Die EU sehe sich mit der "wohl größten Belastungsprobe ihrer Geschichte" konfrontiert. "Wollen wir wirklich, dass das große historische Werk, das Europa Frieden und Wohlstand gebracht hat, an der Flüchtlingsfrage zerbricht?" fragte Gauck in seiner Eröffnungsrede. "Niemand, wirklich niemand kann das wollen", betonte der Bundespräsident. Vor dem internationalen Publikum machte er klar, dass Deutschland die Hauptlast der Flüchtlingskrise nicht weiter alleine schultern könne. Er wünsche sich Solidarität der übrigen europäischen Staaten mit einem durch die Krise "belasteten Deutschland".
Das deutsche Staatsoberhaupt kritisierte die osteuropäischen Staaten, die eine Aufnahme von vielen Flüchtlingen verweigern. "Ich kann aber nur schwer verstehen, wenn ausgerechnet Länder Verfolgten ihre Solidarität entziehen, deren Bürger als politisch Verfolgte einst selbst Solidarität erfahren haben", sagte Gauck.
"Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, dürfen etwas kosten"
Nach Angaben der Bundesregierung nahm kein anderes Land der Welt in den vergangenen zwei Jahren mehr Flüchtlinge auf als die Bundesrepublik. Allein im vergangenen Jahr kamen rund 1,1 Millionen Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland.
Der Bundespräsident verteidigte die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): Die Aufnahme Verfolgter sei ein Gebot humanitärer Verantwortung, sagte er. Nützlichkeitserwägungen dürften bei der Aufnahme von Flüchtlingen kein Maßstab sein. "Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, dürfen etwas kosten", erklärte Gauck.
Gleichzeitig wies er jedoch auf die zunehmenden Sorgen der Einheimischen hin. Nach den gewaltsamen Übergriffen in Köln und anderen deutschen Städten sei "die Furcht gewachsen, dass grundlegende zivilisatorische Errungenschaften wie Toleranz, Respekt und die Gleichberechtigung der Frau beeinträchtigt werden könnten". Ebenso wachse die Furcht, dass der Staat nicht mehr immer und überall imstande sei, für Recht und Ordnung zu sorgen.
Das Staatsoberhaupt betonte, dass die Bereitschaft zu solidarischem Handeln für Flüchtlinge nicht unendlich sei. Eine "Begrenzungsstrategie" könne moralisch und politisch sogar geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten. Eine Begrenzungsstrategie könne die Unterstützung für eine menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge sichern, betonte Gauck. Begrenzung sei nicht per se unethisch: Begrenzung helfe, Akzeptanz zu erhalten.