Die Begeisterung in Worms war groß. 20.000 Bürger feierten am 25. Juni 1868 mit evangelischen Gesandten aus ganz Deutschland die Enthüllung des Lutherdenkmals. Seit mittlerweile 150 Jahren erinnert die eindrucksvolle Skulpturengruppe an den Reformator Martin Luther (1483-1546), der sich 1521 auf dem Wormser Reichstag geweigert hatte, seine vermeintlich ketzerischen Lehren zu widerrufen - nur wenige hundert Meter vom Standort des späteren Denkmals entfernt. In Worms ist das Lutherdenkmal längst zu einem Magneten für Touristen aus aller Welt geworden.
Monument und national-protestantischer Zeitgeist
Allerdings erzählt das Monument mindestens ebensoviel über den national-protestantischen Zeitgeist kurz vor der Gründung des Deutschen Reichs wie über die Geschichte der Reformation. "Die ganze Statue ist ahistorisch", sagt der evangelische Wormser Dekan Harald Storch. Wenn jemand überhaupt so ausgesehen habe, wie der kräftige, gestandene Mann auf dem Wormser Denkmalspodest, dann allenfalls der späte Luther im fortgeschrittenen Alter. "Der Wormser Luther wäre eher so ein hagerer Mönchstyp gewesen."
Doch das passte den Verantwortlichen nicht in den Kram: Sie setzten sogar durch, dass der ursprünglich von dem Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel (1804-1861) entworfene Lutherkopf durch einen anderen ersetzt wurde. Der Rietschel-Entwurf wollte nicht zu dem Bild des deutsch-nationalen Helden passen, als der Luther von den Protestanten damals gesehen wurde.
Initiiert wurde das Denkmal von einem privaten Verein, der über Jahre hinweg erfolgreich Spenden aus aller Welt sammelte. Rietschels Konzept legte das von Luther gedichtete Lied "Ein feste Burg ist unser Gott" zugrunde. Der an der Dresdner Kunstakademie lehrende Professor entwickelte die Idee, mit dem Denkmal die Reformationsgeschichte vom 12. bis zum 17. Jahrhundert darzustellen.
Wegmarken der Reformationsgeschichte
Auf einer burgartigen Schaubühne überragt Luther als Zentralfigur das Geschehen. Ihm zu Füßen sitzen die reformatorischen Vorläufer Petrus Waldus, John Wiclef, Jan Hus und Girolamo Savonarola. Die vier Eckfiguren der Anlage stellen wichtige Zeitgenossen und Wegbegleiter Luthers dar, die Humanisten Philipp Melanchthon und Johann Reuchlin sowie Friedrich, Kurfürst von Sachsen, und Philipp, Landgraf von Hessen. Drei allegorische Frauenfiguren für die Städte Speyer, Augsburg und Magdeburg symbolisieren Wegmarken der Reformationsgeschichte.
Rietschel selbst erlebte die Fertigstellung des Denkmals nicht mehr, das Werk wurde von seinen Schülern vollendet. Während manche Katholiken das Monument in der Nähe des katholischen Doms als Affront auffassten, war die lutherische Bevölkerungsmehrheit überwältigt von dem Werk. Eine Festschrift aus dem Jahr 1868 beschreibt die Feierlichkeiten zur Enthüllung voller Überschwang: "Alle sind darüber einig, dass der Protestantismus seit seinem Bestehen ein solches Fest noch nicht feierte, und das die altehrwürdige Kaiserstadt Worms seit Jahrhunderten einen solchen Tag nicht mehr sah und wohl auch so bald nicht wiedersehen wird."
Neben den Helden des Nibelungenlieds bleibt Luther bis heute eine der ganz großen Identifikationsfiguren für Worms. Das erlebt regelmäßig auch Dekan Storch, vor allem, wenn er kirchliche Besucher aus anderen Teilen der Welt durch die Stadt führt: "Die können mit dem Denkmal viel mehr anfangen als mit dem Dom oder dem Judenfriedhof." In der Nachkriegszeit wurde Worms sogar für mehrere Jahrzehnte zum zentralen Ort für Tagungen und Veranstaltungen zu Luther-Themen, weil die wichtigsten Lutherstädte allesamt in der damaligen DDR lagen. Diese Rolle hat die 50.000-Einwohner-Stadt nach der Wende in Ostdeutschland wieder eingebüßt.
Auch den Ruhm des weltgrößten Reformationsdenkmals macht dem Wormser Monument längst eine 100 Meter lange Skulpturenwand in Genf streitig, wo einst der Reformator Johannes Calvin (1509-1564) gewirkt hatte. Das größte Lutherdenkmal besitzt die Nibelungenstadt jedoch nach wie vor.