Ein schweres Unwetter macht den Sommernachmittag dunkel. Viele Touristen sind vom Berliner Alexanderplatz vor Hagel und Platzregen in die große Berliner St. Marienkirche geflüchtet. Drinnen sortieren sich die Menschen - und entdecken den Raum. Vertraut ist er ihnen nicht. Einiges ist anders. Etwas irritiert die Kirchenbesucher. Doch was ist hier los? Viele machen sich von der Tür auf den Weg in den Raum und bleiben bald erstaunt stehen. Damit haben sie nicht gerechnet, hier nicht.
"Sein.Antlitz.Körper" irritiert, wie es Kunst darf, soll und muss. Die Marienkirche war in diesem Sommer einer von neun viel beachteten Ausstellungsorten der großen Kunstschau an sakralen Orten der Hauptstadt. Nicht nur der Regen treibt zahlreiche Menschen in die Ausstellungskirchen. Für Besuchende wird Vertrautes durchbrochen und ihnen gleichzeitig wieder in den Blick gehoben. So ist es beabsichtigt – und gelingt. Da findet sich ein moderner Kreuzweg zwischen historischen Gemälden. Eine grelle Lichtinstallation, die blendet, ablenkt und doch neugierig macht. Nicht weit davon Kacheln um den Altar mit Motiven von muslimischen Kopftuchträgerinnen. Am Taufbecken ein Modell eines zerschossenen Wohnhauses in Syrien.
Im März startete das umfangreiche Kunst- und Kirchenprojekt in Berlin.100 verschiedene künstlerische Positionen fanden und finden Eingang in Gottesdiensträume. Katholische und evangelische Kirchen sowie das jüdische Gemeindehaus wurden Schau-Orte für das Projekt. Am Sonntag enden in St. Adalbert und in der Neuen Synagoge Berlin Teilausstellungen. Die Schau in St. Marien wurde wegen des großen Interesses um Wochen verlängert. Die Werkschauen und Präsentationen im Berliner Dom und der Zionskirche gehen zum Teil bis 2017 weiter. Am 8. Oktober öffnet in der Parochialkirche eine weitere Schau und am 13. November folgt abschließend die Erlöserkirche Jerusalem.
Die Kunst und die Kirchen der Gegenwart verknüpfen
Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ist begeistert: "Diese Ausstellung ist eine großartige Leistung. Sie verknüpft auf höchst originelle Weise die Kunst und die Kirchen der Gegenwart." Besonders wichtig seien ihm dabei die Qualität der ausgewählten Kunstwerke – "es wurde wirklich nur Erstklassiges ausgestellt" - und zum anderen die Vielfalt der beteiligten Kirchen, von großen und prächtigen Innenstadtkirchen bis hin zu kleineren Quartierskirchen. Dies zeige, so der Theologe, dass Kunst und Kirche für alle da seien.
"Beim Titel denkt man zuerst an den Körper von Jesus, den geschundenen Leib und das Jesus-Antlitz," so Ochs. Seine Erfahrung als Kurator und Kunstvermittler zeige ihm, Künstlerinnen und Künstler arbeiteten aus ihrem Körper heraus, damit teile sich deren eigene Spiritualität mit. Die Kunstschaffenden gäben so "Gesicht und Antlitz". Die Betrachtenden würden die eigene Existenz und ihre Haltung reflektieren. Ob "Frauenfragen, internationale Politik, Flüchtlingssituation oder Ökologie", für Ochs hat vieles Platz in der Spannung zwischen Ort und Werk, zwischen Gottesdienststätte und Touristenmagnet.
Ochs weiß, wie man ohne christliche Religion lebt - wie es die Mehrzahl der Hauptstädter tut. Mit 18 trat Ochs aus der Kirche aus: "Da war ich strenger Sozialist!" Heute versteht er sich als "freiwilligen Kirchenchristen". Kontakte zu einem befreundeten Jesuiten, Erfahrungen in China und Besuche in Taizé führten ihn zu einer neuen Offenheit für Spiritualität und Gemeinde. Diese hat Auswirkungen auf sein Schaffen als Kurator. Die Ausstellung speist sich aus unterschiedlichen spirituellen Wurzeln unterschiedlicher Künstler aus der ganzen Welt. Ob islamische, buddhistische oder christliche Motive, Ochs weiß diese in Kirchen in Szene zu setzen und auf den Kern der Religionen zu verweisen. Der Berliner Dom profitiert davon: Als Kurator für Bildende Kunst engagiert er sich hier über das Projekt hinaus.
