Daniel Sikinger (Jahrgang 1980) entdeckte schon als Jugendlicher seine Leidenschaft für Stille. Während seiner Ausbildung zum Erzieher suchte er zwischendurch gerne die innere Einkehr: "Ich habe es mir damals zur Gewohnheit gemacht, in der Mittagspause ein bisschen rauszugehen", erzählt er. "Ich bin in den Feldern gelaufen, es war ein bisschen hügelig, und ich setzte mich irgendwo auf eine Bank." Sikinger hatte einen konservativ religiösen Hintergrund und dachte, er müsse diese Zeit für das Gebet nutzen. "Ich redete und redete innerlich. Dann gab es diesen einen Moment, an den ich mich noch sehr gut erinnern kann, wo ich einfach keine Worte mehr hatte. Ich hatte das Empfinden, dass Gott da ist und dass ich da bin. Das hat gereicht." Doch die Stille schien ihm merkwürdig. "Ich hatte kein Framework dafür, wo ich diese Erfahrung einordnen kann", so Sikinger. Er sagt: "Jeder hat mit der Stille auf seine oder ihre Art Berührungsängste. Mir war sie einfach nur fremd, ich hatte kein Vokabular dafür. Ich dachte, jetzt komme ich auf Abwege."
Doch er vergaß diesen besonderen Moment nicht. "Es legten sich andere Gedanken darüber, aber irgendwie habe ich mir den Kern bewahrt, diese Sehnsucht nach einer Tiefe." Sikinger studierte dann Praktische Theologie an dem englischen, alteingessenen St. John’s College und entdeckte, inzwischen verheiratet, dort in der Grafschaft Northumberland seinen persönlichen magischen Ort, ein modernes Kloster. Er blieb mit Frau und Sohn in "Nether Springs", einem neumonastischen Zentrum der Northumbria Community. Dort leitete er schließlich drei Jahre lang die Einkehrzeiten und Seminare über Stille und Innehalten.
Lange Zeit dachte Sikinger, er müsse die Tiefe in der Einsamkeit suchen: "In den Sonnenuntergangsmomenten des Lebens, auf den Berggipfeln und den Inseln – nur nicht in meinem Alltag." Doch dann erkannte er, dass sich Alltag und Begegnung mit Gott nicht ausschließen. In dem Kloster fand er die Gottesnähe mitten im fordernden Leben.
"Wir lebten den Weg ‚mitten hinein‘ mit anderen zusammen – wir putzten Klos, kochten Curry, tranken Tee und immer wieder hielten wir kurz an für Stille und Gebet, einfach im Wohnzimmer. Es gibt keine Trennung zwischen dem Banalen und dem Heiligen – das lernte ich dort ganz praktisch." Das sei für ihn der Wendepunkt gewesen.
"Das Schweigen braucht es gar nicht unbedingt, so schreibt Sikinger in seinem Buch. "Es gibt auch den direkten Weg, der eben mitten reingeht." Die christliche Mystikerin Madeleine Delbrêl erkläre diesen Weg, der das Leisesein kennt, aber noch viel mehr das laute Mittendrin - oder auch mittenhindurch. Die Flucht nach außen sei dann überflüssig. "Sie umschreibt das wunderbar", erzählt Sikinger. "Die Sorgen des Alltags sind die Rinde um eine herrliche Realität, die sie als Gott beschreibt."
Innehalten, hörbereit werden und Dasein
Aber braucht es nicht doch die äußere Ruhe, um zur inneren Stille zu kommen? Es sei jedenfalls nicht verkehrt, sagt Sikinger. "Das ist ein guter erster Schritt." Erstmal weniger oder bewusster reden. Weniger Geräusche, weniger Ablenkung. Erst einmal etwas weglassen. "Aber es wäre schade, wenn es dabei bleibt."
Was schlägt Sikinger nun konkret vor zu tun? Was, wenn das eigenen Leben nun mal laut und manchmal hektisch ist? Hier bringt Sikinger das schöne Wort "Zeitstaub" ein. "Wo habe ich in meinem Alltag scheinbar leere Momente? Momente, in denen ich zum Beispiel einfach nur warten muss - auf die S-Bahn, an der Supermarktkasse oder an der Ampel. Viel zu oft füllen wir diese Zeiten damit, dass wir uns ablenken, oft mit dem Handy. Aber so ein Moment, so ein 'Zeitstaub' kann ein Moment sein, in dem ich innehalte, einfach nur mal da bin und hinhöre."
