"Wir müssen los, es ist schon fast 3 Uhr – jalla, jalla, schnell", ruft eine dunkelhaarige junge Frau einer älteren blonden zu. Beide binden sich noch rasch einen dicken Wollschal um, die Finger schlüpfen in Handschuhe. Fehlt nur noch die obligatorische Weste mit dem Logo: EAPPI in roten Lettern über einer Taube und einem schlichen Kreuz. Darüber steht geschrieben "World's Council of Churches". Dann laufen beide los. Zum Checkpoint 300, der die Westbank von Israel trennt.
Es ist kalt in Bethlehem an diesem Morgen, rund 2 Grad Celsius. Gisela Cardozo (27) aus Argentinien und Bibi Haggstrom (59) aus Schweden macht das nicht viel aus, sie haben sich mittlerweile an die eisigen Temperaturen gewöhnt. Beide sind "Ecumenical Acompanier" – ökumenische Begleitpersonen - und arbeiten als Freiwillige für drei Monate in der Westbank. Sie beide gehören zu einem Team von vier Leuten aus unterschiedlichen Ländern, die sich bereit erklärt haben, mit der palästinensischen Bevölkerung unter israelischer Besatzung zu leben.
"Keiner der Siedler hat das Gefühl, dass er fehl am Platz ist"
Das Programm EAPPI ("Ecumenical Accompaniment Programme for Palestine and Israel") gibt es seit 2002. Damals baten palästinensische Kirchenoberhäupter aus Jerusalem den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÄRK) um Unterstützung. Mehrere Länder stellten daraufhin Koordinatoren, die die Organisation und Aussendung der Begleiter übernahmen. In Deutschland sind der Evangelische Entwicklungsdienst und das Hilfswerk Brot für die Welt für die Finanzierung der Deutschen verantwortlich. Pax Christi, das Missionswerk der Kirche in Südwestdeutschland und das Berliner Missionswerk übernehmen die Auswahlgespräche und die Vorbereitung.
Als der ÖRK besprach, wie er die palästinensische Bevölkerung und besonders die Christen im Heiligen Land unterstützen könne, hatte die Zweite Intifada gerade ihren Höhepunkt erreicht. Es gab viele Opfer auf beiden Seiten zu beklagen, der palästinensischen wie der israelischen. Der Friedensprozess und das Osloer Abkommen waren in weite Ferne gerückt. Die erhoffte Unabhängigkeit Palästinas war für viele lediglich ein Traum geblieben.
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Die israelische Regierung hatte 1993 entschieden, die palästinensischen Gebiete in A-, B- und C-Sektionen aufzuteilen. Diese Fragmentierung, die in dem Gaza-Jericho-Abkommen von palästinensischen und israelischen Politikern unterzeichnet wurde, war eine Interimslösung und sollte nur bis zur Unabhängigkeit eines eigenen palästinensischen Staates andauern. Doch die Realität sieht heute anders aus. "Israel kontrolliert bis jetzt 62 Prozent der Westbank und blockiert Gaza", sagt Angela Godfrey-Goldstein, israelische Friedensaktivistin und Gründerin der Nichtregierungsorganisation Grassroots Jerusalem. Zudem leben mittlerweile 500.000 jüdische Siedler in der Westbank, davon ein Großteil in Jerusalem und im Umkreis von Bethlehem. "Diese Siedlungen sind nach internationalem Recht illegal. Doch keiner der Siedler hat wirklich das Gefühl, das er hier vielleicht fehl am Platz ist", sagt Godfrey-Goldstein und zeigt auf große weiße Häuser, vor denen Wäscheleinen hängen. Die Siedlung Gilo liegt genau gegenüber von Beit Jalla, einem Stadtteil Bethlehems mit hohem christlichem Bevölkerungsanteil und der deutsch-evangelischen Schule Talitha Kumi.
Sieben besonders gefährdete Orte
Die ökumenischen Begleiter unterstützen israelische Menschenrechtler wie Godfrey-Goldstein ebenso wie palästinensische Friedensaktivisten und Organisationen in ihrem Vorhaben, die israelische Besatzung auf friedliche Weise zu beenden. Sie begleiten und dokumentieren Demonstrationen in palästinensischen Dörfern, deren Bewohner aufgrund des israelischen Mauerbaus Land- und Ackerflächen verlieren. Sie werden gerufen, wenn jüdische Siedler Olivenbäume abbrennen und palästinensische Bewohner bedrohen. Oder wenn das Haus einer Familie in der Westbank von Bulldozern zerstört wird. Inzwischen gibt es sieben Orte, an denen die ökumenischen Begleiter tätig sind. Diese Orte gelten als besonders gefährdet, weil dort die meisten Menschenrechtsverletzungen und Landraube passieren.
