Samstagmorgen um sechs Uhr. Kleine Gruppen afrikanisch aussehender junger Männer laufen im Morgennebel durch eine kleine Seitenstraße im beschaulichen Berlin-Friedenau. Gedämpft hallen Trommelschläge durch die Luft. Als die jungen Männer die evangelische Philippus-Kirche erreichen, halten sie kurz inne, küssen die Außenmauer der Kirche, ziehen sich ihre Schuhe aus und stellen sie neben rund 100 anderen Schuhpaaren vor dem Eingang ab. Was geht da vor sich? "Heute feiern wir unseren Neujahrstag", erklärt Abraham Yemane. Der freundlich lächelnde 27-Jährige aus Eritrea ist seit sechs Monaten in Berlin, er wohnt in einem nahegelegenen Asylbewerberheim. In aller Frühe hat er sich auf den Weg gemacht, um gemeinsam mit etwa 300 anderen orthodoxen Christen aus seinem Land den Gottesdienst zu feiern. Wie die meisten hier ist Abraham von Libyen aus über das Mittelmeer nach Europa gekommen - allein, denn seine Eltern sind bereits verstorben und sein Bruder und seine Schwester sind in Eritrea geblieben.
"Als ich hier im Heim angekommen bin, habe ich andere Eritreer kennengelernt, die mir von der Gemeinde und den Gottesdiensten erzählt haben. Wir küssen die Kirchenmauer und ziehen uns die Schuhe aus, weil die Kirche das wertvollste in unserem Leben ist. Für uns ist Gott überall. Wir finden hier unsere Sprache, unseren Glauben und unsere Kultur, es ist wie ein Stück Heimat", meint Abraham und beeilt sich, um noch einigermaßen pünktlich zum Gottesdienst zu kommen. Die orthodoxen Christen aus Eritrea, die sich in der evangelischen Philippus-Kirche versammeln, kommen nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Nordbrandenburg, 130 Kilometer und bis zu zwei Stunden Fahrt entfernt.
Dem Gottesdienst folgen Männer und Frauen getrennt. Die Frauen sind in weiße Tücher gehüllt, die an die Schleier der Muslima erinnern, auch manche Männer sind verhüllt. Eng an eng sitzen sie in den Kirchenbänken, während vor dem Altar einer der drei Priester aus der Bibel rezitiert oder Gebete spricht, die von kurzen Predigten unterbrochen werden. Wer kein Tigrinisch spricht, erkennt nur zwei Wörter, die immer wieder kehren: "Amen" und "Jesus Christus". Statt mit einer Orgel wird der Gottesdienst von drei Männern mit großen Trommel begleitet, während die kräftigen, klaren Stimmen der Gottesdienstbesucher einen schier endlos erscheinenden rhythmischen Gesang anstimmen.
Orthodoxe Christen aus Eritrea haben Durchhaltevermögen: kein Weg ist ihnen zu weit, um Morgens ab 5.30 Uhr den Gottesdienst zu beginnen, der etwa vier Stunden dauert und zum großen Teil im Stehen absolviert wird. Keine Anzeichen von Müdigkeit sind zu erkennen, es ist ständig Bewegung in der Kirche, Menschen kommen und gehen, manche filmen die Zeremonie mit ihren Smartphones, kleine Kinder laufen umher, und wenn eine neue musikalische Einlage beginnt, singen und klatschen alle mit – bis die Musik wie auf einen geheimen Befehl hin plötzlich wiederverstummt.
Sehr gutes Miteinander der unterschiedlichen Gläubigen
"Religiösere Menschen habe ich noch nie erlebt!", meint Dirk Meissner aus dem Gemeindekirchenrat der Philippus-Nathanael-Gemeinde. Während der Gottesdienst in die vierte Stunde geht, bereitet er im Gemeindehaus nebenan eine Veranstaltung vor. "Als wir die Anfrage über das Konsistorium erhielten, wollten wir erst einmal sichergehen, dass der orthodoxe Gottesdienst im Einklang mit unseren Vorstellungen abläuft. Wir haben gemerkt, dass das außer ein paar Äußerlichkeiten und der Verwendung von Weihrauch so ziemlich das Gleiche ist. Wir glauben alle an Jesus Christus."
Die Abstimmung unter den Gemeindemitgliedern über die Öffnung der Kirche für Orthodoxe hat eine Zustimmung von einhundert Prozent ergeben. Seit März finden jeden Sonntagmorgen zwei Gottesdienste statt: um 5.30 Uhr für die Orthodoxen und ab 10.30 Uhr für die evangelische Gemeinde. "Endlich ist die Kirche mal voll!" freut sich Dirk Meissner. Conny Jost, die Vorsitzende des Gemeindekirchenrats, betont, dass es ein sehr gutes Miteinander der unterschiedlichen Gläubigen gebe, auch das letzte Gemeindefest der Philippus-Nathanael-Gemeinde habe man zusammen gefeiert. "Das sind so fröhliche, liebenswerte Menschen. Wir sind einfach glücklich!"
"Wir alle glauben an Jesus Christus"
Nach dem Neujahrsgottesdienst am Samstag versammeln sich die Eritreer auf dem Kirchplatz, begrüßen sich, verteilen kleine Brotstücke als Symbol der Gemeinschaft. Der 28jährige Hzkaiel Berihu, einer der drei Priester, ist erst seit zwei Wochen in Berlin. Mit sieben Jahren besuchte er bereits eine Diakonieschule in Eritrea und ließ sich zum Priester ausbilden. Dass er so schnell eine Gemeinde in Deutschland gefunden hat, ist keine Selbstverständlichkeit für ihn. "Ein Priester muss bei uns predigen, egal wo er ist. Dass wir hier die Möglichkeit zu einem so großen Gottesdienst haben, macht mich einfach glücklich." Was verbindet er mit Martin Luther, dem Vater der Reformation, deren 500. Jahrestag man in Deutschland bald feiern wird? "Ich kenne Martin Luther, natürlich haben wir uns mit ihm beschäftigt. Aber für unsere Glaubensrichtung spielt er nicht so eine große Rolle. Was zählt, ist, dass wir alle an Jesus Christus glauben." Wie es scheint, haben in der Philippus-Nathanael-Gemeinde zwei Kulturen und zwei Glaubensrichtungen zueinander gefunden.