Der EKD-Kultur-Beauftragte Claussen schätzt die Arbeit und das Können von Alexander Ochs sehr: "Er ist ein Glücksfall für die Kirche, denn er bringt mit großem Engagement und hoher Kompetenz moderne Kunst in unsere Kirchenräume. So sorgt er für eine Fülle wichtiger Irritationen und überraschender Inspirationen."
Das Unwetter über Berlin ist abgezogen. Zwischen dichten Wolken zeigen sich einzelne Sonnenstrahlen, die durch die Fenster von St. Marien dringen. Wieder wirkt der Kirchenraum anders. Eben noch verborgene Kunstwerke werden erhellt, sichtbar. Die vor dem Regen geflohenen Touristen drängen derweil aus der Kirche. Ruhe kehrt ein. Ruhe, die hier doch keine ist. Dank der Kunst von "Sein.Antlitz.Körper" und dem Wirken von Alexander Ochs.
Aktuelle Ausstellungen und Orte von "Sein.Antlitz.Körper":
DAS SICHTBARE UND DAS UNSICHTBARE.
Leiko Ikemura, Der Schrei, 2016. Micha Ullman, Seconda Casa, 2004
Bis 28. Mai 2017
Berliner Dom, Am Lustgarten, 10178 Berlin
THE REPETITION OF THE GOOD. THE REPETITION OF THE BAD.
Werke von Danica Daki?, Martin Eder, Michael Endlicher, Mwangi Hutter, Alicja Kwade, Nina Kovacheva, Eric van Lieshout, Claudia Schink, Serse, Moritz Stumm, Lidwien van de Ven, Junko Wada, Uwe Wittwer, John Young, Daniel Amin Zaman + Peter Riek als Gast
Bis 4. September 2016
Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28-30, 10117 Berlin
REDUCTIO AD.
Werke von Darren Almond, Karsten Konrad, Andreas Lang, Jakob Mattner, Andreas Schmid, Qiu Shihua, Wang Shugang, Brigitte Waldach, Liu Wei + Peter Riek als Gast
Bis 4. September 2016
St. Adalbert, Torstraße 168, 10115 Berlin
TIERE SEHEN DICH AN.
Werke von Birgit Brenner, BEZA, Martin Eder, Tom Ellis, Jana Gunstheimer, Katrin Heichel, Julius Hofmann, Kai Klahre, Karin Kneffel, Carina Linge, Justine Otto, Neo Rauch, Cornelia Schleime, Lothar Schliemann, Rigo Schmidt, Vroni Schwegler, Robert Seidel, Michael Triegel, Pieter Cornelisz Verbeeck, Miriam Vlaming, Carl Emmanuel Wolff + Peter Riek als Gast
Bis 18. September 2016
Zionskirche, Invalidenstraße 4a, 10115 Berlin
HELEN ESCOBEDO, DER AUSZUG. AUS MEXICO.
In Kooperation mit Peter Sötje, Yi Li und dem Frauenmuseum Bonn
Bis 18. September 2016
Berliner Dom, Am Lustgarten, 10178 Berlin
GIL SHACHAR, 153 FISCH
Bis 28. Mai 2017
Berliner Dom, Am Lustgarten, 10178 Berlin
VOM SEIN. VOM ANTLITZ.VOM KÖRPER.
Werke von Sherif El Azma, Joachim Hake/Thomas Henke, Julia Krahn, Paloma Varga Weisz und Peter Riek als Gast
8. Oktober bis 4. November 2016
Parochialkirche, Klosterstraße 67, 10179 Berlin
JERUSALEM!
Werke von Mona Hatoum, Micha Ullman, Chris Newman, Brigitte Waldach, Schola des Berliner Doms
13. November bis 30. Dezember 2016
Erlöserkirche Jerusalem, Muristan Road, 91140 Jerusalem