Die Bäume hängen übervoll mit Äpfeln, durch die Birken säuselt der Wind. Sechs Schäferwagen stehen verstreut auf der Obstbaumwiese, helles Holz, weinrote Fensterläden. Werner Leipold von der Kirchengemeinde Nonnenroth in Hessen schließt eine Tür auf: drei Betten, ineinander verschachtelt, ein Ausziehbett für Kinder, kleiner Tisch, Hocker. Es duftet nach Holz. "Schon im Juni hatten wir 86 Übernachtungen", sagt Leipold stolz. "Wir sind sehr zufrieden damit." Die Kirchengemeinde ist Betreiber der neu eröffneten Schäferwagen-Herberge in Nonnenroth, einem kleinen Ort am Rande des Vogelsbergs.
Die Idee stammt aus der Gemeinde, aus einer "Weinlaune" heraus, erzählt Pfarrer Hartmut Lemp. "Wir wollten den Leuten eine Übernachtungsmöglichkeit geben." Durch Nonnenroth führt der historische Lutherweg 1521, ein Pilger- und Wanderweg. Er führt von Worms in Rheinland Pfalz zur Wartburg in Thüringen, 360 Kilometer.
Auf den Weiden
Die im vergangenen Jahr eröffnete Strecke orientiert sich an der Route des Reformators Martin Luthers: 1521 hatte ihn der Kaiser unter dem Vorwurf der Ketzerei zum Reichstag nach Worms zitiert und die Reichsacht über ihn verhängt, Luthers Beschützer brachten ihn daraufhin auf die Wartburg in Sicherheit.
Bei Nonnenroth können die Wanderer auch einen 41 Kilometer langen Rundweg laufen. Aber nicht nur Pilger übernachten in der Schäferwagen-Herberge, es kommen auch Jugendfußballer, Familien, Feuerwehrgruppen und Kindergärten.
An diesem Sommertag hat ein Vater mit seinem Sohn auf einer Radtour in der Herberge Halt gemacht. Der Junge düst mit dem kleinen Fahrrad über die Anlage. Ansonsten: Stille. Auf den Weiden ringsum grasen Kühe, Pferde und Ziegen. Die Abendsonne legt sich über die sanfte Landschaft aus Feldern, Wiesen, Hecken und Obstbäumen.
Die Stadt Hungen, zu der Nonnenroth gehört, beschäftige einen eigenen Schäfer, sagt Lemp. Im Nachbarort Villingen arbeiteten noch drei Schäfer mit mehr als 3.000 Schafen. Daher die Idee mit den Schäferwagen. "Wir haben gesagt: Das passt."
Stille, Ruhe, Natur, Entschleunigung - das sei der "Mega-Trend" im Tourismus, berichtet auch Thomas Roßmerkel. Er ist Leiter des Referats Tourismus in der benachbarten bayerischen Landeskirche. "Die Sonne wird abgelöst von der Stille." 25 Millionen Urlauber kommen jedes Jahr nach Bayern. Derzeit zum Beispiel angesagt: stille Übernachtungen, WLAN-freies Hotel, Schlafen im Baumhaus, Mitarbeit auf der Alm.
Die Landeskirche kooperiert mit der Marketingorganisation Bayern Tourismus: Die Touristiker bewerben kirchliche Veranstaltungen wie Pilgern, Berg-Gottesdienste oder spirituelle Wanderungen mit. Oder auch Bläserkonzerte am See, "kleine Formate in Kirchen". "Das läuft seit Jahren", berichtet Roßmerkel. "Der Gast will als Einheimischer auf Zeit ein Teil der Community sein." Umgekehrt nähmen an besonderen Gottesdiensten oder Wanderungen immer Einheimische teil.
Auch die evangelische Nordkirche setzt auf Natur und Entschleunigung. Ihr Programm für Urlauber an Nord- und Ostsee hat sie unter das Motto "Zeit für dich" gestellt. Dazu gehören Gottesdienste auf dem Deich, der persönliche Segen auf der Seebrücke oder Gute-Nacht-Geschichten im Strandkorb. Im Nationalpark Schwarzwald bieten die Kirchen Kräuterwanderungen an, Abendspaziergänge mit Musik, spirituelle Radtouren, Abendgebete auf dem Berg.
Die alte Wehrkirche von Nonnenroth, erbaut im 13. Jahrhundert, liegt mitten im Dorf auf einem Hügel. Angedacht sei eine "offene Kirche", sagt Pfarrer Lemp. Die Kirchengemeinde wünsche sich eine Begegnungsmöglichkeit zwischen Dorf und Gästen. Finanziert wurde die Schäferwagen-Herberge, die der Stadt Hungen gehört, unter anderem mit EU-Geld zur Förderung des ländlichen Raums. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Dorfladen.
Am nächsten Morgen sind Vater und Sohn schon früh weitergeradelt. Frühstücken können die Schäferwagen-Gäste ein paar Schritte weiter im Landhotel Nonnenroth, einem ehemaligen Bauernhof. Es gibt Brötchen, Ei, Marmelade, Wurst, Käse und viel Kaffee. Die Schäferwagen-Herberge sei eine Attraktion, sagt die Wirtin, aber bisher profitiere sie kaum davon. Doch noch steht die Herberge ja am Anfang. "Wir wachsen als Kirchengemeinde in das Projekt hinein", sagt Lemp.