Tunesien: Urlauber aus dem Krisengebiet ausgeflogen

Tunesien: Urlauber aus dem Krisengebiet ausgeflogen
Nach der Ernennung des neuen Übergangspräsidenten Foued Mbazaa hoffen die Menschen in Tunesien auf eine Beruhigung der Lage. In der Nacht waren in der Hauptstadt wieder Schüsse zu hören. Tausende deutsche Urlauber wurden inzwischen von den Reiseveranstaltern aus dem Krisenland ausgeflogen.

Bei ihrer Heimkehr berichteten sie von Verwüstungen und Plünderungen. "Wir sind froh, dass wir raus sind", meinte Robert Flanigan (69) aus Cloppenburg, nachdem er mit seiner Frau am Samstagabend in Hannover gelandet war. "Ich habe Angst gehabt", sagte auch Mbarka Khamassi aus Baden-Württemberg nach ihrer Ankunft in Stuttgart. Andere Touristen wurden hingegen von der überstürzten Abreise überrascht, weil sie in ihren Urlaubsanlagen von den blutigen Protesten und dem politischen Chaos nichts mitbekommen hatten.

Mbazza (77) war am Samstag vom Verfassungsrat in Tunis als zweiter Übergangspräsident binnen 24 Stunden ernannt worden. Zunächst hatte Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi die Amtsgeschäfte des am Freitag außer Landes geflohenen Ex-Machthabers Zine el Abidine Ben Ali übernommen. Ben Ali hatte Tunesien 23 Jahre in autoritärer Herrschaft regiert. Nach wochenlangen Protesten gegen Korruption und Arbeitslosigkeit, die sich zuletzt zu einem Volksaufstand ausgeweitet hatten, setzte er sich ins saudi-arabische Exil ab.

Opposition braucht Zeit vor einer Wahl

Mbazaa soll nun Neuwahlen vorbereiten. Er forderte zudem Ghannouchi auf, einen Vorschlag für eine Regierung der nationalen Einheit zu unterbreiten, in die auch Oppositionskräfte eingebunden werden sollen.

Die Aussicht auf baldige Neuwahlen ist für manche Tunesier allerdings auch Anlass zu Sorge. "Wenn jetzt schnell eine Wahl organisiert wird, kann die Opposition sich nicht organisieren", kommentierte der 25-jährige Elias Nefzaoui am Sonntagabend in Tunis. Tunesien sei Demokratie nicht gewohnt, Oppositionspolitiker hätten unter Präsident Ben Ali kaum eine Chance gehabt, bekanntzuwerden und ihr Programm vorzustellen. "Wenn wir zu früh wählen, kommen wieder Leute aus dem alten System an die Macht", so Nefzaoui.

In Tunis waren in der Nacht zum Sonntag trotz des weiter geltenden Ausnahmezustandes und einer Ausgangssperre erneut Schüsse zu hören. Tunesische Journalisten vermuteten, dass die Armee gegen die Mitglieder der Leibgarde Ben Alis vorgeht. Eine Bestätigung dafür gab es zunächst aber nicht. Die Situation sei immer noch völlig unübersichtlich, hieß es.

Auch von möglichen ersten Lynchjustiz-Fällen wird berichtet. Hintergrund ist der gewaltsame Tod von Imed Trabelsi. Der als Symbol für Korruption und andere krumme Machenschaften geltende Geschäftsmann wurde am Freitag von Unbekannten erstochen, berichtete der tunesische Privatsender nessma tv in der Nacht zum Sonntag. Er war der Neffe von Ben Alis Frau Leila.

Deutscher Fotograf tödlich verletzt

Ein bei den Unruhen in Tunesien schwer verletzter deutsch-französischer Fotograf ist gestorben. Der 32 Jahre alte Lucas Mebrouk Dolega sei in einem Krankenhaus in Tunis seinen Verletzungen erlegen, teilte die european pressphoto agency (epa) am Sonntag in Frankfurt am Main mit. Der Reporter war am Freitag während der Ausschreitungen aus nächster Nähe von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden.

Dolega fotografierte in Tunesien für die european pressphoto agency (epa) und hatte neben der deutschen auch die französische Staatsbürgerschaft. Er ist der zweite ausländische Journalist, der bislang bei den Unruhen verletzt wurde. Zuvor hatte ein US-Fotograf einen Schuss am Bein abbekommen.

Wegen der nächtlichen Ausgangssperre saßen hunderte Menschen am Samstagabend am Flughafen von Tunis fest. "Die Lage ist angespannt, niemand darf den Flughafen verlassen", sagte ein Soldat. Den Restaurants ging das Essen aus, es bildeten sich lange Schlangen, um die letzten Chips und Kekse zu kaufen. Überall bildeten sich kleine Lager, Reisende versuchten, auf dem Boden zu schlafen und deckten sich mit Kleidungsstücken zu.

Forscher: Westen verschloss Augen vor Unrecht 

Der Westen hat das Regime in Tunesien nach Ansicht des deutschen Arabistikprofessors Marco Schöller für eigene Vorteile zu lange gestützt. "Es passt den westlichen Staaten gut ins Konzept, dass die arabischen Mittelmeeranrainer vermeintliche oder tatsächliche islamistische Terroristen mit Methoden bekämpfen, die in Europa politisch nicht durchsetzbar sind", kritisierte der Professor vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster am Wochenende in einem eigenen Artikel auf der Website der Hochschule.

Dies gelte auch für die Flüchtlingspolitik. Europa habe davon profitiert, "dass sich diese Staaten dazu verpflichtet haben, afrikanische Flüchtlinge zu internieren und in ihr Elend zurückzuschicken, bevor es diesen gelingt, ihren Fuß auf europäischen Boden zu setzen".

Billigland am Mittelmeer

Tunesien und Ägypten seien in Europa traditionell beliebt, weil Firmen investieren könnten, heißt es weiter. Vor allem im Tourismus gehe es für die Wirtschaft um ein großes Geschäft: "Tunesien ist eines der absoluten Billigländer am Mittelmeer. Dass sich das nur mit wirtschaftlichen Nachteilen für die Bevölkerung und einem Verzicht auf Besserung der Lebensverhältnisse bewerkstelligen ließ, machte bisher nur wenigen Kopfzerbrechen", so Schöller. "Jetzt brennen in Hammamet, Sousse und Mahdia - bekannt aus Reisekatalogen und Last-Minute-Angeboten - Häuser und Straßensperren."

Schöller warnte in seinem Aufsatz: "Wirtschaftlich erleben die genannten arabischen Länder seit vielen Jahren eine Abwärtsentwicklung, die sehr wenige immer reicher macht, einen großen Teil der Bevölkerung immer ärmer und perspektivlos." Der Forscher lehrt am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft in Münster.  

dpa