"Wie die Tiere", sagt der Polizist, und zückt seinen Knüppel. "Wie die Tiere", sagt der Lastenträger und stürzt sich zurück in das Getümmel. "Wie die Tiere", denkt man selbst. "Warum stellen die sich nicht vernünftig an?" Können sie nicht. Wollen sie nicht. Ist vielleicht auch nicht der richtige Ort für die Sehnsucht nach ein bisschen Ordnung. Das hier ist Melilla, genannt "Melilla, die Alte", spanischer Außenposten der "Festung Europa" auf marokkanischem Festland.
Nichts soll hineingelangen in diese Festung. Ein bisschen was darf aber hinaus, Waren zum Beispiel. Altkleider, Turnschuhe, Reifen, Decken. Und damit der Handel möglichst wenig kostet, schleppen Menschen die Waren auf ihren Rücken über die europäisch-afrikanische Grenze. Das sind dann "die Tiere".
Wir treffen dort Habiba Uardani, 73 Jahre alt, ein Gesicht mit Falten wie mit einem Meißel hineingetrieben. Auf ihrem Rücken trägt sie, eingeschlagen in ein Tuch, einige Wolldecken, die Enden des Tuches hat sie vor ihrer Brust zusammengeknotet. Das Paket ist viel breiter als ihr Rücken. Mit ihrem ausgezehrten Körper stemmt sich Habiba Uardani gegen den Druck der Menschenmasse von hinten und von der Seite, um nicht überrollt zu werden. Eine Frage, zugerufen durch den Tumult: "Habiba, ist diese Arbeit nicht zu schwer für eine alte Frau?" Habiba Uardani führt ihre Hand zum Mund, als würde sie Erdnüsse essen. Soll heißen: Sie muss doch Geld zum Essen verdienen. Dann verschluckt die vorwärts wogende Menschenmenge die Frau.
Elf Kilometer Zaun trennen die Welten
Melilla ist seit der Eroberung im Auftrag der katholischen Könige Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon im Jahre 1497 spanischer Besitz. 13 Quadratkilometer Spanien in Marokko, nicht viel größer als Aarau, 77.000 Einwohner. Die Stadt war eine der beliebtesten Baustellen der spanischen Gründerzeit-Architekten. Hier erhoben sich 1936 Soldaten unter General Francisco Franco gegen die Zweite Spanische Republik und lösten damit den Spanischen Bürgerkrieg aus. Ein geschichtsträchtiger Ort.
Heute ist Melilla eine Stadt, in der Europa und Afrika aufeinander prallen. Mit aller Schizophrenie, die dazu gehört. Berühmt wurde ein Foto, auf dem Bewohner von Melilla in Seelenruhe auf dem städtischen Golfplatz putten, während im Hintergrund eine Gruppe dunkelhäutiger Flüchtlinge versucht, den Grenzzaun zu erklimmen.
"Zaun" ist eigentlich eine Verniedlichung für das elf Kilometer lange Bollwerk, das Melilla wie ein Bandwurm umzingelt. Drei benachbarte Zäune sind es, bis zu sechs Meter hoch, den vermeintlichen Eindringlichen entgegen geneigt, stacheldrahtbewehrt, mit Maschen so klein, dass kein Finger hineingreifen kann. Eine EU-erdachte Abwehr gegen ungebetene Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten.
Für das, was trotzdem über die Grenze soll, gibt es rund um Melilla vier Löcher im Zaun, vier Grenzübergänge. Über einen gehen die marokkanischen Kinder, die spanische Schulen besuchen. Über den nächsten läuft der Warenhandel mit Lkw. Den dritten benutzen vor allem die marokkanischen Arbeitskräfte, die in den spanischen Restaurants und Haushalten Ihr Geld verdienen. Der vierte, mit Namen Barrio Chino, ist auch für den Handel da. Nur kann man sich nicht darauf einigen, wie man diesen Handel nennen soll. Für die Marokkaner ist er illegal, wenngleich geduldet, bei den Spaniern heißt er atypisch.
