Der Tod kommt im Fünf-Minuten-Takt. Um 19 Uhr am 22. Dezember 1942 stirbt in der Hinrichtungsbaracke der Berliner Strafanstalt Plötzensee als erster Verschwörer der Diplomat Rudolf von Scheliha am Strang. Wenig später wird Elisabeth Schumacher mit dem Fallbeil getötet. Um 20.33 ist das Werk das Scharfrichters und seiner Helfer getan: Die ersten elf Mitglieder der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" sind tot.
Unter den Opfern befinden sich der Offizier Harro Schulze-Boysen, Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung des Reichsluftfahrtministeriums, und Arvid Harnack, Ökonom im Reichswirtschaftministerium. Sie waren die führenden Köpfe der unterschiedlichen Widerstandskreise, die sich ab 1940 zu einem lockeren Netz von NS-Gegnern zusammengeschlossen haben.
Getarnt als Liebespaare
Die beiden Männer und ihre Frauen diskutierten schon seit Mitte der 1930er Jahre in privaten Runden über Möglichkeiten, das Regime zu schwächen. Als die Gruppen 1939 von den Vorbereitungen für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion Kenntnis erhielten, begann ihre intensivste Phase des Widerstandes.
Einige Mitglieder standen in Kontakt zu Mitarbeitern des sowjetischen Nachrichtendiensts, auch Schulze-Boysen und Harnack. Doch waren die Verschwörer keine von Moskau geführte Agenten. Es habe sich "in erster Linie um ein Widerstands-Netzwerk gehandelt", urteilt der Berliner Historiker Johannes Tuchel. Dessen mächtigste Waffe sei das Wort gewesen, mit dem die Mitglieder versuchten, das Meinungsmonopol des NS-Staates zu brechen. Mitglieder der "Roten Kapelle" vervielfältigten und verbreiteten auch die regimekritischen Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen.
Sie galten als 'kommunistische Spionage- und Agentengruppe'
In Berlin waren seit 1940 sieben eher lose geführte Gruppen von Hitler-Gegnern aktiv, die zum Teil auch Mitwisser in anderen Städten hatten. Nicht alle rund 150 Mitglieder kannten sich persönlich. Sie unterschieden "sich nicht nur soziologisch, sondern auch auf der weltanschaulich-ideologischen Ebene grundsätzlich von den kommunistisch geführten Organisationen der Kriegszeit in Berlin, im Ruhrgebiet oder in Hamburg", betont Tuchel.
Die Studenten, Künstler, Publizisten, Arbeiter, Verwaltungsbeamte und auch Adlige einte das Ziel, das Regime zu unterwandern, um den Krieg schnell zu beenden und eine Verständigung mit der Sowjetunion einzuleiten. Deutschland, so die Vision, sollte nach Kriegsende als unabhängiger Nationalstaat eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West einnehmen können.
Weil zwei vom sowjetischen Geheimdienst bereitgestellte Funkgeräte nicht funktionierten, erhielt der Brüsseler Agent Anatoli Gurewitsch per Funk aus Moskau im Oktober 1941 den Auftrag, nach Berlin zu reisen. Über den Äther wurden, wenn auch zum Teil in verstümmelter Form, Namen und Anschriften von Schulze-Boysen, Harnack und dem Schriftsteller Adam Kuckhoff genannt. Die Tarnung flog auf. Im August 1942 rollte die Verhaftungswelle an.
Von Mitte Dezember 1942 bis Mitte Oktober 1943 kam es zu 20 nichtöffentlichen Prozesse wegen Landesverrats. Von 77 Angeklagten wurden 48 zum Tod verurteilt. "Die letzten Argumente sind Strang und Fallbeil nicht, und unsere heut'gen Richter sind noch nicht das Weltgericht", schrieb Harro Schulze-Boysen kurz vor seinem Tod.
Mehrere der Widerständler erhielten langjährige Freiheitsstrafen. Adolf Hitler intervenierte: Die Urteile waren ihm zu mild. Er ordnete neue Verhandlungen an, die dann auch Mildred Harnack-Fish und Erika Gräfin von Brockdorff das Leben kosteten.
"Weihnachten müsst ihr richtig feiern. Das ist mein letzter Wille. Singt dann auch 'Ich bete an die Macht der Liebe"
In einem Bericht der Gestapo über die "Rote Kapelle" von Mitte November 1942, der erst 2014 veröffentlicht wurde, wird den Widerständlern "eine Unzahl fortgesetzter hochverräterischer Handlungen zur Unterwühlung und Zersetzung weiter Volkskreise, besonders jedoch intellektueller Schichten" vorgeworfen.
Wie Johannes Tuchel berichtet, ließ sich Arvid Harnack vor seinem Tod vom evangelischen Gefängnisgeistlichen in Plötzensee, Harald Poelchau, die Weihnachtsgeschichte vorlesen. An seine Familie schrieb der Jurist zum Abschied: "Weihnachten müsst ihr richtig feiern. Das ist mein letzter Wille. Singt dann auch 'Ich bete an die Macht der Liebe.'"