Aus diesen Zeitstaub-Momenten ist bei Sikinger selbst ein Rhythmus am Morgen und am Abend entstanden. "Ich habe angefangen, morgens und abends kurze Momente für mich zu haben. Ich bin kurz noch länger im Auto sitzen geblieben, nachdem ich von der Arbeit heimkam oder bin zehn Minuten laufen oder spazieren gegangen. Es geht nicht um die Länge, sondern es geht manchmal einfach nur um diesen bewussten Akt des Innehaltens, still werden und einfach da sein."
Innerer Lärm ist nichts anderes als Ängste
Das ist eine Methode, die er auch in seinem Buch beschreibt: "Was uns helfen kann, sind die "großen Drei", wie ich sie hier nennen will: Innehalten, Hörbereit werden und Dasein." So fange dann etwas Neues an: das Hörbereitsein. "Ich höre, ich werde hörbereit, dann bieten sich ganz andere Möglichkeiten." Das Entscheidende sei der Umgang mit den Gedanken, die Gedanken loszulassen. "Dazu muss ich aber auch nicht stillsitzen oder spazierengehen." Es gelte wahrzunehmen: wo sind meine Gedanken und sie bewusst loszulassen. Sikinger sagt: "Ich gebe sie Gott ab." Das könne man trainieren. Man werde offener und gelassener, könne sich auf die Bedürfnisse anderer vielleicht auch mehr einlassen. Wieder andere lernten, sich von den Bedürfnissen anderer abzugrenzen. "Ich glaube, man wird auch empfindsamer dafür, wenn nicht aufeinander gehört wird." Der innere Lärm ist seiner Meinung nach nichts anderes als Ängste: "Dieser Lärm ist nicht nur im Gesellschaftlichen und im Gespräch zu laut, sondern auch in mir."
Da stellt sich die Frage, was hilft gegen diese lauten Ängste? "Ich würde sagen, da hilft nicht leise sein, sondern Vertrauen." Und wie kann ich denn Vertrauen einüben? "Das ist, glaube ich, der Weg, auf dem ich mich gegeben habe. Die Stille im Alltag macht mich zu einem vielleicht vertrauensvolleren Menschen, vertrauensvoller in das, was wirklich ganz tief in mich hineingelegt ist, in die Menschen, die um mich sind und in Gott. Ich glaube, das beruhigt manches, was sonst ängstlich in mir ist."
Nicht jedem ist es jedoch gegeben, in der inneren Stille Gott zu spüren. "Ich kann das Gefühl sehr gut verstehen: Mein Alltag wirkt meistens laut, nicht still; meistens höre ich nur die Anfragen der Anderen und die lauten Stimmen in meinem Kopf, nicht die leise Stimme Gottes in mir", sagt auch Sikinger. "Und selbst wenn ich mir Zeit nehme, mal kurz im Alltag innezuhalten und hinzuhören, dann sind das meistens auch nicht die immer die ganz, ganz tiefen Momente. Im Gegenteil: Auch meine Zeiten der Stille sind meistens eher von scheinbarer Abwesenheit Gottes geprägt als von Präsenz."
Aber der Buchautor glaubt, dass man das Ganze auch auf eine andere Weise sehen kann. "Die Kehrseite von dieser scheinbaren Abwesenheit ist die Präsenz. Denn wenn ich etwas als abwesend bemerke, dann nur, weil es einmal da war oder eigentlich immer da ist." Sikinger macht es mit einem Beispiel aus seinem Leben deutlich: "Vor einigen Jahren hatten wir im Frühling einen Blumenstrauß auf dem Küchentisch stehen. Er hielt erstaunlich lange. Erst nach eineinhalb Wochen war er verwelkt und wir räumten ihn morgens weg. Als am Mittag mein Sohn (er war da etwa drei Jahre alt) vom Kindergarten nach Hause kam, meinte er: Oh, Mama, schau mal - da ist leer!" Manchmal sei die Leere der Hinweis auf etwas Gegenwärtiges. Das heiße, das Gefühl von Abwesenheit und vom Nicht-Finden könne auch ein Hinweis auf die Gegenwart Gottes sein.
Dieses Gefühl kennen Mystiker:innen nur zu gut, sagt Sikinger. Sie raten: "Komm immer wieder in die Stille, hör nicht auf damit. Wenn ich der Sehnsucht und dem Heimweh folge, dann kann es seine Kraft entfalten – es schickt mich auf die Reise, und es macht mich offen für das, was sich zeigen will."
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