In Sachen Symbolpolitik sind sie ein eingespieltes Duo. Ob sie tatsächlich Brüder im Geiste sind, dazu hört man in Russland grundverschiedene Meinungen. Eine Art Symbiose bilden Präsident Wladimir Putin und Patriarch Kyrill I. in jedem Fall. Man lebt voneinander – und das gut. Akte wie unlängst die Vereidigung Putins choreographieren der Staatschef und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche virtuos zum Beleg der inneren Einheit.
Es war Kyrill, der Putin als Erster gratulierte und ihm damit in gewisser Weise auch seinen Segen gab für die vermeintlich letzte Amtszeit. Kritische Geister mögen darin einen Gratissegen erkennen, schließlich würde Kyrill die Politik Putins nie öffentlich kritisieren, schon gar nicht fundamental in Frage stellen. Im Gegenteil, das Lob ist maximal: Als „Geschenk Gottes“ hat Kyrill einst den Staatschef in den Himmel gehoben. Putin dankt solcherlei Ehrerbietungen damit, dass er seine Nähe zur russisch-orthodoxen Kirche und allgemein ihre enorme Bedeutung stets betont. Zwar sind in Russland per Verfassung Kirche und Staat getrennt, aber in des Patriarchen Ohren darf es ruhig so klingen, als wäre die viel beschworene russische Erhabenheit ohne die geistig-moralische Säule Kirche nicht standfest.
Mark Obert mag seit seiner Kindheit russisches Eishockey, drückt der russischen Fußballnationalmannschaft die Daumen, ist Fan von Zenit Sankt Petersburg – und befasst sich auch außerhalb von Hallen und Stadien mit Land und Leuten. Seit 30 Jahren ist er Journalist und Autor und hat für Magazine und Zeitungen mehrfach über Russland geschrieben. Er hat zwei Kinder und ist verheiratet – mit einer Russin.
Gefühlt ist da sogar was dran: Im Vielvölkerstaat zwischen Sankt Petersburg und Wladiwostok gärt es ja in Wirklichkeit unaufhörlich. Das soziale Gefälle vor allem von jenen Millionenmetropolen, in denen auch die Fußball-Weltmeisterschaft gespielt wird, zu den nach wie vor um Jahrzehnte abgehängten Provinzen sorgt nicht nur für Verdruss besonders bei der Landbevölkerung, sondern verstärkt Korruption, Rechtsunsicherheit, Alkoholismus, Kriminalität.
Putin bedient sich einer bewährten Strategie, um von den innenpolitischen Dauerkrisen abzulenken. Er spielt die nationale Karte: Krim, Donbas, Syrien – stets besungen von Kyrill I., der den Präsidenten auf einer Mission für das „Heilige Russland“ wähnt. Dass der Westen mit Sanktionen reagiert, befördert nur das trotzige Bewusstsein neuer Stärke. Man leidet gemeinsam und duldsam, wenn es der Macht Russlands dient, auch aus Überzeugung – und erlangt persönliche Durchhaltekraft durch Spiritualität. Mag die Kirche zu Sowjetzeiten qua verordnetem Atheismus auch marginalisiert gewesen sein, auf dem Land wussten die Apparatschiks schon damals die subversive seelische Aufbauhilfe mindestens insgeheim zu schätzen.
Mit dem Weltmachtstatus, den Wladimir Putin in den Augen vieler Russen zurückerobert hat, blühte auch die Renaissance der russisch-orthodoxen Kirche. Noch als das Land Ende der 90er Jahre am Boden lag, genoss sie wenig Beachtung. Basiliken waren umgewidmet in Büchereien oder sonst etwas. Boris Jelzin, damals Präsident, politisch sozialisiert in der Sowjetunion, verwechselte gar Ostern mit Weihnachten. Heute bekennt sich die Mehrheit der 145 Millionen Russen zur Kirche, auch wenn die allermeisten nur selten in die Basilika gehen. Es ist wie bei uns: Man lässt die Kinder taufen, man heiratet mit geistlichem Segen. Nach wie vor aber steht in Russland das Silvesterfest nach gregorianischem Kalender, also am 31. Dezember, höher im Kurs als etwa das Weihnachtsfest nach julianischem Kalender am 7. Januar. An Silvester beschert Väterchen Frost in der Kluft unseres Nikolaus’ die Kinder, tafelt die Familie festlich.
Spiritualität als Zuflucht vor der rauen Wirklichkeit
Die neue Frömmigkeit weht also nur wenige an, aber als Hüter russischer Kultur und Tradition mit der Mystik als Kern entfaltet die Kirche unbestreitbar Wirkkraft. Das russische Wesen, dieses ungreifbare, unergründliche, beschwören ja wieder viele umso mehr, als dass sich Russland und seine Gesellschaft einmal mehr mit dem Mythos der Einzigartigkeit und durch Abgrenzung nach außen definieren.