Wer viel trägt, verdient mehr Geld
10 Uhr vormittags am Grenzübergang Barrio Chino. Aus Marokko ragt das grün-weiße Minarett einer Moschee über den Zaun, auf der spanischen Seite vereinsamen Kakteen und vom Meereswind zerzauste Bäume. Vor einer Stunde haben ein paar Männer unter ungeduldigen Blicken und Rufen die faustgroßen Schlösser am Grenzzaun gelöst, noch zwei weitere Stunden wird die Grenze offen sein. Zuerst hört man die Menschen, die vor dem Übergang drängeln. Kreischen, Pfeifen, anschwellendes Surren und das dumpfe Klatschen von Gürteln und Knüppeln. Dann sieht man sie.
Hunderte Marokkaner drücken sich der Drehtür am Grenzübergang entgegen. Jeder von ihnen hat ein weißes Bündel dabei, manch eines 80 Kilogramm schwer.
Die Träger balancieren die Packen auf ihren Rücken, krumm gebeugt unter dem Gewicht. Sie wuchten die Pakete über die Schulter und Köpfe ihrer Vorderleute und steigen hinterher. Einige haben ein dünnes Skateboard dabei und schieben den Packen wie einen störrischen Esel an. Eine Frau sinkt mit einem Asthmaanfall zu Boden, einem jungen Mann fließt das Blut von einer Platzwunde am Kopf den Hals hinab, ein anderer führt seinen blinden Freund an der Hand.
Die Menschen drängeln sich durch einen immer schmaleren Gang, gebändigt nur durch etwas, das einmal ein Zaun war. Die Löcher sind gestopft mit Paletten, Planen und Brettern. Von oben hängen die Fetzen eines zerstörten Sonnenschutzes herab.
Ein paar Männer der spanischen Guardia Civil, der Militärpolizei, spannen ein Absperrband. Sie haben kaum die Enden verknotet, da steigen die ersten Menschen schon darüber hinweg.
Die Träger, die es endlich über den Grenzübergang geschafft haben, laden ihr Bündel ab und laufen zurück auf die spanische Seite. Ein neues Bündel auf den Rücken hieven, krumm machen, und wieder hinein ins Getümmel. Wer viel Ware über die Grenze schafft, verdient mehr Geld.
Was zu Fuß kommt, wird nicht verzollt und nicht versteuert
Auch Habiba Uardani, die alte Frau mit den Wolldecken, taucht wieder auf. Erstaunlich schnelle geschäftige Schritte, für einige Minuten befreit von der Last. Aber ihr Körper bleibt leicht gebeugt. Das Los einer langjährigen Lastenträgerin.
Sie läuft zu dem Händler, der ihr neue Decken aufbürdet, gute 500 Meter entfernt vom Grenzübergang. Der Weg zur Grenze geht leicht bergan. Langsam, als würde sie jeden ihrer Schritte zählen, kehrt Habiba Uardani zurück. Zeitungen schreiben über Frauen wie Habiba, sie nennen sie "Esel-Ladies".
Es sind Einwohner der marokkanischen Grenzstadt Nador, die am Übergang Barrio Chino schuften. Dank eines Abkommens zwischen Nador und Melilla brauchen sie kein Visum, um die Grenze zwischen Afrika und Europa zu überqueren. Besser noch: Alles, was die Menschen zu Fuß über diese Grenze schleppen können, gilt als Handgepäck. Das Gepäck bleibt unverzollt und unversteuert.
Waren im Wert von 300 Millionen Euro erreichen den Hafen von Melilla jedes Jahr. Containerschiffe aus Europa, Kanada, Indien und China legen an, beladen mit gebrauchter Kleidung, Haushaltswaren, Decken, Schuhen. 60 Prozent der Waren sind für Marokko und ganz Afrika bestimmt. Der lukrative Handel über Barrio Chino ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren für Melilla geworden. Schließlich ist es viel billiger, die Produkte auf den Rücken von Menschen über die Grenze zu schicken als verzollt und versteuert im Lastwagen.
"Es wird sich nie etwas ändern"
Habiba Uardani wohnt an einem Berghang, der vor einigen Jahren von der Stadt Nador einverleibt wurde. Der Stadtteil heißt Haya Ascari, von hier aus ist der Blick frei auf das Mittelmeer. Bunt verputzte Häuser, die so aussehen, als würden sie demnächst den Hang hinunterpurzeln, gelb, rot, orange, das Haus von Habiba Uardani ist lilafarben. Vor ihrer Tür wachsen Pflanzen in Plastikkübeln.
