Eine Bank, eine Thermoskanne mit heißem Tee, ein Tablett mit Tassen und eine Keksdose: Mehr braucht Pastor Holger Gehrke nicht, wenn er sich auf seine regelmäßige "Sprechstunde" auf dem kirchlichen Friedhof im Bremer Westen vorbereitet. Seit einigen Monaten ist der evangelische Theologe verlässlich an dem Ort ansprechbar, der wohl wie kein anderer für die Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer steht. Denn: "Bei der Grabpflege kommen die Sinnfragen ganz automatisch."
Unterbrochene Trauerprozesse, verdrängte Wut
"Wer auf den Friedhof geht, will seinen Verstorbenen nahe sein, hat oft das Bedürfnis, für einen lieben Menschen irgendetwas zu tun, wo wir als Menschen nichts mehr tun können", weiß der Gemeindepastor. Bei seinen ungewöhnlichen Seelsorge-Terminen unter freiem Himmel hat er erfahren, dass oft das ein Thema ist, was Angehörige dem Verstorbenen gerne noch gesagt oder was sie noch gefragt hätten.
Da geht es um unterbrochene Trauerprozesse, die verdrängte Wut darüber, dass der Partner gerade in dem Moment gestorben ist, als seine Ehefrau zur Apotheke gegangen ist. Um die Gefühle der Spätaussiedlerin, die nach dem frühen Tod des Mannes verlassen und fremd in der neuen Heimat leben muss. Aber auch ganz praktische Fragen rund um die Bestattung und die Gestaltung von Trauerfeiern kommen zur Sprache.
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Gehrke begegnet auf der Bank Menschen, die mit offenen seelischen Wunden und vielen Fragen, aber auch mit Lebenserfahrung kommen. So entwickeln sich zuweilen tiefschürfende Gespräche, wenn er sich freitags zwischen 15 und 16 Uhr auf die Bank zwischen den Gräbern des evangelischen Friedhofs an der Oslebshauser Kirche setzt. "Da sein und erleben, wer und was kommt" - das ist sein Konzept. Die Runde ist offen, auch wenn Stammgäste regelmäßig da sind.
Das verlässliche Angebot ist wichtig
Der Pastor spricht Friedhofsgäste manchmal direkt an und fragt sie, ob sie sich nicht auf eine Tasse Tee zu ihm setzen wollen. "Daraufhin höre ich meist: 'Klar, wieso nicht?' Dann wird schnell die Heide auf dem Grab gepflanzt und danach kommt man auf einen Plausch vorbei." Wenn mal niemand da ist, hat der Pastor ein Buch dabei. "Doch das passiert selten, meist habe ich Gäste neben mir auf der Bank", erzählt Gehrke.
Mancher, der sich vielleicht nicht unbedingt in eine Trauer-Selbsthilfegruppe wagen würde, findet so eine Gesprächsmöglichkeit. "Jeder entscheidet selbst, ob er über die schlechte Rosenqualität, seine Stiefmütterchen oder über Tiefergehendes reden möchte." Das verlässliche Angebot ist wichtig. Wenn der Pastor mal verhindert ist, klebt er einen Zettel an die Bank.
"Dort ruhen nicht nur die Toten. Dort versammeln sich auch die Lebenden"
Dort kommen dann auch Friedhofsbesucher untereinander ins Gespräch, was so weit führen kann, dass sie sich gegenseitig helfen. Gehrke erinnert sich an den Mann, der auf der Bank eine Besucherin kennenlernte, die sich dann während seiner Kur um das Grab der gestorbenen Ehefrau gekümmert hat.
Gerade auf dem Friedhof brechen viele Gefühle auf. Das reicht von der Trauer bis zur Dankbarkeit für die gemeinsame Lebenszeit, die Menschen miteinander verbracht haben. "Viele wünschen sich, darüber reden zu können, denn sie kommen nicht nur, um die Blumen zu erneuern", bilanziert Gehrke, der in der kalten Jahreszeit seine "Sprechstunde" ins warme Gemeindehaus verlagert. Für ihn steht fest: Die Kirche muss auf dem Friedhof mehr machen, als nur Menschen zu bestatten. "Dort ruhen nicht nur die Toten. Dort versammeln sich auch die Lebenden, für die wir da sein müssen."