Über die Jahrzehnte geführte Untersuchungen belegten eher das Gegenteil, sagte Primor dem Evangelischen Pressedienst (epd). Überall im Westen, ob in Europa oder in Nordamerika, gehe der Antisemitismus kontinuierlich zurück. "Natürlich gibt es ihn, er ist nicht verschwunden. Aber er wird weniger", betonte Primor. So habe beispielsweise bei Umfragen der Amerikaner in Deutschland noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Mehrheit angegeben, nicht einen Juden als Nachbarn haben zu wollen. Heute sei das nur noch eine Minderheit.
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Er sehe nicht, dass der Antisemitismus zunimmt, die Kritik an Israel aber schon, sagte der 79-Jährige weiter: "Und man vermischt das natürlich, Israelis, Juden, da wird nicht differenziert, man macht keinen Unterschied." Aber insgesamt lebten die Juden heute im Westen einschließlich Deutschland ganz normal. Nicht alle Vorurteile seien wirklich gefährlich, manche seien Folklore. "Nicht immer, wenn man einen Scherz über Juden macht, ist es Antisemitismus. Man muss differenzieren können, aber man tut es nicht. Der Antisemitismus-Vorwurf ist bequem. Dann muss man sich mit der Kritik nicht auseinandersetzen", sagte der ehemalige Botschafter.
Warum trotzdem alle überzeugt seien, dass die Judenfeindlichkeit zunimmt, liege an der stärkeren Empfindlichkeit der Gesellschaft auf antisemitische Vorfälle. "Man weiß nicht, wie viele Deutsche in der 20er Jahren Antisemiten waren", so Primor. "Man weiß aber ziemlich sicher, dass damals diejenigen, die nicht antisemitisch waren, demgegenüber gleichgültig waren." Heute reagiere die Öffentlichkeit anders und die Medien berichteten darüber.
"Antisemitismus war immer Teil der Gesellschaft"
Auch die unter muslimischen Zuwanderern häufig verbreitete Judenfeindlichkeit befördere das Gefühl eines erstarkenden Antisemitismus. "Antisemitismus war zwar in islamisch geprägten Ländern nie so aggressiv wie in Europa, aber er war immer Teil der Gesellschaft", sagte Primor. Zudem seien viele Muslime in Europa durch den Nahost-Konflikt aufgewühlt. "Und da sie hier nicht Israelis angreifen können, da greifen sie Juden an." In Israel verbinde man diesen Antisemitismus aber nicht mehr mit der traditionellen deutschen Gesellschaft, so Primor.
Ein dritter Grund ist nach Einschätzung des früheren Diplomaten, der zwischen 1993 und 1999 Israel in Deutschland vertrat, die zunehmende Kritik an der israelischen Politik, die von den Juden sehr oft als Antisemitismus interpretiert werde. "Das wird auch von der israelischen Regierung geschürt, weil es so bequem ist", sagte Primor. Dann müsse man sich nicht mit der Kritik sachlich auseinandersetzen. So könne die Regierung in Jerusalem sagen, man kritisiert uns nicht, weil wir Fehler machen, sondern weil wir so geboren sind. "Das kommt bei uns sehr gut an, denn das kennen wir seit Jahrtausenden", so der frühere israelische Diplomat.