Ein Duft nach Rauch liegt in der Luft. Aus einem schwarzen Kessel lodert eine Flamme. Darin schmieden zwei Jungs Metalle. Zwei Minuten später – und der Besucher steht mitten im Grünen, wo gerade ein Pflanzbeet ausgehoben wird. Und abseits davon sieht man eine Pferdekoppel. Was anmutet, wie eine dörfliche Idylle, ist ein Schulgelände in Wiesbaden – der Campus Klarenthal. Unter der Trägerschaft der Evangelischen Inneren Mission (Evim) ist dort eine private Bildungsoase entstanden, die von der Montessori-Grundschule über eine integrierte Gesamtschule bis zur Oberstufe ein etwas anderes Konzept bietet: das offene, gemeinsame Lernen, Kursangebote, die auf Kreativität und praktische Fähigkeiten setzen, erläutert Gerhard Kopplow, Geschäftsführer der Evim Bildung gGmbH, dem Träger der Einrichtung. Bis zur achten Klasse gibt es gar keine Noten und die zahlreichen Nachmittagsaktivitäten sind keine unverbindlichen Schul-AGs, sondern verbindlicher Wahlpflichtunterricht ab der fünften Klasse. Die Evim ist seit 2016 auch für die Eingliederungshilfe in ganz Wiesbaden zuständig. An die 100 festangestellte Mitarbeiter kümmern sich derzeit um 110 bis 120 Kinder mit seelische oder körperliche Handicaps.
So wie Felix Maibaum. Der lebensfrohe 19-Jährige hat gerade sein Abi hinter sich und macht beim Evim sein freiwilliges soziales Jahr. Er kümmert sich auf dem Campus um Malte, einen Zwölfjährigen mit geistiger Behinderung. "Ich bin schon eher ein großer Bruder für ihn", sagt er. Denn er unterstützt den Jungen 40 Wochenstunden lang in dessen inklusiv arbeitender 6. Klasse. Die meisten anderen Helfer sind nur fünf bis 20 Stunden im Einsatz. Die beiden sind mit einer Schubkarre unterwegs in "Tatengarten", einer Gärtneranlage. Gemeinsam schleppen sie schwere Bodenplatten heran. Die stammen aus einem ehemaligen Laufenten-Gehege, "aber die hat der Fuchs geholt", erklärt der zufällig namensgleiche Leiter des gemeinschaftlichen Gärtnerns, Frederick Fuchs. Mit den Steinen will er nun ein Haus für Tomatenzucht auslegen.
Einen Erdhügel haben die Schüler schon aufgetürmt für eine Permakultur-Anlage. Dort sollen demnächst Avocados, Pfirsiche und Kiwis blühen, hofft Fuchs. Malte machen diese Aktivitäten großen Spaß. Vergangene Woche hat er mit Felix einen alten Baum fürs Umpflanzen ausgegraben. Für den Jungen sind die körperlichen Aktivitäten ein willkommener Ausgleich für das eher strapazierende Lernen, "da kann er auch mal böse und stur werden", hat Felix beobachtet. Manchmal kommuniziert er mit Gebärden, "weil Malte nicht gut hört". Oft reicht aber auch das gemeinsame Handeln, bei dem Felix vor allem unterstützend wirkt. Er hat dabei gelernt, "dass man auf jeden Fall mit der Person arbeiten muss", jeder Mensch ist anders". Erfahrungen hat er schon bei der Kinderbetreuung in einem Sportverein gesammelt.
In der Sporthalle der ebenfalls vom Evim getragenen Wiesbadener Schule am Geisberg, einer Förderschule, sieht Anneta Schell zu, wie der elfjährige Matteo sportliche Saltos auf die Matte legt. Sie steht dem Jungen seit seiner Einschulung zur Seite, "ich lass‘ ihn nicht aus den Augen". Denn es kann immer passieren, dass er seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat. Das merkt sie besonders bei sportlichen Wettkämpfen. "Matteo kann ganz schlecht verlieren, aber das gehört zum Leben dazu." Deswegen beobachtet sie stets aufmerksam die Situation, versucht, eine Eskalation im Vorfeld zu entschärfen. Anneta ist nicht evangelisch, sondern Katholikin. Und sie sieht den Glauben ganz pragmatisch. Das Christliche habe einer Vorbildfunktion beim Umgang miteinander. Und ihr Motiv? "Ich habe gerne mit Menschen mit Behinderung zu tun und früher eine Mädchengruppe geleitet."
Dass bei den Helfern keine beruflichen Qualifikationen abgefragt werden, ist vom Sozialrecht so gewollt. "Die Aufgaben der Eingliederungshelfer können lebenspraktische Hilfen, Begleitung und Unterstützung im schulischen Freizeitbereich sowie Unterstützung beim Arbeitsverhalten und bei grundlegenden Arbeitstechniken im Unterricht sein", heißt es auf der Homepage der Stadt Wiesbaden.
