Entstanden ist der Totentanz 1424 in Paris, an der Mauer des Friedhofs cimetière des Innocents. Er regt uns an, den Tod bewusst zu halten, und damit leichter und gelassener zu leben: "Fliehe das weltliche Vergnügen! Um gut zu sterben und lang zu leben!" Die Ironie: der Totentanz begründet seinen Aufruf zur Askese nicht mit der Aussicht wieder aufzuerstehen.
Im 14. Jahrhundert wütete in Europa die Pest. Insgesamt forderte sie zwischen 1348 und 1351 in Europa 25 Millionen Tote. In Paris starben 1350 innerhalb von zwei Monaten 40.000 Menschen. Dazu grassierten Typhus und Ruhr, tobte der Hundertjährige Krieg zwischen den englischen Plantagenets und den französischen Valois. Der Priesterstand brach zusammen und konnte nicht mehr das Personal aufbieten, um jedem Opfer die Absolution oder letzte Ölung zu erteilen. Darum bekamen die Menschen bereits um 1350 erste Zweifel, ob ein Priester überhaupt erforderlich sei, um selig zu sterben. Vielmehr häufte sich der Eindruck, dass das Jüngste Gericht, das in der Offenbarung des Johannes so eindrücklich geschildert wird, nicht irgendwann im Jenseits zu erwarten sei, sondern schon hier auf der Erde. Und dass es vielleicht gar keinen Sinn haben könnte, für die Seelen der bereits Verstorbenen zu beten. Dass vor allem ein asketisches und pflichtbewusstes Leben beim Jüngsten Gericht ins Gewicht falle, und zwar noch im Diesseits zur Todesstunde.
Wie sah vor diesem Umbruch die religiöse Kultur aus? Die Kirchen waren überfüllt mit Heiligenbildern und Mariendarstellungen. Der Gläubige legte vor einem Schutzheiligen ein Gelübde auf gute Werke ab, im Hinblick auf seine Auferstehung und das ewige Leben. Dabei stellte er sich vor, dass in einer Figur der Mutter Gottes Maria real präsent sei und sein Versprechen aufzeichne. Wenn der Gläubige dann später wieder in dieselbe Kirche kam, dann würde Maria prüfen, ob er sein Gelübde eingehalten habe. Beides wurde vom Klerus streng kontrolliert.
Die Bildzonen der Toten und der Lebenden verschmelzen
Eine Darstellung des Todes und Ermahnung zur Askese gab es bereits in dieser Zeit: die Legende von den drei lebenden und den drei toten Königen. Drei lebensfrohe junge Könige reiten durch einen Wald. Auf einem Friedhof werden sie von drei Toten angehalten. Es sind ihre toten Ebenbilder, die sie ermahnen, den Freuden zu entsagen und Werke der Nächstenliebe zu tun, um sich das ewige Leben zu verdienen. In diesen Darstellungen ist jeweils ein Bereich der Bildfläche vorgesehen für die Lebenden und ein zweiter Bereich für die Toten. Beide Bildzonen sind räumlich klar getrennt, durch ein Kreuz, das als Symbol der Umkehr aufgerichtet ist. In dieser Bildlogik kehren die drei lebenden Könige dann auch wirklich geläutert in ihr Leben zurück, tun gute Werke und verdienen sich damit ihre Auferstehung.
1424 wagt ein bis heute unbekannter Maler in Paris an der Place des Innocents eine theologische Revolution: Er stellt den Tod als ironisches Skelett dar, das die Vertreter aller Stände mit ihren sehr unterschiedlichen Werken – von der Askese der Nonne bis zum täglichen Enthaupten des Scharfrichters – in denselben Reigen zieht. Dabei geht der Tod brutal vor, entzieht dem Minnesänger die Geige, kappt dem Blinden die Hundeleine, ergreift den Anwalt am Kragen. Plötzlich ist die Bildzone der Toten mit der der Lebenden verschmolzen. In dieser pessimistischen Logik taucht die Idee der Auferstehung nicht mehr auf.
Dieser Totentanz wurde bald in ganz Europa kopiert: 1439 an der Friedhofsmauer der Dominikaner-Kirche zu Basel, 1460 in der Marienkirche zu Lübeck, 1470 in der Benediktiner-Abtei von La Chaise-Dieu (Südfrankreich), 1485 in der Marienkirche zu Berlin, 1600 in der Sankt-Annen-Kapelle zu Füssen (Bayern). In der Reformationszeit bekam der Totentanz neuen Aufwind.
Mehrfach war Luther in seinem Leben vom Tod bedroht. Als er 1521 in Worms vor der päpstlichen Kurie seine Theologie verteidigte, dass der Mensch allein durch den Glauben selig sei, wurde er von Rom mit einem Bann belegt und war vogelfrei. Jeder konnte Luther ungestraft töten. Der Reformator musste also so leben, als wäre jeder Tag sein letzter. In dieser Endzeit-Haltung führte Luther eine "moralische Rochade" zu Ende, die sich im Totentanz bereits angekündigt hatte. Er provozierte die katholische Kirche mit einer dreifachen Verneinung: erstens, indem er das Fegefeuer abschaffte und die Fürbitte an Allerheiligen für die Seelen der Verstorbenen. Zweitens, indem er seine Loslösung von der katholischen Kirche damit rechtfertigte, dass er sein ganzes Leben als Buße konzipierte, während die katholische Kirche ihren Schäflein in der Welt kleine Winkel von Genuss und Sinnlichkeit zugestand. Drittens, indem er den Heiligen- und Marienkult abschaffte. Wenn der Mensch allein durch den Glauben selig war, dann hatte es auch keinen Sinn mehr, vor einem Marien- oder Heiligenbild ein Gelübde auf gute Werke abzulegen.
Warum der Totentanz die Gesundheit schont
Nach Martin Luther war ein Bild nicht heilig. Es sollte nicht angebetet werden, sondern die Predigt verlängern und zur Andacht dienen. Da kam ihm der Totentanz entgegen: Der sarkastische Sensenmann wollte nicht angebetet werden, sondern lehren. Er ermahnte die Menschen, nüchtern, luzide und bewusst mit dem umzugehen, was ihnen zu Lebzeiten anvertraut war, und sich ständig bewusst zu halten, dass Macht, Gut und Verantwortung nur geliehen waren.
1536 leitete der Maler Hans Holbein der Jüngere seinen Totentanz ein mit zwei musizierenden Skeletten und den Worten: "O Mensch betracht’ hier die Figur, und nicht veracht’ all Creatur." Das klingt fast wie eine Losung der modernen Umweltschutz-Bewegung, aber man darf nicht übersehen, dass Holbein seinen Satz aus dem Geist der Askese sagt. Darum spricht die makabre Kunst der Reformationszeit zu unserer Gegenwart: Sie hat sich bereits von der Bilderverehrung und der Indoktrination des Hochmittelalters getrennt, kennt aber noch nicht das Streben nach irdischem Glück, das erst mit der Aufklärung die Bühne betritt.
Wenn man sich die eigene Vergänglichkeit bewusst macht, macht man sich damit auch die Beschaffenheit des Menschen klar, das heißt: er neigt zu Fehlern, Irrtümern und Lastern. Im Bewusstsein des Todes löst man sich vom Wahn, dass der Mensch immer jung, dynamisch und produktiv sein müsse. Man gewinnt sowohl an Ausdauer, Gegenwart und Dankbarkeit sowie an Beziehungsfähigkeit. Der Totentanz vermittelt ein ganzheitliches Denken, das weniger strategisch und nicht unbedingt ist, es spart Ressourcen und schont die eigene Gesundheit.