Mit einem Aufruf zu einer neuen "inneren Freiheit" für Deutschland hat die evangelische Kirche das 500. Reformationsjubiläum begangen. Beim zentralen Festgottesdienst am historischen Ort von Martin Luthers Thesenanschlag im Jahr 1517 rief der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, die Deutschen zu Mut und Veränderungsbereitschaft auf. Das Land ringe mit sich, manche fühlten sich "moralisch überfordert" und hätten Angst, ihre gewohnte Welt und Sicherheit zu verlieren, sagte er im Beisein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Reformationstag in der Wittenberger Schlosskirche.
Doch weder Obergrenzen für die Unterstützung von Menschen in Not würden Deutschland helfen "noch moralische Durchhalteparolen", mahnte der oberste Repräsentant von rund 22 Millionen Protestanten. "Was dieses Land braucht, ist eine Kraft, die die Angst überwindet und die Liebe stärkt", sagte der bayerische Landesbischof Bedford-Strohm. Freiheit sei das Herzstück der reformatorischen Glaubensüberzeugung gewesen. Luthers Thesenanschlag sei ein "Akt der Befreiung" gewesen.
Deutschland sei so gesegnet ist wie nie zuvor, habe ein "beeindruckendes Maß an Empathie gezeigt", sagte Bedford-Strohm mit Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen. Doch sehne sich das Land auch nach Heimat. Der EKD-Ratsvorsitzende rief Christen dazu auf, sich in gesellschaftliche Debatten einzumischen. "Wir Christen sind auch heute viele, und die Botschaft von der Vergebung und Liebe, die uns trägt, kann auch heute noch unsere Gesellschaft mitprägen", sagte er. Für seine Überzeugungen einzustehen, "sich nicht aus der Wut, sondern aus innerer Freiheit in die öffentlichen Debatten einzumischen, diese Haltung braucht unser Land", sagte er.
Hildesheimer Versöhnungskreuz überreicht
In der weltberühmten Schlosskirche hatten sich unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen Vertreter aus Staat, Kirche und Gesellschaft versammelt, neben Steinmeier und Merkel auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Gekommen waren zudem zahlreiche Ministerpräsidenten sowie Gäste aus dem Ausland. Der Überlieferung nach hatte der Reformator Luther (1483-1546) am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen die Missstände der Kirche seiner Zeit an die Tür der Schlosskirche angeschlagen. Musikalisch wurde der Gottesdienst vom Leipziger Thomanerchor begleitet. Der Schauspieler und Luther-Darsteller Devid Striesow las Worte des Reformators.
Als ökumenisches Zeichen wurde das sogenannte Hildesheimer Versöhnungskreuz im Gottesdienst von der Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Ilse Junkermann, an den Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, überreicht. In einem gemeinsamen Buß- und Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim hatten sich Protestanten und Katholiken im März von jahrhundertelangen Anfeindungen distanziert. Unter den Gästen waren neben Marx der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, und der Präsident des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek.
Aufruf zu mehr Einheit
Die Liturgie wurde neben Junkermann geleitet unter anderen von der Reformationsbotschafterin des Rates der EKD, Margot Käßmann. Weiterer Teilnehmer war der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Olav Fykse Tveit, der rund 500 Millionen Christen weltweit repräsentiert. Der norwegische Pfarrer Tveit bezeichnete die Reformation als "Weltbürgerin". Er rief die Kirchen dazu auf, weitere Schritte auf dem Weg zu mehr Einheit zu gehen.
Im Anschluss an den Festgottesdienst sollte in Wittenberg ein Festakt die Feiern zum 500. Reformationsjubiläum beschließen. Luthers Thesenanschlag gilt als zentraler Ausgangspunkt der weltweiten Reformationsbewegung, die zur Spaltung in evangelische und katholische Kirche führte. Kirche, Staat und Gesellschaft hatten ein Jahr lang mit vielen Veranstaltungen an die von der Reformation ausgelösten Umbrüche erinnert. Der 31. Oktober war in diesem Jahr einmalig ein bundesweiter Feiertag.