Patriarch Kyrill I. sieht mit Blick über die Grenzen all überall schon die Apokalypse dräuen. Man müsse blind sein, sie nicht zu sehen, sagt er, und spielt unverhohlen auf westliche Dekadenz an. Die allerdings bekümmert ihn auch in der russischen Variante: Kyrill hält nicht viel von der Verschwendungssucht, den Ausschweifungen der Neureichen in Petersburg, Moskau oder Sotchi. Das entbehrungsreiche Leben der Landbevölkerung wiederum preist er als tugendhaft, als bescheiden, demütig. Auch dies eine Art Seelsorge. Die Basiliken auf dem Land sind stets gut besucht. Böse Zungen sagen, die Spiritualität biete den Menschen die einzige Zuflucht vor dem Zugriff der rauen Wirklichkeit.
Putin ist so wenig wahrhaft spirituell veranlagt wie die Generalsekretäre zu Sowjetzeiten es waren, so wenig wie viele Russen. Aber so sehr er die Sowjetnostalgie befeuert – mit Personenkult, mit der alten Nationalhymne, mit Militärparaden –, so sehr bedient er auch den weit verbreiteten Hochmut von der russischen Überlegenheit – ja Reinheit! Auch dafür dient ihm die Kirche, ihre moralische Selbstgewissheit, ihre Sittenstrenge, der ihr innewohnende Reinheitsgedanke, der überall das Unreine phantasiert. Die Gesetze gegen Homosexuelle, diese sonderbare Rückwärtsgewandtheit, sind nur eine Folge davon.
Eine Theorie besagt ja, dass Russland nicht nur ohne äußeres Feindbild nicht existieren könne, sondern auch stets ein inneres brauche. Mögen im weit verbreiteten Ekel gegen Homosexuelle Chauvinismus. Machismo und Gottgefälligkeit eine unheilige Allianz eingehen, so könnte hinter der systematischen Verachtung der schwulen und lesbischen Community auch politisches Kalkül stecken.
Wladimir Putin als Freund der Juden
Die Juden zum Beispiel haben in der Ära Putin als ewige Sündenböcke ausgedient. Staatlich beförderten Antisemitismus wie in der Sowjetunion gibt es nicht mehr. Im Gegenteil: Wladimir Putin geriert sich als Freund der Juden. Juden waren es, die einst den jungen Wladimir, einen in den garstigen Vierteln Petersburgs gefährdeten Rabauken, auf die gerade Bahn zurückbrachten, einer von ihnen war sein Judotrainer.
Seit Putin an der Macht ist, gehört das öffentliche Gedenken an die Shoa zu den festen Ritualen, und wohlfeil ist es, Putins sichtliche Ergriffenheit am Tag der Befreiung von Auschwitz auf den Effekt zu reduzieren. Manche Russen tun das – mit dem Hinweis, die mit Putin vertrauten und wirtschaftlich einflussreichen Oligarchen seien ja überwiegend Juden. Das stimmt. Und doch offenbart sich hier auch jener allfällige Antisemitismus, wie er nach wie vor in der russischen Gesellschaft tief verwurzelt ist – ein Antisemitismus, der sich wie in Deutschland gerne der Karikatur vom weltverschwörerischen Geldjudentum bedient. Zu Stalins Zeiten maskierte er sich als antikapitalistisch. Auch jüdische Intellektuelle, selbst die bolschewistischen, wurden als von Natur aus hinterlistig und nur die eigene Sache betreibend verunglimpft, verfolgt und aus vorgeblich politischen Gründen exekutiert oder in Lager verbannt.
Bis in die 90er Jahre hinein blieben Juden in Russland systematisch ausgegrenzt. Der Zugang zu vielen Ämtern blieb ihnen verwehrt, bestimmte Fächer durften sie nicht studieren, jüdisches Geistesleben sollte erstickt werden. Jüdische Eltern gaben ihren Kindern keine jüdischen Vornamen, vom allgegenwärtigen Hass sollten die Kleinen zumindest auf dem Spielplatz verschont bleiben. Damals gab es kaum öffentliches und institutionalisiertes jüdisches Leben, es gab kaum Synagogen, kaum Gemeinden, es gab kaum Juden, die ihren Glauben praktizierten. Nicht nur jene, die es taten, wanderten in Scharen nach Israel aus, nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland – und belebten in Frankfurt und Berlin die jüdischen Gemeinden neu.
Wie viele Juden heute in Russland leben, lässt sich nur schätzen, Statistiken sind nie geführt worden. Einige Hunderttausend mögen es sein, noch vor dem Zweiten Weltkrieg sollen es etwa fünf Millionen gewesen sein. In den Metropolen verfügen sie heute wieder über Synagogengemeinden, deren Zahl ist auf landesweit von einst vielleicht 60 auf etwa 300 gestiegen. Weil es aber offensichtlich zur Natur des Antisemitismus nicht nur in der russischen Gesellschaft gehört, dass er je stärker wird, desto sichtbarer jüdisches Leben ist, nehmen zurzeit antisemitische Übergriffe wieder zu. Umso dringlicher erscheint es, dass Putins starker Einfluss auf seine Landsleute besonders in Sachen Religionstoleranz wirkt.
