Ungarn und das rote Gift: "Es ist immer wieder dasselbe"

Ungarn und das rote Gift: "Es ist immer wieder dasselbe"
Vier Tote, mehr als 120 Verletzte, Verwüstungen in fünf Ortschaften: Eine Million Kubikmeter ätzender Industrieschlamm aus einer ungarischen Aluminiumhütte ergossen sich aus einem geborstenen Speicher. Die giftige Masse löste ein ökologisches Desaster aus.

Es ist die bisher schlimmste Umweltkatastrophe in Ungarn: Eine Lawine aus ätzendem Bauxitschlamm aus einer Aluminiumhütte hat im Westen des Landes mehrere Orte überschwemmt und vier Menschen in den Tod gerissen. Unter den Toten in dem Dorf Kolontar waren zwei Kleinkinder, bestätigten die Behörden am Dienstag. Mehr als Hundert Menschen wurden zumeist mit Verätzungen in Krankenhäuser gebracht. Die Rettungskräfte suchten noch nach fünf Vermissten. Umweltschützer warnten vor Gesundheitsgefahren und vor Verschmutzung des Trinkwassers.

Innenminister Sandor Pinter erklärte am Dienstagnachmittag jedoch, die unmittelbare Gefahr sei abgewendet. Die betroffene Firma wollte bisher keine Verantwortung übernehmen. Die Regierung rief für inzwischen fünf der 19 ungarischen Bezirke den Notstand aus.

Den Helfern bot sich in den betroffenen fünf Ortschaften ein Bild der Verwüstung. In Kolontar und der benachbarten Kleinstadt Devecser stand der rote natronlaugehaltige Bauxitschlamm meterhoch. Die Schlammlawine begrub Hunderte Häuser, Autos und Gärten unter sich.

Das große Brodeln

Tote Fische aus dem Fluss Marcal wurden an die Ufer geschwemmt. "Ich finde keine Worte dafür", zitierte das Internetportal "nol.hu" einen 25-jährigen Augenzeugen. "Ich rannte auf den Kirchhügel und musste zusehen, wie die Flut einfach mein Auto verschlang." Das "unheimliche, brodelnde Geräusch" der Lawine werde er nie vergessen, sagte er.

Bis Dienstagmittag traten eine Million Kubikmeter Schlamm aus, sagte der ungarische Umweltstaatssekretär Zoltan Illes. Innenminister Pinter gab indes Entwarnung: "Die unmittelbare Gefahr ist vorbei", sagte der Politiker im Anschluss an eine Sitzung des Katastrophenschutz-Komitees in Kolontar. "Die Arbeit konzentriert sich auf die Schadensaufnahme und -behebung." Die Einsatzkräfte seien dabei, den in dem beschädigten Speicher verbliebenen Bauxitschlamm abzusaugen.

Zu der Chemiekatastrophe kam es, nachdem am Montag aus bisher ungeklärten Gründen ein Bauxitschlamm-Speicher der Aluminiumhütte MAL AG geborsten war. Die giftige Masse strömte in einen Bach und vermengte sich mit dem Hochwasser, das schon seit mehreren Tagen die Gegend heimsucht.

"Alle Vorschriften beachtet"?

Die Lawine überschwemmte den Ort Kolontar und richtete in vier benachbarten Ortschaften Schäden an. 400 Menschen mussten in Sicherheit gebracht werden. Umweltstaatssekretär Illes, der am Vormittag am Katastrophenort eingetroffen war, entzog der MAL- Aluminiumhütte umgehend die Betriebsgenehmigung. Die Unternehmungsführung wies aber jede Verantwortung von sich. "Wir arbeiten unter Einhaltung aller Regeln und Vorschriften", erklärte der MAL-Geschäftsführer Zoltan Bakonyi. Vor dem roten Schlamm brauche "sich niemand zu fürchten", dieser sei "völlig ungefährlich", fügte er hinzu.

Umweltschutzorganisation widersprachen dieser Darstellung heftig. "Der Rotschlamm lagert sich ab und verwüstet so landschaftliche Flächen vor Ort", sagte Zsolt Szegfalvi, Leiter des Greenpeace-Büros in Ungarn. Der Wind könne den getrockneten Schlamm bis zu 15 Kilometer weit wehen.

Die ätzende laugen- und schwermetallhaltige Substanz könne Haut und Augen verletzen, stellte die ungarische Umweltorganisation Levegö Munkacsoport (Arbeitsgemeinschaft Saubere Luft) fest. Dringt der Schlamm ins Grundwasser, würden Schwermetalle in Trinkwasser und Nutzpflanzen gelangen. Deren Genuss könne dann schwere Gesundheitsschäden verursachen.

