Sie kamen im September 2012 aus Würzburg. Flüchtlinge begannen damals ihren Protestmarsch auf die deutsche Hauptstadt. Sie forderten ein besseres, effektiveres Asylrecht: Die Verkürzung der Bearbeitungszeit der Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Aufhebung der so genannten Residenzpflicht, die schnellere Erteilung einer Arbeitserlaubnis und die unkomplizierte medizinische Versorgung durch eine Gesundheitskarte. Fast schon visionär.
Heute haben sich leitende Politiker angesichts Hunderttausender neuer Asylbewerber mit diesen praktischen Forderungen längst angefreundet. Vor drei Jahren aber stießen die Flüchtlinge auf taube Ohren. Sie besetzten den Berliner Oranienplatz, bis zur Räumung. Obwohl der Senat ihnen Unterkunft versprochen hatte, wurden sie auf die Straße gesetzt. Rund Hundert von ihnen sind seit September 2014 in Berliner Kirchengemeinden untergekommen, offiziell ist von Kirchenobdach die Rede. Faktisch aber ist es das größte Kirchenasyl überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg. Die Rentnerin Marita Lessny betreut hier ehrenamtlich eine Gruppe von ehemaligen Oranienplatz-Flüchtlingen, die mittlerweile auf einem Friedhof in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude untergekommen sind. Während des Interviews klingelt immer wieder das Telefon. Auch noch nach einem Jahr möchten Bürger Spenden bringen, Kuscheltiere, Lebensmittel, Hygieneartikel oder sogar Möbel. "Aber unsere Kapazitäten sind begrenzt, wir haben keine Lagerungsmöglichkeiten. Von daher brauchen wir immer Geld", erzählt Marita Lessny.
Geschätzt eine halbe Million Euro an Privatspenden
Nachdem der Senat nach zähen Verhandlungen, auch unter Vermittlung der beiden Kirchen, den Flüchtlingen ein gewisses Bleiberecht zugestanden hatte, wurden diese dennoch aus ihren Unterkünften geräumt und einfach auf die Straße gesetzt. Daraufhin besetzte eine Teilgruppe aus Protest die Evangelische St. Thomas-Gemeinde in Kreuzberg.
Diese fühlte sich bald allein schon aus hygienischen Gründen mit der Situation überfordert und bat die Brüder und Schwestern um Hilfe. Daraufhin garantierte der übergeordnete Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte ein Obdach für die Gruppe. Gemeinden und einzelne Christen sorgen seitdem für Unterkunft, ein kleines Taschengeld und Fahrkarten. Die Freiwilligen bieten auch Deutschunterricht oder gemeinsames Kochen an. Innerhalb eines Jahres ist so ein privates Spendenaufkommen von geschätzt einer halben Million Euro zusammengekommen. Zwar hat die Landeskirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz jetzt einen doppelt so hohen Betrag für die Flüchtlingsarbeit zur Verfügung gestellt, doch davon ist dieses spezielle "Kirchenobdach" nicht zu finanzieren: Es sind zwei verschiedene Töpfe. Dennoch lässt die Unterstützung für die Flüchtlinge nicht nach.
"Hier in Kreuzberg hat sich sehr viel aus dem Kiez heraus entwickelt. Es gab in der Kiezchronik einen Artikel. Daraufhin haben sich Nachbarn gemeldet, die etwa Hausaufgabenhilfe anboten. Die ehrenamtlichen Helfer laufen aber schon noch über die Kirche, dass die Leute auch versichert sind, wenn mal irgendwas passiert", berichtet Marita Lessny.
Auch in der evangelischen Kirchengemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg Nord wurde eine Gruppe Flüchtlinge aufgenommen. Aber das Asyl blieb nicht ohne Spannungen innerhalb der Gemeinde. Der Gemeindekirchenrat lehnte eine offizielle Aufnahme in einer gerade leerstehenden Pfarrwohnung ab, handelt es sich doch schließlich um einen Akt zivilen Ungehorsams am Rande der Legalität. Nach §?27 des Strafgesetzbuchs kann sich strafbar machen, wer Menschen ohne Aufenthaltstitel unterbringt. Eine Beihilfehandlung liegt nach Ansicht von Rechtsexperten allerdings nur dann vor, wenn sie eine bedeutende Tatunterstützung darstellt. Erst wenn den Flüchtlingen geholfen wird, sich zum Beispiel unter Nennung falscher Angaben einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, macht man sich strafbar.
Interreligiös wohnen: Beten Richtung Bücherregal
Beim Kirchenasyl aber wird mit offenen Karten gespielt, die Behörden sind stets informiert. Gegen den eigenen Gemeindekirchenrat gründete sich eine Flucht-Arbeitsgruppe in der Gemeinde, die bis heute Bestand hat. Das Pfarr-Ehepaar Simon-Zeiske nahm zwei Flüchtlinge zunächst privat bei sich auf. "Sie sind ja zum Nichtstun verdonnert. Und dann haben wir ihnen innerhalb der Gemeinde kleine Aufgaben angeboten. Wir haben zum Beispiel gemeinsame Gartenaktionen gemacht und gemerkt, dass sie gerne was zurückgeben wollen", erinnert sich die Pfarrfrau.
Mittlerweile sind die Flüchtlinge im Rotationsprinzip in andere Quartiere innerhalb der Berliner Kirchengemeinden weitergezogen. Dorle Simon-Zeiske würde wieder in der Not Flüchtlinge aufnehmen: "Ich bereue es gar nicht, und vor allem die Erfahrung, interreligiös zu wohnen, war toll: Christian saß in seinem Arbeitszimmer und brütet über der Bibel und den Texten für den Sonntagsgottesdienst und unsere Gäste beteten im Gästezimmer gen Osten in die Richtung, wo unser Bücherregal mit unserer ganzen Judaika steht. Das war also sehr bemerkenswert und sehr interreligiös."
Auf Unterstützung des Berliner Senats warten die Betroffenen bisher vergebens. Die Landeskirche drängt auf ein Bleiberecht für die Flüchtlinge, das der Senat im letzten Jahr nach zähen Verhandlungen zugesichert hatte. Im Mai hielten Kirchenvertreter zusammen mit den afrikanischen Flüchtlingen eine Mahnwoche gegenüber dem Berliner Innensenat ab.
Rainer Sbrzesny, Vorsitzender des Gemeindekirchenrates in der evangelischen Kirche am Weinbergsweg in Berlin-Mitte, ist verärgert, dass der Senat sich als nicht zuständig betrachtet: "Man hat auch Möglichkeiten, die Zuständigkeit aus humanitären Gründen beispielsweise an sich zu ziehen. Das ist auch die Forderung unseres Bischofs, § 60a des Aufenthaltsgesetzes erlaubt diese Möglichkeit", erklärt der Jurist.
Jetzt erst recht durchhalten
Auch in seiner Gemeinde erlahmt die Unterstützung für die Flüchtlinge nicht. Es scheint so, als wolle man nach zwölf Monaten privater Hilfe jetzt erst recht durchhalten. Immerhin scheint aber ein wenig Bewegung in die verfahrene Situation zu kommen. Im Juli gab es ein Spitzengespräch zwischen dem evangelischen Bischof Dröge, dem regierenden Bürgermeister Müller und Innensenator Henkel. Seitdem tagt eine gemeinsame Arbeitsgruppe. Eine Lösung ist aber noch nicht in greifbarer Nähe. Bis dahin werden die Flüchtlinge wohl weiterhin das faktisch größte Kirchenasyl in Deutschland in Anspruch nehmen müssen.