Mit einem mehrmonatigem Jubiläumsprogramm begeht die evangelische Kirche in Berlin vom 2. Oktober an den Geburtstag eines ihrer markantesten Denkmäler. Magisch zog die Gedächtniskirche mehr oder weniger freundlich gemeinte Spitznamen an. Während im Ostteil der Stadt die SED despektierlich von "Kirchenfabrik" und "Bibelschuppen" sprach, ließ sich der West-Berliner Volksmund nicht lumpen und nannte sie "Taufhaus des Westens" oder "blaue Grotte".
Die charakteristische Wabenfassade des achteckigen Schiffs und des modernen Glockenturms besteht aus Glasbausteinen, deren Lichteinfall dem Inneren eine mystische Aura verleihen. Daneben steht der halb zerstörte alte Turm, der "hohle Zahn", wie ihn die Nachkriegs-Berliner schnell nannten. Nach dem Abbruch des 1943 von Bomben schwer getroffenen Schiffs ist er seit Mitte der 50er Jahre das einzige Relikt, das an die ursprüngliche, 1895 errichtete Gedächtniskirche erinnert. Das Ensemble aus beiden Türmen und dem Achteck steht nach Worten des Berliner Bischofs Markus Dröge wie keine andere Berliner Kirche für Frieden und Versöhnung: "Sie ist Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung."
Deabtte über den Wiederaufbau
Heute völlig vergessen ist, dass dem Neubau der Kirche eine der kontroversesten Architekturdebatten der Nachkriegszeit voranging. Im Mittelpunkt stand schon damals anfänglich die Frage, inwieweit eine im Krieg zerstörte Kirche wieder aufgebaut werden sollte. Die Parallelität zu den Debatten, wie sie nach der deutschen Vereinigung in Berlin und andernorts um die Wiedererrichtung von verschwundenen Kirchen und Schlössern geführt wurde, ist augenfällig.
"Ein Wiederaufbau der Kirche in der alten, völlig insularen Stellung" komme "unter keinen Umständen in Betracht", erteilte der Berliner Magistrat bereits 1949 allen gegenteiligen Plänen eine Absage. Aus historischen Gründen gehörte das Grundstück der kaum noch vorhandenen Gedächtniskirche dem Staat - und der wollte damals das wieder aufstrebende Geschäftszentrum West-Berlins lieber autogerecht ausbauen. "Nach Grundsätzen des modernen Städtebaus" dürfte es sich "vielmehr empfehlen, sie ganz am Rande eines solches Gebietes aufzustellen".
Um dem Wiederaufbau einen Riegel vorzuschieben, verweigerte Berlins damaliger Landesdenkmalpfleger, der als Vertreter der Bauhaus-Architektur auch gerne einer zeitgemäßen Formensprache den Vorzug geben wollte, den Ruinen der Gedächtniskirche sogar den Eintrag in die Denkmalliste. Bei den Berlinern, die für den Wiederaufbau bereits gespendet hatten, stieß diese Position auf Entsetzen. Und auch die evangelische Kirche war damit überhaupt nicht einverstanden.
West-Berliner wollten den "hohlen Zahn" behalten
Generalsuperintendent Gerhard Jacobi beauftragte im Alleingang ausgerechnet den Erbauer des in der NS-Zeit errichteten Olympiastadions, Werner March, mit einem Entwurf. Dieser sah vor, die vorhandenen Ruinenreste mit einem parabelförmigen Schiff zu verbinden, wobei die Betonhülle verblendet werden sollte mit noch vorhandenen Steinen des Kaiserreich-Baus.
Bei dem dann doch noch zustandegekommenen Architektenwettbewerb setzte sich schließlich im März 1957 der Entwurf des Karlsruher Architekten Egon Eiermann durch, der einen Abriss des Turms als letztem Rest der ursprünglichen Gedächtniskirche vorsah. Gegen die schnell vom Volksmund als "Eierkiste" verspotteten Pläne brach innerhalb von nur fünf Tagen ein Sturm der Entrüstung los. Die West-Berliner hatten den "hohlen Zahn" offenbar mittlerweile zu sehr ins Herz geschlossen. Allein bei einer einzigen Tageszeitung gingen 47.000 Protestbriefe ein, der Regierende Bürgermeister Otto Suhr (SPD) hielt gar eine Rundfunkansprache.
Nur wenige Monate später wurden die Pläne korrigiert und der Turm konnte stehen bleiben. Architekt Eiermann resümierte resigniert: "Ich lasse den alten Turm stehen, wie er ist; ich tue nichts an ihm. Ich erwecke ihn nicht zu neuem Leben. Er ist tot...." Wegen des alten Turms konnte die neue Kirche bei weitem nicht so groß ausfallen wie ursprünglich geplant. Insbesondere der damalige Berliner Bischof Otto Dibelius hatte sich für die von Kaiser Wilhelm II. eingeweihte Kirche einen monumentalen Nachfolgebau gewünscht, der "die große Zeit der Nation" fortleben lassen sollte. "Höfisch" ist bis heute das Glockenspiel. Es wurde vom 1994 gestorbenen Hohenzollern-Chef, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, höchstpersönlich komponiert.