Sie trägt wie immer ein helles Kopftuch, auf ihrer Stirn und auf ihr Kinn sind fingernagelgroße Kreuze tätowiert, die Handinnenflächen und Fußsohlen sind hennarot. Habiba Uardani ist vor Kurzem von ihrer Arbeit am Grenzübergang nach Hause gekommen. Sie hat an diesem Tag gut verdient, sie ist glücklich, sie ist erschöpft. Und sie versteht nicht, warum sich ausländische Journalisten für ihre Arbeit interessieren. "Es wird sich sowieso nie etwas ändern."
Seit ihr Mann vor 15 Jahren starb, fährt Habiba Uardani jede Woche von Montag bis Donnerstag zum Grenzübergang Barrio Chino. Sie verlässt ihr Haus um fünf Uhr morgens. Wer zu spät kommt, landet in der Schlange ganz weit hinten.
Uardani trägt nur Wolldecken, die chinesische Schiffe nach Melilla bringen, alles andere wäre zu schwer. Pro Packen, den sie über die Grenze schleppt, bekommt sie von einem marokkanischen Händler drei bis fünf Euro, je nachdem, wie groß in Afrika gerade die Nachfrage nach chinesischen Wolldecken ist. Manchmal schafft sie es wegen des großen Gedränges nur einmal über die Grenze, heute war sie dreimal drüben. An Nachmittagen wie diesem kann Habiba Uardani endlich mal wieder einkaufen gehen, Essen für die kommenden Tage.
Von dem Lohn Habiba Uardanis lebt nicht nur sie allein. Sie gibt ihrer Tochter etwas ab, die mit ihr im Haus wohnt. Und sie unterstützt einen ihrer Söhne, der in Melilla lebt, aber nur selten arbeitet. "Er ist zu sehr in den Alkohol verliebt", sagt sie.
Die Wirtschaftskrise bringt das Recht des Stärkeren
Uardani steht auf und geht in ihre Küche, einen Verschlag neben der Eingangstür. Ein blau gemaltes Muster an der Wand, kaltes Wasser spritzt aus dem Wasserhahn. Sie wäscht einen Blechtopf ab. Was wird aus ihr und ihrer Familie, wenn sie die Wolldecken irgendwann nicht mehr tragen kann? Sie zuckt mit den Schultern. Sie weiß es nicht.
Am Grenzübergang steht Habiba Uardani meistens mit einer Gruppe anderer Frauen am Straßenrand, manchmal stundenlang, ihr Bündel ohne Unterlass geschultert, und wartet darauf, dass ein Polizist Erbarmen hat und sie zum Kopf der Warteschlange vorlässt. Dann muss sie nur noch ein wenig drängeln, ein paar Stöße abwehren.
Früher war die Arbeit in Barrio Chino leichter. Früher waren in Nador nicht so viele Menschen arbeitslos und verzweifelt. Früher waren die Frauen am Grenzübergang meistens unter sich. Seitdem die Wirtschaft kriselt, kommen auch junge Männer nach Barrio Chino, die drängeln, stoßen und schlagen. An einem Ort, an dem das Recht des Stärkeren gilt, sind Frauen wie Habiba Uardani nun erst recht die Verlierer. Sie sagt: "Ich wünschte, die Männer würden wieder verschwinden."
Der Handel in Barrio Chino ist chaotisch, gefährlich, vielleicht aber auch hilfreich, sogar nützlich. Denn die Händler, die die Lastenträger über die Grenze schicken, verdienen nicht nur an den krummen Rücken ihrer Arbeiter, sie geben Hunderten Menschen einen Job, die sonst nicht wüssten, woher das Geld für Essen nehmen.
Trägerinnen wie Habiba Uardani beschweren sich nicht nur über das Chaos, die menschenunwürdigen Bedingungen. Sie sagen auch, dass sie auf diesen Handel, diese Arbeit angewiesen sind.
Am Ende profitieren alle - aber das macht es noch nicht gut
"Seit 15 Jahren ist die Grenze unser größtes Problem." Diesen Satz sagt Enrique Alcoba Ruiz, Präsident der Handelskammer von Melilla, ein Schuhhändler in dritter Generation. In seinem Büro hängen Kunstdrucke und Fotografien vom Treffen mit dem spanischen König.