"Die Integrationshelfer haben keine pädagogische Verantwortung, auch die Aufsichtspflicht liegt bei der Schule", klärt Kopplow auf. "Das ist kein Beruf, keine Ausbildung". Es gehe um die Teilhabe am Schulbesuch, nicht um Förderung. Die Integrationshelfer seien Senioren, die in ihrem Ruhestand eine Aufgabe suchten, ebenso wie Leute, die vor ihrem Studium etwas Soziales tun wollen oder Frauen, die nach der Elternzeit einen Wiedereinstieg ins Berufsleben suchen. "Aber sie sind keine Fachkräfte, sie sollen unterstützen", betont Kopplow. Wie weit die Hilfe reiche, entscheide die Lehrkraft. Schließlich möchten auch nicht alle Rollstuhlfahrer, dass sie in allen Lebensbereichen permanent betreut werden, sagt Kopplow. Das habe auch etwas mit Würde und Selbstständigkeit zu tun. Wenn es eine Qualifikation der Helfer gebe, dann sei dies deren persönliche Haltung, wie es ihnen gelingt, sich auf ihre Schützlinge einzulassen. Entscheidend für ihre Tätigkeit ist ihm etwas anderes, so wie bei dem Campus Klarenthal: "Er gibt Kinder, die im Alltag einer Schule verloren gehen". Aber auch "die Hühner sind kein Programm", sagt er zu den Aktivitäten, diese bildeten nur den Anlass für Aktivitäten in der Gemeinschaft.
Kopplow stellt auch die Betreuung als Wert an sich in Frage: "Es geht nicht darum, den Bedarf zu bestätigen, sondern, ihn überflüssig zu machen." Sein Ziel ist die wirkliche Inklusion, das gemeinschaftliche Lernen. Das mache die Eingliederung aus, wenn ein Helfer nicht da ist und eine vierte Klasse sage: "Das schaffen wir selber!". "Das System muss tragen", betont Kopplow: "in Familien gibt es auch keine Eingliederungshelfer". Was nicht heißt, dass der Bildungsmanager seine Aufgaben in Frage stellt. Aber es geht auch um das Wie. In anderen Städten oder Kreisen teilen sich in einzelnen Schulen fünf bis acht Träger die Integrationsaufgaben. Die Folge: es mangelt an Kooperation und Vertretungsmöglichkeiten, klare Absprachen sind schwierig. Zudem könnte es dazu kommen, dass die Schule den Helfern dann auch Aufgaben zuweist, die eigentlich ihre eigenen sind. Weil Evim Bildung selbst Schulen betreibt, könne man mit den anderen Schulen "klar die jeweiligen Rollen klären". Auftraggeber für die Integrationshelfer bleibt indes das Jugendamt.
Das evangelische kommt bei dem Ganzen nicht zu kurz, es bildet die ideelle Basis der Aktivitäten: "Das ist reine Nächstenliebe", betont Kopplow. Während die Politik die Inklusion erst seit wenigen Jahren entdeckt habe, gebe es sie als christlichen Wert schon seit jeher. Die Mitarbeiter müssen auch nicht evangelisch sein, sollten nur nicht im offenen Widerspruch zu den christlichen Werten stehen. Denn auch die Schützlinge sind nicht nur evangelisch, "wir nehmen jeden an, egal, wie er daherkommt", sagt Kopplow. Und so wie bei den Eingliederungshelfern geht es auch bei den Aktivitäten der Evim um das Brücken bauen.
Auf dem Weg zu den Schulen muss Kopplow sein Auto erst umräumen, es ist überfüllt mit Utensilien für die Präsentation einer neuen Kita im benachbarten Hattersheim, die an eine bestehende Senioreneinrichtung angedockt werden soll. Dann geht es weiter zu einer Adresse in der Innenstadt – eine Werkstatt für Motorradbastler, eigentlich aber eine Einrichtung, in der jugendliche Intensivtäter betreut werden. An der Wand hängt auch ein Sandsack zum Dampf ablassen. So rundet sich das Bild ab, ein Kreis, der bei Felix und seinem Schützling Malte begonnen hat. So wie es auch bei den Eingliederungshelfern nicht nur um bloße Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern acht und zwölf geht, sondern: um Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Motivation, wieder, trotz aller Handicaps, "Lust auf Schule zu machen". Und den Anspruch: "Wir lassen kein Kind alleine", so Kopplow. Aber er weiß auch, dass das keine Rundum-Sorglos-Dienstleistung sein kann, denn "das schulische Umfeld muss auch inklusiv sein".