EuGH-Urteil: "Vertane Chance" für die Flüchtlingshilfe

Flüchtlinge in Belgrad.
Foto: epd-bild/Tatjana Ristic/Save the Children
Flüchtlinge im Januar 2017 in Belgrad.
EuGH-Urteil: "Vertane Chance" für die Flüchtlingshilfe
"Vertane Chance" und "zynisch": Das EuGH-Urteil gegen die Pflicht zur Erteilung humanitärer Visa an Flüchtlinge sorgt für Enttäuschung. Grüne und Verbände appellieren an die Staaten, auch ohne Zwang mehr Asylsuchende legal einreisen zu lassen.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte am Dienstag in Berlin, er bedaure sehr, "dass der Gerichtshof nicht dem wegweisenden Votum des Generalanwalts Paolo Mengozzi gefolgt ist".

Lilie rief alle EU-Mitgliedstaaten zum Umdenken auf: "Legale Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende sind für das Menschenrecht auf Asyl unabdingbar." Der Theologe verwies zudem darauf, dass ein solcher legaler Zugang in die EU Menschenleben retten würde: "2016 sind mit über 5.000 Toten so viele Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben wie nie zuvor."

Der Verbandspräsident forderte europaweit humanitäre Einreisevisa und den Ausbau von Resettlementprogrammen für Flüchtlinge. "Auch die erfolgreichen Bundes- und Landesaufnahmeprogramme in Deutschland müssen weitergeführt werden", unterstrich Lilie.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach dem EU-Staaten keine humanitären Visa für Flüchtlinge erteilen müssen, ist auf Kritik bei Menschenrechtlern und Sozialverbänden gestoßen. Pro Asyl sprach von einem "traurigen Tag für den Flüchtlingsschutz", die Diakonie von einer "vertanen Chance". Die Organisationen hatten gehofft, mit der Verpflichtung zur Ausstellung humanitärer Visa Flüchtlingen legale und ungefährliche Wege in die EU zu eröffnen. Diese Verpflichtung hätten die Mitgliedstaaten aber nicht, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag in Luxemburg. (AZ: C-638/16 PPU)

Nach der Entscheidung der Richter steht es den Mitgliedsstaaten weiterhin frei, selbst nach nationalem Recht zu entscheiden, ob sie von Folter und Tod bedrohten Flüchtlingen ein entsprechendes Visum erteilen. Damit scheiterte eine aus Aleppo stammende syrische Familie mit drei minderjährigen Kindern mit ihrer Klage. Sie war infolge des Bürgerkrieges in den Libanon geflohen. In der belgischen Botschaft in Beirut beantragte sie im Oktober 2016 erfolglos ein humanitäres Visum, welches zum 90-tägigen Aufenthalt in Belgien berechtigt hätte.

"Im Mittelmeer wird nun weiter gestorben"

Die Familie hatte angegeben, dass sie Asyl beantragen wolle. Sie würden in Syrien als orthodoxe Christen verfolgt. Im Libanon durfte die Familie nicht bleiben. Die Familie berief sich in ihrem Visa-Antrag auf die EU-Grundrechte-Charta und die europäische Erklärung der Menschenrechte. Die belgischen Behörden erklärten, das gewünschte Visum sei auf 90 Tage begrenzt und nicht für das Stellen eines Asylantrages gedacht. EU-Mitgliedstaaten seien nicht verpflichtet, Menschen, die eine besonders katastrophale Situation erlebt haben, ein humanitäres Visum auszustellen.

Dem folgte der EuGH. Der EU-Gesetzgeber habe keine Regelungen erlassen, unter welchen Voraussetzungen Nicht-EU-Bürger langfristige Visa aus humanitären Gründen erhalten können. Da EU-Recht nicht greift, zähle allein das nationale, in diesem Falle also das belgische Recht. Der EuGH folgte damit nicht dem Votum von Generalanwalt Paolo Mengozzi, der zuvor zu dem Schluss gekommen war, die Visa müssten erteilt werden.

Nach dem Urteil erklärte der Europa-Referent von Pro Asyl, Karl Kopp: "Im Mittelmeer wird nun weiter gestorben." Flüchtlinge hätten so gut wie keine Möglichkeit, legal nach Europa zu kommen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte, 2016 seien mit über 5.000 Toten so viele Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben wie nie zuvor. Auch die Arbeiterwohlfahrt bedauerte das Urteil: "Humanitäre Visa hätten das große Sterben im Mittelmeer beenden können", sagte Vorstandsmitglied Brigitte Döcker. Nach derzeitiger Rechtslage kann ein Asylantrag nur dort gestellt werden, wo um Asyl gebeten wird.

Humanitäre Visa: Eine moderne Asylpolitik

Die Grünen im Europaparlament appellierten an die Mitgliedsstaaten, trotz des Urteils solche Visa verstärkt einzusetzen. Das Urteil sei keineswegs eine Absage an humanitäre Visa, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Ska Keller. Sie forderte die Regierungen der EU-Staaten auf, solche Zugänge im EU-Recht zu verankern.

Die Innenexpertin der CDU/CSU-Gruppe im Europarlament, Monika Hohlmeier (CSU), begrüßte das Urteil. Botschaften und Konsulate wären andernfalls zu "Asylbehörden zweckentfremdet worden", sagte sie. Dennoch räumte sie ein, humanitäre Visa gehörten zu den wichtigen Instrumenten einer modernen Asylpolitik. Eine bessere Umsetzung müsse gewährleistet werden und im Rahmen des Asylpakets festgeschrieben werden.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt kritisierte dagegen die Entscheidung der Luxemburger Richter. Er halte es für zynisch zu sagen, die Menschen hätten Anrecht auf Asyl, das sie aber nur unter Lebensgefahr und mithilfe krimineller Schlepper geltend machen könnten. Er werde sich dafür einsetzen, dass Deutschland die Möglichkeit humanitärer Visa nutze, sagte er.