Die gute Laune, mit der dieses vorzüglich gespielte und mit viel Empathie umgesetzte Drama beginnt, ist ebenso trügerisch wie die fröhlichen Farben: Der kurze Prolog entpuppt sich als Rückblende; die Gegenwart ist deutlich trister. "Das gläserne Kind" erzählt die Geschichte von Helene, die als Kind und Teenager stets zu kurz gekommen ist, weil sich Mutter Anna in erster Linie um den geistig und körperlich eingeschränkten älteren Bruder Lukas kümmern musste.
Hierzulande gibt es für dieses Dasein die Bezeichnung "Schattenkinder", im englischen Sprachraum heißen sie "gläserne Kinder". Beide Begriffe beschreiben gut, wie wenig wahrgenommen und entsprechend ungeliebt sich diese Kinder oft fühlen, weil die Eltern weder Zeit noch Kraft haben, um auch ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen: Das Familienleben ist voll und ganz auf die Bedürfnisse der kranken Geschwister ausgerichtet.
Frühere Filme zu diesem Thema haben sich meist auf das emotionale Gefälle konzentriert. Alina Schmitts Drehbuch setzt jedoch erst viele Jahre später ein: Lukas ist 2017 gestorben. Nach seinem Tod ist Leni (Hanna Plaß) zum Studium nach Boston gezogen. Die eigentliche Handlung beginnt mit ihrer Rückkehr. Das Schattenkind von einst ist zu einer selbstbewussten Frau gereift, die mittlerweile selbst einen kleinen Sohn hat. Zur Mutter (Katharina Böhm) hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr; bei der Beerdigung ist es zum Bruch gekommen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie radikal der Schnitt war, offenbart ein Detail, dass die ganze Tragweite dieses Dramas verdeutlicht: Anna hatte keine Ahnung, dass sie mittlerweile Oma ist. Ganz ungeschoren kommt aber auch sie nicht davon: Lukas’ Zimmer sieht noch haargenau so wie damals, aber Lenis Zimmer ist heute ein Abstellraum. Den eigentlichen Grund für den existenziellen Zwist zwischen Mutter und Tochter offenbart der Film allerdings erst gegen Ende, als aus den beiden herausbricht, was sie beide so lange verdrängt haben.
Trotz aller Dramatik gelingt es Schmitt und Regisseurin Suki M. Roessel immer wieder, der Geschichte auch sonnige Seiten abzugewinnen. Gerade die optisch leicht verfremdeten Rückblenden sorgen für viele schöne Momente. Ihre Integrierung in die Rahmenhandlung und die fließenden Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit sind lauter kleine Kunststücke. Bereits in einer der ersten Szenen spiegelt sich Lukas in einer Fensterscheibe. Auch später dienen Spiegel mehrfach als Anlass für kurze Einschübe. Es geht zwar nicht zuletzt darum, die Überforderung von Mutter und Tochter zu zeigen, aber Helens Erinnerungen sind ebenfalls positiv und zeugen von tiefer Geschwisterliebe.
Wie innig diese Beziehung war, zeigt ein weiteres Detail, das Anna überflüssigerweise ansprechen muss, damit es auch das Publikum mitkriegt: Helen hat ihren Sohn Luke genannt. Endgültig zu einem herausragenden Film wird "Das gläserne Kind" durch die ausnahmslos formidablen Leistungen des gesamten Ensembles. Besondere Anerkennung gebührt Roessel für die Führung des kleinen Lennox Louis Seigerschmid: Die Szenen mit Oma und Enkel wirken nicht ansatzweise gespielt. Hanna Plaß und Katharina Böhm verkörpern den Tochter/Mutter-Konflikt ebenfalls sehr authentisch.
Das gilt vor allem fürs Finale, als sich die Frauen anschreien; lautstarke Meinungsverschiedenheiten können leicht kippen, wenn sie übertrieben wirken. Großen Anteil an der Komplexität des Dramas haben auch die Nebenfiguren: Obwohl der von Stephan Kampwirth verkörperte Vater die Familie einst verlassen hat, ist Helens Verhältnis zu ihm ausgesprochen herzlich.
Sympathisch sind auch die Auftritte von Gerhart Wittmann als Makler: Anna plant, ihr letztes Lebensdrittel auf La Palma verbringen. Dort will sie eine Finca erwerben. Um die Anzahlung leisten zu können, muss sie das Haus verkaufen, aber dafür braucht sie Helens Zustimmung. Das erste Wiedersehen ist frostig; auch bei den weiteren Treffen kommt es zu keiner Berührung zwischen Mutter und Tochter. Dafür finden Anna und Luke bereits bei einer ersten zufälligen Begegnung einen guten wortlosen Draht zueinander.
Darüber hinaus ist "Das gläserne Kind" ein Freundschaftsfilm, selbst wenn es zwischen Helen und Stella (Rona Özkan) mal kracht. Sehr schön sind zudem die Szenen, in denen Anna den Rat ihres Nachbarn sucht. Zwar sorgt auch hier ein kleiner Fehltritt vorübergehend für Unmut, aber ansonsten ist Daniel (David Zimmerschied) Kummerkasten und "Knautschzone". Dass er und sein Partner ein Kind adoptieren wollen, ergänzt die Handlung um einen weiteren Aspekt, der zum Thema passt.