Kasan als heimliche Weltstadt des Islam
Denn auch das ist eine russische Tradition, eine zuweilen auch zu Sowjetzeiten gepflegte. Je nach weltpolitischer Großwetterlage gab man sich mindestens offiziell religionstolerant, etwa um die diplomatischen und ökonomischen Interessen im Nahen Osten zu unterstützen. Schon bald nach Stalins erbarmungsloser Religionsverfolgung galt es nicht mehr als opportun, den Islam zu unterjochen. Zwar wurden weiterhin viele Muslime aus den Metropolen nach Mittelasien zwangsverschickt, aber vor allem in den von jeher islamisch geprägten und von den Zaren blutig eroberten Republiken des Nordkaukasus ließ die Partei selbst fundamentalistische Strömungen gewähren, während sich die tatarische Metropole Kasan weiter ungehindert zu einer heimlichen Weltstadt des Islam entwickeln durfte, zu einem Schmelztiegel, in dem bis heute Russisch-Orthodoxe und Muslime nicht allein friedlich koexistieren. Ehen zwischen Partnern beider Religionen bilden dort die Mehrheit, manche Familien zelebrieren alle Feiertage in trauter Eintracht. Auch in den westlichen Metropolen wie Sankt Petersburg und Moskau leben viele der insgesamt gut 20 Millionen Muslime; für die Frommen unter ihnen ist dort der weite Weg zur nächsten Moschee oft das größte Problem.
Freilich ist er nicht das Einzige: Zwar betonte Putin unlängst, dass der Islam zu Russland gehöre, doch nicht nur panslawistische Nationalisten und russisch-orthodoxe Frömmler betrachten den Islam als Gefahr und vor allem die Ethnien des Nordkaukasus als Bedrohung. 2002 stürmten tschetschenisch-islamistische Rebellen ein Musicaltheater in Moskau, bei der planlosen Befreiungsaktion der russischen Spezialkräfte kamen mehr als 100 Menschen ums Leben. 2004 besetzten islamistische Rebellen eine Grundschule in Beslan, einer russisch-orthodoxen Diaspora in Nordossetien. Wieder geriet die Stürmung außer Kontrolle, mehr als 300 Menschen wurden getötet, unter ihnen viele Kinder. Diese tiefsten Wunden und die Terrorakte wie die Bombenanschläge auf U-Bahn-Stationen in Petersburg und Moskau halten Russland seine Verletzlichkeit vor Augen, und Verletzlichkeit empfinden Russen immer auch als narzisstische Kränkung. Entsprechend wächst die staatliche Paranoia, wachsen in der Bevölkerung Ablehnung und gar Zorn gegen Muslime – nicht nur gegen jene im Nordkaukasus.
In Dagestan, in Tschetschenien, in allen Teilrepubliken des Nordkaukasus haben sich in den vergangenen Jahren dschihadistische Hochburgen etabliert. Putins Nahostpolitik ist mit Blick auf diese Krisenherde immer auch ein innenpolitischer Drahtseilakt. Der mit gnadenloser Härte geführte Bürgerkrieg in Tschetschenien mag vorerst die Machtfrage geklärt haben, die Probleme gelöst hat er nicht. Im Gegenteil: Die Kriegstraumata wirken fort, auf beiden Seiten. In Tschetschenien immerhin regiert Ramsan Kadyrow, ein Büttel Putins, mit eiserner Hand – und hegt den Fundamentalismus mit einer offen zur Schau gestellten, archaischen Männerbündigkeit ein. Man kann darin aber auch eine weitere Lunte zum Pulverfass sehen…
Die Warnungen mancher russischer Gelehrter vor dem Wiedererstarken der Religionen kommen denn nicht von ungefähr und sollten auch sorgsam debattiert werden. Regelmäßig aber provozieren sie nur die hitzige, weil historisch aufgeladene Debatte. Denn wodurch soll der Glaube ersetzt werden? Etwa durch Ideologie? Kommunismus gar? Ein neues Religionsverbot? Oder – ganz neu – durch eine staatstreue russisch-orthodoxen Monokultur? Derlei Vorschläge sind ja unterwegs. Sicher ist: Fragil ist der gigantische und womöglich bis in seine Winkel hinein unregierbare Vielvölkerstaat ohnehin, ist er immer gewesen. Die Sowjets haben die Menschen zur Einigkeit gezwungen. Die Freiheit, sich für ein friedliches Miteinander zu entscheiden, gab es damals nicht. Heute gibt es diese Freiheit, freilich in Grenzen, sie muss geübt, gelernt werden. Generationen dauert das. Schon jetzt aber lässt sich sagen: Die Menschen in Russland sind da auf einem guten Weg, gemessen an den erwähnten Konflikten bleibt es vergleichsweise friedlich. Es gibt nicht wenige, die in diesem Prozess gerade und besonders auch auf die mäßigende Kraft der Religion, des Glaubens bauen.
Die wechselvolle Geschichte der evangelischen Christinnen und Christen in Russland beschreibt der Autor in seinem Artikel "Protestantismus in Russland".