Ruiz macht sich nicht etwa Sorgen um den illegalen oder atypischen Handel über Barrio Chino. Er meint den Zaun, der mit den Jahren immer höher und undurchlässiger geworden ist und damit den Handel generell ins Stocken brachte. Der Präsident der Handelskammer diskutiert mit spanischen und marokkanischen Stadtvertretern über die Eröffnung eines weiteren Grenzübergangs. Wie die Ware schließlich durch die Lücken im Zaun gelangt, ist für ihn zweitrangig. Eine Frage an Ruiz: "Wie könnte man den Handel in Barrio Chino verändern?" Seine Gegenfrage: "Wer will denn daran etwas ändern?"
Ein Gespräch mit Enrique Alcoba Ruiz ist wie Schattenboxen. Fragen, die ins Leere laufen. Und Antworten auf nicht gestellte Fragen. Wer ist verantwortlich für das Chaos in Barrio Chino? Die Marokkaner selbst, sagt Enrico Alcoba Ruiz. Wer sollte ein Gewichtslimit für die Träger festlegen? Die Marokkaner, sagt Ruiz. Wer sollte eine Grenzanlage bauen, in der sich die Menschen nicht ständig über den Haufen rennen? Für Schatten sorgen? Sanitäre Anlagen errichten? Nicht die Spanier, sagt Ruiz. "Das sind marokkanische Bürger, die nur zu uns kommen, um diese Arbeit zu verrichten und dann sind sie wieder weg."
Auch Ruiz sagt, dass am Ende alle von diesem Handel profitieren. 200.000 Menschen – Verkäufer, Transporteure, Wiederverkäufer – in und um Melilla und in der zweiten spanischen Enklave Marokkos, Ceuta. "Wenn das System zusammenbricht, wer gibt dann diesen 200.000 Menschen Arbeit?"
Vermutlich würde der Grenzhandel nicht zusammenbrechen, wenn es in Barrio Chino ein paar Toiletten, stabile Zäune und mehr Polizisten gebe. Doch niemand scheint daran Interesse zu haben. Und so tragen weiterhin Menschen waschmaschinenschwere Packen auf ihren Rücken und werden niedergetrampelt, verletzt. Einige Lastenträger erzählen, es habe Todesfälle gegeben.
Dieser tägliche Wahnsinn ist nicht normal
"Wenn man das jeden Tag mit ansieht, denkt man irgendwann, das sei Normalität, aber das ist es nicht. Es ist nicht normal", sagt ein Polizist der Guardia Civil am Grenzübergang Barrio Chino. Mit zwölf Männern ist die Militärpolizei dort täglich im Einsatz. Das reicht gerade eben, um die meisten Schlägereien zu beenden und die Schwächsten in der Menge zu beschützen. Sie machen das Chaos erträglicher, mehr geht nicht.
Die Polizisten schwanken zwischen kaum unterdrückter Aggressivität und Hilfsbereitschaft. Sie sehen zu, wie hinter ihren Rücken Alkohol über die Grenze geschmuggelt wird, verbinden Kopfwunden oder schlagen mit ihren Knüppeln auf die Warenbündel, um Menschen auseinanderzutreiben.
Ein Feldwebel tritt den Lastenträgern, die immer wieder versuchen, auf Schleichwegen die Schlange zu umgehen, mit gezücktem Messer entgegen. Einige Male schneidet er die Haltegurte der Warenpacken durch, die Männer müssen umkehren und ihre Last neu bündeln. Er macht es sich einfach: "Das sind Moslems, das Chaos liegt denen im Blut", antwortet er auf die Frage, warum es hier täglich drunter und drüber geht.
Habiba Uardani ist wie immer sehr früh zum Grenzübergang gekommen. Sie sieht kleiner aus als bei dem Besuch in ihrem Haus, das Bündel auf ihrem Rücken lässt sie schmaler erscheinen. Es weht ein warmer Fönwind an diesem Tag, ein leichter Schweißfilm liegt auf ihrem Gesicht.
Sie lehnt halb versteckt hinter einem Transporter, aus Angst, die Guardia Civil könne sie ein paar Meter zurücktreiben. Habiba Uardanis Blick geht über die Menschenmenge. Eine Gruppe Lastenträger, die versucht, eine Polizeibarriere zu durchbrechen. Männer, die mit Gürteln auf Drängler einschlagen. Kreischende Frauen, die auf die Knie sinken. Für einen Moment sieht es so aus, als wolle Habiba Uardani nicht dazugehören. Sie zögert. Dann geht sie los. Mitten hinein.