Gericht stoppt Verstümmelung von Transsexuellen

Gericht stoppt Verstümmelung von Transsexuellen
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Transsexuelle Menschen müssen sich ab sofort nicht mehr operieren lassen, um den Personenstand ändern zu dürfen. Doch warum hat das so lange gedauert?
01.02.2011
Von Thomas Östreicher

"Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." - Grundgesetz Artikel 2, Absatz 2

Wer sich mit den Rechtsbestimmungen bezüglich Transsexueller beschäftigt, betritt wie meist in juristischen Dingen staubiges Terrain. Doch das Thema birgt Empörungspotenzial - und beginnt mit einer nüchternen Agenturnachricht vor wenigen Tagen: "Transsexuelle Menschen dürfen auch ohne eine operative Anpassung ihres Geschlechts eine Lebenspartnerschaft eingehen", hieß es beim epd. Und weiter: "Anderslautende Vorschriften im Transsexuellengesetz sind verfassungswidrig und dürfen ab sofort nicht mehr angewendet werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem vergangene Woche in Karlsruhe veröffentlichten Beschluss (AZ: 1 BvR 3295/07)." 

Die harmlose Meldung kommt für Betroffene einem Erdbeben gleich. Konnten sie doch nach bisher geltendem Recht weder heiraten noch eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eingehen - es sei denn, sie waren dazu bereit, sich operativ verstümmeln zu lassen. Was nach archaischem Ritual, überkommenen Vorstellungen oder schlicht Barbarei klingt, ist in seiner Grausamkeit nur mit der gewaltsamen Klitorisbeschneidung afrikanischer Mädchen vergleichbar - und das mitten im aufgeklärten, zivilisierten Deutschland.

Tatsächlich hat der Gesetzgeber vor die "Änderung des Personenstands", wie es im Amtsdeutsch heißt, erhebliche Hürden gesetzt. Die wichtigsten sind die beiden verlangten ärztlichen bzw. psychologischen Gutachten über das Empfinden der Betroffenen und den "inneren Zwang, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben" sowie die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird. Das soll ein beliebiges Wechseln des Personenstands verhindern - ohne dass klar ist, welcher Schaden dadurch entstünde.

Eindeutigkeit als höchstes Gut

Das Transsexuellengesetz (TSG), im Volltext "Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen" betitelt, konkretisiert: Antragsteller/innen dürfen nicht verheiratet sein, müssen dauerhaft unfruchtbar sein sowie sich einer Operation unterzogen haben, die das Erscheinungsbild der äußeren Geschlechtsmerkmale ändert. Doch bereits im Juli 2008 verwarf das Bundesverfassungsgericht die zwingende Voraussetzung der Ehelosigkeit als verfassungswidrig. Geklagt hatte eine Transsexuelle, die zur rechtlichen Anerkennung ihres Geschlechts ihre seit 56 Jahren bestehende Ehe scheiden lassen sollte. Laut Verfassungsgericht unzumutbar. 

Geblieben ist das Verlangen des Staates nach Eindeutigkeit, auch was zweigeschlechtlich geborene Kinder oder erwachsene "Transidente" angeht, die sich als zwischen den Geschlechtern angesiedelt erleben. Ein Offenhalten des Geschlechts, bis sich der heranwachsende Mensch eindeutig zuzuordnen in der Lage ist, ist hierzulande nicht vorgesehen - und erst recht kein "intersexueller" Status zwischen Mann und Frau. Das würde vermutlich schlicht die Verwaltung überfordern und zum Entsetzen der Verwaltungen womöglich Tausende neuer Formulare mit einem dritten anzukreuzenden Kästchen nötig machen.

Der Zwang zur Eindeutigkeit bringt freilich manche Zumutungen mit sich. Nach geltendem Recht kann nämlich bislang eine Lebenspartnerschaft nur zwischen gleichgeschlechtlichen Personen eingegangen werden (übrigens auch nicht zwischen einer Frau und einem Mann). Die fatale Logik, die daraus folgt: Transsexuelle Menschen müssen als Voraussetzung für eine Lebenspartnerschaft ihr Geschlecht operativ so anpassen, dass es identisch mit dem ihres Partners ist: Männer müssen sich die Hoden und Frauen sich die Eierstöcke entfernen lassen - bislang. 

"Unzumutbare Anforderungen"

2011 ist es wieder eine ältere Frau, die mit ihrer Klage dagegen vor Gericht Erfolg hat. Der Berlinerin wurde die Eingetragene Lebenspartnerschaft mit der Begründung verweigert, sie verfüge noch über die männlichen äußeren Geschlechtsmerkmale, auch wenn sie sich als Frau fühle und ihren männlichen in einen weiblichen Vornamen geändert hat. Außerdem sei sie ja auch weiterhin fortpflanzungsfähig, argumentierte das zuständige Standesamt. Die Beschwerdeführerin hielt dagegen, sie könne wegen ihres Alters nicht mehr operiert werden. 

Das Bundesverfassungsgericht gab ihr Recht und schaffte nun Fakten, was der Gesetzgeber sich bisher nicht traute. Die Richter stellten klar, dass mit den bestehenden Regelungen die Rechte Transsexueller auf sexuelle Selbstbestimmung und auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden. Der Gesetzgeber verlange - nach dem früheren Scheidungszwang - mit dem Nachweis der geschlechtsumwandelnden Operation erneut eine unzumutbare Anforderung. Die Karlsruher Richter betonten zudem, dass ein Eingriff ohne medizinische Notwendigkeit nicht verlangt werden dürfe.

Gruppen wie die Vereinigung "Menschenrecht und Transsexualität" weisen seit langem darauf hin, wie sehr die deutschen Regelungen internationalen Menschenrechten widersprechen. Bis zur jüngsten Verfassungsgerichtsentscheidung fühlte man sich zudem fatal an die Zwangssterilisationen etwa von Behinderten, Sinti und anderen "Lebensunwerten" unter der Naziherrschaft erinnert - die der Bundestag erst Ende der 1980er Jahre rehabilitierte und, sofern sie ihre Torturen überlebt hatten, mager entschädigte. 

Störung der Geschlechtsidentität?

Die grausamsten Vorschriften des Transsexuellengesetzes fallen also, und womöglich strebt in absehbarer Zeit auch der Gesetzgeber einen menschenfreundlicheren Umgang mit transidenten Personen an. Dennoch wird "Transsexualismus" in der "Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme" (ICD-10-Liste) der Weltgesundheitsorganisation noch immer als "Störung der Geschlechtsidentität" geführt.

Dabei basiert diese Geschlechtsidentität eben nicht nur auf körperlichen Merkmalen, sie hängt auch nicht zwingend von der genetischen Ausstattung ab, sondern wesentlich vom eigenen Empfinden und der Psyche. Manchmal stehen diese Faktoren im scheinbaren Widerspruch zueinander, für die Betreffenden wie auch für ihre Umwelt. So wie etwa ein ohne Hände geborener Mensch nicht von sich aus das Gefühl hat, "falsch" zu sein und sich schon deswegen vehement gegen diese Zuschreibung wehrt.

Transsexuelle und Transidente (Menschen zwischen den Geschlechtern) haben dasselbe Recht auf Selbstbestimmung und Nicht-Diskriminierung wie alle anderen; eigentlich eine Selbstverständlichkeit, auch wenn sich daraus Umständlichkeiten für Verwaltungsapparate ergeben sollten.

Man könnte auch sagen: Gott hat sie so geschaffen. 

mit Material von epd

Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.