Gisela Cardozo (27) aus Argentinien ist Politikwissenschaftlerin in Buenos Aires. In Bethlehem begleitet sie Palästinenser sicher über den Checkpoint. Foto: Liva Haensel
Darunter fällt die Stadt Hebron, in deren Altstadt militante Siedler leben und die deshalb für die palästinensische Bevölkerung gesperrt wurde. Außerdem leben ökumenische Begleiter, darunter auch viele Pfarrer, im Dorf Yanoun im Norden der Westbank, das 2003 von Siedlern überfallen wurde. Die arabischen Bewohner konnten damals nur deshalb in ihre Häuser zurückkehren, weil ökumenische Begleiter 24 Stunden mit ihnen im Dorf leben und sie so vor Übergriffen schützen.
"Dass es EAPPI nach zehn Jahren immer noch gibt, ist auch ein Zeichen dafür, dass wir hier leider immer noch gebraucht werden", sagt Katariina Stewart, Programmkoordinatorin von EAPPI in Jerusalem. Denn die Besatzung halte immer noch an, fügt die finnische Pastorin hinzu. "In diesem Konflikt nehmen wir keine der beiden Seiten ein und wir diskriminieren niemanden. Aber wir sind nicht neutral, wenn es um die Menschenwürde und das Internationale Recht bezüglich aller Menschen geht", lautet das Credo des ÖRK für das EAPPI-Programm. In diesem Sinne haben Gisela Cardozo und Bibi Haggstrom die Aufgabe, den Checkpoint 300 in Bethlehem viermal pro Woche zu beobachten, die passierenden Menschen zu zählen und alles, was sie sehen, zu dokumentieren. Alle Zahlen und Notizen fließen in die Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen ein, darunter auch mehrere Unterorganisationen der Vereinten Nationen.
"Gott schütze dich" am Drehkreuz
An diesem Morgen bewegt sich die Schlange der wartenden Menschen in den engen Gängen kaum. Die Männer drängeln, viele von ihnen haben sich ihr Frühstück noch in eine Plastiktüte gesteckt, bevor sie ihr Zuhause um 3 Uhr morgens verlassen haben. Wer zur Arbeit nach Israel muss, hat es eilig und steht in der Hauptschlange. Frauen, Kinder, Ältere und Kranke stehen in der sogenannten "Humanitarian Lane" an, der "menschenfreundlichen" Schlange. "Manchmal funktionieren die Drehkreuze nicht richtig oder die Soldaten haben keine Lust, die Palästinenser durchzulassen und brüllen sie an", berichtet Bibi Haggstrom. Dann seien die ökumenischen Begleiter gefragt.
Nach zehn Minuten Wartezeit, in der das Drehkreuz nicht einmal geöffnet wurde, hinter dem 300 Menschen warten, entscheidet sich die Schwedin, tätig zu werden. "Entschuldigen Sie, gibt es ein technisches Problem?", fragt sie den jungen Soldaten freundlich. Dieser winkt genervt ab, stellt sein Smartphone aus, auf dem er eben noch eine israelische Talkshow angeguckt hatte und klickt auf einen Schalter. Ein schnarrender Piepton ist zu hören, dann gibt es grünes Licht. Mann für Mann reiht sich ein. "Wenn die Männer durch sind, kann man an ihrem Gesichtern ablesen, wie glücklich sie sind", sagt Bibi Haggstrom.
Doch das erste Drehkreuz ist nur eines von mehreren Hindernissen auf dem Weg nach Israel. Gisela Cardozo ruft unten im Terminal den diensthabenden israelischen Offizier an. Sie zählt 300 Männer in der Halle, doch keine der nächsten Drehkreuze ist geöffnet. An den Schaltern, an denen die Soldaten die Papiere der Palästinenser kontrollieren, bewegt sich nichts. "Es ist eine zermürbende Prozedur hier am Checkpoint", sagt die Wissenschaftlerin, die jetzt auch in der Sonne von Buenos Aires sitzen könnte. "Aber dass wir hier sind, präsent für die Menschen, das macht Sinn." Ein Mann rennt an ihr vorbei, er ist einer von 3.000 an diesem Bethlehemer Morgen. Grünes Licht am Drehkreuz. Er lacht sie an, heute wird er pünktlich bei seiner Arbeit ankommen. "Schukran - danke", sagt er auf arabisch. Und fügt dann hinzu: "God bless you – Gott schütze Dich."
Liva Haensel ist freie Journalistin aus Berlin und arbeitet bis Ende Februar selbst als ökumenische Begleitperson in Bethlehem. In ihrem Blog schreibt sie über ihre Erlebnisse.