgegeben. Wer in 140 Minuten die Reise Ai Weiweis durch Flüchtlingslager in Wüstenlandschaften oder in Zeltstädten auf Schlammfeldern verfolgt, wer das unwürdige Leben von Greisen, hochschwangeren Frauen und Kindern in Zelten, Containern oder im Flugzeughangar gesehen hat, für den erscheint die Frage nach einer Obergrenze wie eine politische Posse.
Ai Weiwei hat mit mehr als 200 Beteiligten in verschiedenen Filmteams einen Dokumentarfilm gedreht und sich zeitweilig als Betrachter mit ins Bild genommen. Man sieht ihn mit dem Handy zwischen den marschierenden Flüchtlingen filmen, in der stillen Betrachtung einer Kinderszene oder wie er eine weinende Frau tröstet. Er geht aus der Distanz, kommt den Menschen nah und scheint mittendrin zu sein. Ob wir wollen oder nicht, wir sind beteiligte Beobachter. Und die entscheidende Frage wird sein: Ob die Weltgesellschaft bereit ist, sich zu beteiligen.
In der Pressekonferenz nach der Uraufführung in Venedig verhielt sich Ai Weiwei nicht als großer Erklärer dieses globalen Wanderungsphänomens. Er habe keine Antwort, er selbst bleibe nur Zuschauer. Doch zugleich dokumentiert er in Bildern diese Migrationsbewegung als eine Tragödie, die nicht die Menschheit, sondern den einzelnen Menschen trifft. Es ist nicht die "Flüchtlingswelle" oder der "Strom der Menschen", sondern es sind Bilder von Abermillionen einzelner Personen, die aufbrachen, um eine andere Welt zu finden. Menschen, die vor Terror und Gewalt, vor Hunger und Unsicherheit aus ihrer Heimat flohen, in der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben. Viele fanden den Tod. In der Schlusseinstellung wandert die Kamera in einer endlos langsamen Aufnahme über einen Berg von Abertausenden von Schwimmwesten. Jeden Tag sterben Menschen auf dem verzweifelten Weg in ein sicheres Leben.
Als der Film in Venedig auf der Filmbiennale gezeigt wurde, war die Kritik vom Publikum und den Journalisten ziemlich scharf: "Kennen wir", "nichts Neues", "zu lang". Dieser Film hat kein gutes Ende. Er ist anstrengend, weil er die Realität abbildet und Betrachterinnen und Betrachter in die Verantwortung zwingt. Auch wenn er scheinbar bekannte Bilder zeigt, wie sie zeitweilig in den Nachrichtensendungen weltweit verbreitet wurden. Dort jedoch waren es die News des Tages, die mit der gewohnten Distanz rezipiert werden konnten. Der Film stellt in seiner erschöpfenden Totalität diese Menschheitsbewegung so auf, dass sie als großes Drama in der Geschichte des "Homo sapiens" entsteht.
Die Frage, ob die Weltgemeinschaft diese Herausforderung des 21. Jahrhunderts annimmt oder daran scheitern wird, ist unbeantwortet. Die zwei Faktoren, die das Jahrhundert prägen und verändern werden, sind der Klimawandel und die Migration. Am Umgang mit beiden Phänomenen wird sich die Lebensfähigkeit unseres Planeten Erde und darin auch die Zukunft der Menschheit entscheiden.