Die Wissenschaftler kritisierten die im Januar beschlossene neue Afghanistan-Strategie der Bundesregierung als widersprüchlich. Sie schwanke zwischen Wiederaufbau und der amerikanischen Politik der Aufstandsbekämpfung. Jochen Hippler vom Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden betonte, Entwicklungshilfe dürfe nicht militärischen Zielen untergeordnet werden. Das verändere die entwicklungspolitische Kultur und rücke die Helfer in die Schusslinie.
Als eine Voraussetzung für dauerhaften Frieden in Afghanistan nennen die Friedensforscher Verhandlungen mit den radikal-islamischen Taliban. Keine Konfliktpartei dürfe von vornherein von Friedensverhandlungen ausgeschlossen werden. Dieser Friede habe allerdings seinen Preis. Wenn traditionelle afghanische Machtstrukturen stärker berücksichtigt würden, müssten Abstriche bei Demokratie- und Menschenrechtsstandards gemacht werden.
Fehlender Schutz vor Racheakten
Andreas Heinemann-Grüder vom Bonner Internationalen Konversionszentrum kritisierte zudem das auf der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar beschlossene Reintegrations-Programm für Taliban-Mitläufer. Bislang fehle der Schutz der Mitläufer vor möglichen Racheakten. Hier müsse dringend nachgebessert werden.
Die friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Christine Buchholz, bezeichnete das Gutachten als "schallende Ohrfeige für die Regierung Merkel". Eine Kehrtwende der deutschen Politik in Afghanistan sei dringend geboten. Die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, warnte davor, einen Gegensatz zwischen dem Ziel des dauerhaften Friedens und der Förderung von Demokratie und Menschenrechten zu konstruieren. Eine Zusammenarbeit mit afghanischen Stammesführern sei notwendig. Menschenrechtliche Standards dürften dafür jedoch nicht leichtfertig aufgegeben werden.
Brahms: Ziviler Aufbau muss Vorrang haben
Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Renke Brahms, stimmte der Einschätzung der großen Friedensforschungsinstitute zum deutschen Afghanistan-Engagement zu. "Das bestärkt mich in der Forderung nach einer schonungslosen Bestandsaufnahme", sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Viele Jahre und Chancen für die Entwicklung des Landes wurden verschenkt, weil das Schwergewicht auf einer militärischen Lösung des Konflikts lag." Es fehle ein international abgestimmtes Gesamtkonzept, sagte Brahms. Der zivile Aufbau müsse Vorrang haben. Afghanische Strukturen und Traditionen seien dabei zu berücksichtigen.
Das Friedensgutachten ist ein gemeinsames Jahrbuch der fünf wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland. Es wird im Auftrag des Bonner Internationalen Konversionszentrums, der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen erstellt.