Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hat an die Mitglieder seiner Kirche appelliert, in gesellschaftlichen Debatten nicht überheblich aufzutreten. "Für manche Menschen ist völlig klar, wann sie auf der Seite der Guten stehen", sagte er auf der zentralen Reformationsfeier der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am Montagabend in der Mainzer Christuskirche. Zwar könnten aus der Bibel durchaus "klare Perspektiven" zu Fragen wie Friedens- und Wirtschaftsethik oder der Flüchtlingsaufnahme abgeleitet werden. Dies dürfe jedoch nicht dazu genutzt werden, "um sich moralisch über andere zu stellen".
Der Reformationsgottesdienst bildete den regionalen Auftakt zu den Feierlichkeiten zum 500. Reformationsjubiläum, die bis zum 31. Oktober 2017 andauern werden. In seiner Predigt vor rund 500 Gottesdienstbesuchern rief Jung dazu auf, ebenso wie der Reformator Martin Luther vor fast 500 Jahren Gott "neu zu entdecken". Für viele Menschen spiele Gott im alltäglichen Leben keine Rolle mehr, bedauerte er.
Denis Scheck: Lutherbibel ist "literarischer Big Bang"
Während Luther sich Sorgen darum machte, wie er einmal vor Gott dastehen würde, herrsche bei vielen Menschen heute eine große Furcht, im Alltag zu versagen. "Martin Luthers Höllenängste waren auf die Ewigkeit gerichtet", sagte Jung "unsere Höllenängste sind diesseitig." Wer sich vor Falten, einem Internet-"Shitstorm" oder vor Krankheit und Pflegebedürftigkeit fürchte, könne darauf vertrauen, von Gott selbst "in den Trümmern seines Lebens" geliebt zu werden.
In einem Grußwort erklärte Dietmar Giebelmann, Diözesanadministrator des katholischen Bistums Mainz, Luther habe nicht die Gründung einer neuen Kirche, sondern die "Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern" einleiten wollen. Im Jubiläumsjahr wollten Protestanten und Katholiken gemeinsam an die damaligen Ereignisse erinnern. Niemand werde die beiden Kirchen auseinanderbringen.
Der Literaturkritiker und Fernsehmoderator Denis Scheck würdigte bei seiner Ansprache Luthers Bedeutung als Bibelübersetzer. Die Lutherbibel bezeichnete er als "literarischen Big Bang" mit Auswirkungen bis in die Gegenwart: "Dem Übersetzer Martin Luther verdanken wir Wortneuschöpfungen wie das 'Machtwort' und den 'Schandfleck', den 'Gewissensbiss', das 'Lästermaul' oder die 'Feuertaufe', Redewendungen wie 'ein Herz und Seele' oder 'Perlen vor die Säue werfen', 'auf Sand bauen', 'die Zähne zusammenbeißen' oder 'ein Wolf im Schafspelz'."
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau begeht den alljährlichen Reformationstag am 31. Oktober seit mehr als 20 Jahren mit einem zentralen Festakt. Bei der Feier blickt stets auch eine bekannte Persönlichkeit auf das protestantische Leben in der Gesellschaft. Zu den Rednern zählten bislang unter anderen der frühere DDR-Ministerpräsident Lothar de Mazière, der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), die ZDF-Moderatorin Gundula Gause und der Filmregisseur Nico Hofmann.