Mangelnder Umweltschutz in Osteuropa

Die Katastrophe lenkte das Augenmerk auf den immer noch vernachlässigten Umweltschutz in Mittel- und Osteuropa. Im Januar 2000 war im nordwestrumänischen Baia Mare, unweit der ungarischen Grenze, ein Reservoir mit zyanidhaltigem Klärschlamm aus einem Goldbergwerk geborsten. Die Giftwelle hatte im ungarischen und serbischen Abschnitt der Theiß ein massives Fischsterben ausgelöst.

Der Bauxitschlamm in Kolontar wird - wie der Klärschlamm in Baia Mare - in offenen Speichern gelagert. Der rote Schlamm ist ein Nebenprodukt bei der Erzeugung von Tonerde (Aluminiumoxid), aus der wiederum Aluminium gewonnen wird. Das Aluminiumwerk MAL AG mit der Hütte im westungarischen Ajka und Reservoirs bei Kolontar hatte früher zu einem staatlichen Aluminium-Kombinat gehört und war nach der Wende privatisiert worden.

"Entscheidend ist der menschliche Aspekt"

"Es ist immer wieder dasselbe", kommentiert Jörg Sambeth das Geschehen im Gespräch mit evangelisch.de. Der ehemalige Chemiemanager wurde als einer der Hauptverantwortlichen nach der Chemiekatastrophe 1976 im italienischen Seveso zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, gilt jedoch für viele als Bauernopfer der damaligen Konzernleitung von Hoffmann-La Roche und versucht seitdem in Büchern, Seminaren und bei Veranstaltungen über die strukturellen Gefahren aufzuklären, die von Chemiebetrieben ausgehen.

Menschliches Versagen sei zwar generell nicht auszuschließen, räumt Sambeth ein. "Das können Sie nie vermeiden, dass - bildlich gesprochen - einer am Montag mal eine Dummheit macht", so der 78-Jährige. Doch entscheidend sei der persönliche Spielraum des Einzelnen.

Bei der Sicherheit in der chemischen Industrie gehe es grundsätzlich um zweierlei, sagt Sambeth. "Auf der reglementatorischen Ebene hat sich sehr viel geändert. Die Vorschriften sind sehr viel strenger, die Sicherheitsprotokolle genauer und so weiter. Was sich leider Gottes wenig geändert hat, sind die menschlichen Aspekte. Die Leute gehen nach wie vor Risiken auf sich, aus geschäftlichen Gründen und aus Karrieregründen. Das ist für mich das ganz Schlimme dabei."

"Einer ist immer risikobereit"

Für ihn steht fest: "Die gefährlichsten Leute sitzen in der Managementebene, es sind nicht die Arbeiter in der Fabrik." Die Manager bestimmten den Rahmen und machten Druck, gefährliche Risiken einzugehen nach dem Motto: "'Wenn Sie es nicht machen, hätten wir Kollegen, die dazu bereit wären.' Oder auch: 'Es ist ist 25 Jahre lang gut gegangen, warum soll es nicht morgen auch gut gehen?'"

Der Fall BP zeige das beispielhaft, sagt Jörg Sambeth: "Im Meer bohrt man in mehr als 1000 Metern Tiefe nach Öl und hat keinen Plan dafür, was man tut, wenn das danebengeht. Da gab es nicht nur keinen Plan B, da gab es überhaupt nichts. In Ungarn läuft ein oberirdischer Lagertank aus, und kein Mensch weiß, was zu tun ist."

Der beste Notfallplan helfe darum nicht gegen die Gewissenlosigkeit mancher Entscheidungsträger, findet er: "Wenn die menschliche Ebene nicht funktioniert, können Sie Systeme einrichten, wie Sie wollen."

Ruf nach EU-Hilfe

Inzwischen wurde bekannt, dass Budapest Unterstützung der Europäischen Union (EU) beantragen wird. "Für derartige Fälle hat die EU Fonds, und wir haben einen Anspruch darauf", erklärte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban am Donnerstag bei einem Besuch in der von der roten Schlammlawine verschütteten Ortschaft Kolontar. Der rechtskonservative Regierungschef zeigte sich dort von dem Ausmaß der Katastrophe betroffen. "Hier kann man nicht mehr leben", sagte er in dem am schlimmsten betroffenen Ortsteil.

dpa/thö