Unterdessen diskutiert das Land vor allem eines: Wer sind die Menschen, die für kriegsartige Szenen in Großbritannien sorgen und was treibt sie an? Warum zünden Menschen Häuser ihrer eigenen Wohngebiete an, plündern Geschäfte und Restaurants und versetzen ihre eigene Nachbarschaft in Schutt und Asche? Schon jetzt ist klar, dass es darauf keine einfache Antwort gibt.
Mit einem Polizeiopfer fing alles an
Der Tod von Mark Duggan, einem Mann aus dem Nord-Londoner Stadtteil Tottenham, hatte das Chaos auf Großbritanniens Straßen ausgelöst. Der schwarze Familienvater war vergangene Woche von der Polizei erschossen worden. Die genauen Umstände sind noch nicht ganz geklärt. Zuerst hieß es, Duggan habe auf die Polizei geschossen, doch die unabhängige Untersuchungskommission hat unterdessen ermittelt, dass aus seiner Waffe wohl nicht geschossen wurde.
Kurz nach seinem Tod demonstrierten seine Familie und Freunde friedlich vor einer Polizeiwache in Tottenham. Sie forderten, der Familie endlich zu sagen, was genau passiert ist und warum Mark Duggan sterben musste. Doch die friedliche Demonstration schlug um in Hass und Gewalt, die bis jetzt kein Ende gefunden hat und sich wie ein Lauffeuer zuerst in London, inzwischen auch in anderen Teilen des Landes verbreitet hat.
Premierminister David Cameron spricht von "purer Kriminalität" als Ursache für die Ausschreitungen. Und tatsächlich: Die TV-Bilder zeigen, wie Menschen gewaltsam Sportläden ausräumen, teure Flachbildfernseher aus zerstörten Elektronikmärkten tragen und andere sich brüsten, gerade Reis bei Aldi geklaut zu haben. Es fällt schwer, eine politische Komponente in dem Chaos zu erkennen.
"Es geht um Gerechtigkeit"
Einer der Ersten, der vor die Kameras der versammelten Medien trat, war Nims Obunge, Pastor der Freedom's Ark Church in Tottenham. "Es geht hier um Gerechtigkeit", rief der Geistliche aufgebracht. Er ist seit Jahren um die Rehabilitation straffällig gewordener Jugendlicher bemüht und setzt sich für benachteiligte Menschen in Tottenham ein. Obunge forderte schon kurz nach Beginn der Ausschreitungen, die Polizei solle endlich Fragen zu dem Fall beantworten. Zudem solle die Politik endlich aufhören, ganze Teile der Bevölkerung zu ignorieren.
"Wir wollen der Polizei zeigen, dass wir tun können, was wir wollen", antworteten zwei junge Frauen auf die Frage einer BBC-Reporterin, warum sie Läden plündern. Schon in den vergangenen Jahren war das Verhältnis zwischen den Ordnungskräften und der nicht-weißen Bevölkerung immer wieder diskutiert worden. Im Zuge der neuen Anti-Terrormassnahmen wurden immer mehr Menschen auf der Straße angehalten und durchsucht.
"Stop and Search" wird die Maßnahme genannt, bei der Polizisten ohne Grund Bürger anhalten und durchsuchen dürfen. Mehrere Studien belegen, dass schwarze Menschen viel häufiger angehalten werden als weiße Passanten. Das führt auch Darcus Howe an, ein älterer Herr, der vor einer der Ruinen im Stadtteil Croydon steht und von der BBC interviewt wird. Der schwarze Brite erzählt, er habe seinen Enkel gefragt, wie oft er bereits von der Polizei angehalten und durchsucht wurde. "Ich kann es nicht mehr zählen", habe sein Enkel gesagt.
Sozialarbeiter vor Gericht
Londons ehemaliger Bürgermeister Ken Livingstone von der Labour-Partei macht ebenfalls soziale Probleme für die Ausschreitungen verantwortlich. Viele Jugendliche seien sehr unsicher, was ihre Zukunft angeht, Politiker hätten den Zugang zu ihnen verloren. Dennoch scheint auch das nur ein Teil der Wahrheit zu sein. Die ersten Plünderer sind bereits angeklagt, aber längst nicht alle sind jugendlich, schwarz und ohne Job. Selbst ein Sozialarbeiter musste sich bereits vor Gericht verantworten.
"Wir können jetzt sagen, das sind alles Kriminelle", sagt Ken Livingstone. "Aber dann haben wir im nächsten Sommer die gleichen Ausschreitungen wieder." Perspektivlosigkeit nennen die meisten Menschen, wenn man sie nach den Ursachen fragt.
Hinzu kommen massive Einsparungen in den Gemeinden, nicht zuletzt bei der Jugendarbeit und bei Sozialprojekten, nachdem die konservative Regierung einen radikalen Sparkurs eingeschlagen hat, um die Staatsschulden zu reduzieren. Die Gemeinde Haringey, zu der Tottenham gehört, hat gerade acht von 13 Jugendclubs geschlossen. Noch eine Woche vor Beginn der Ausschreitungen sagte ein Jugendlicher in einem Video auf der Internetseite der Zeitung "The Guardian": "Das wird Krawall geben, wenn sie die Clubs schließen."
Christiane Link ist in Mainz geboren und arbeitet in London als Herausgeberin der deutschsprachigen Zeitung "The German Link". Daneben betreibt sie ihr Blog mit dem Titel "Behindertenparkplatz".