Wahlkampf – und jetzt?

Wahlkampf – und jetzt?
Erntedank und die Folgen eines antisemitischen Flugblattes

Bald ist Erntedank. Das ist ein bisschen wie Silvester. Die Menschen halten Rückschau und danken. Danken für die Ernte. Das ist ganz wörtlich gemeint, in den Kirchen kann man das gut sehen. Da werden Brot und Weizen und Obst und Gemüse festlich vor den Altar gelegt. Vor Gott.

Doch was ist mit anderen Dingen, die wir säen und ernten? Mit unserer politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Saat und Ernte? Wie sehr das zusammenhängt, zeigt der momentane Wahlkampf in Bayern. Hier wird in knapp vier Wochen gewählt. Da wird mit harten Bandagen gekämpft. Das ist normal. Nicht normal ist, dass dabei Grenzen verschoben werden. Grenzen des Sagbaren. Und: Grenzen einer Erinnerungskultur, die in Deutschland tabu sein müssen.

Die Rede ist von Hubert Aiwangers antisemitischem Flugblatt und seinen Folgen. Ob Aiwanger es geschrieben hatte oder sein Bruder, ob die Hetzschrift "bloß" in Huberts Schultasche war, woran er sich erinnert, ob sich anderes seiner "Erkenntnis entzieht" oder nicht: Was zählt, ist Aiwangers Verhalten als erwachsener Mann. Der Chef der Freien Wähler hat dem Antisemitismus Vorschub geleistet. Er hat einen Spalt in die Gesellschaft getrieben, der weit über Bayern hinausgeht.

Auf einmal ist es hoffähig geworden, von einer "Jugendsünde" zu sprechen, wenn es um Judenhass geht. Von einer Bagatelle. Bei einem Flugblatt mit diesem Inhalt:„Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ Erster Preis: "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz." Zweiter Preis: "Ein lebenslanger Aufenthalt im Massengrab." Dritter Preis: "Ein kostenloser Genickschuss."

Auf einmal ist es hoffähig geworden, sich zum "Opfer" zu stilisieren, wo es in Wahrheit um andere, wirkliche Opfer geht. Er solle politisch "vernichtet werden", sagte Aiwanger. Wie unerträglich musste das für Überlebende des Holocaust klingen. Diese Verhöhnung der Opfer. Wie unerträglich muss seine Täter-Opfer-Umkehr für alle Jüdinnen und Juden sein.

Auf einmal ist es hoffähig geworden, sich nicht zu entschuldigen, wenn es darauf ankommt. Denn was hat Aiwanger schon gesagt? "Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe." Für welches Verhalten sich Aiwanger entschuldigen wollte, sagte er nicht. Dass Gefühle verletzt wurden, ist offensichtlich und wurde vielfach geäußert. Mit gutem Grund lehnte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Aiwangers Entschuldigungsversuch ab. Zu Recht kritisierte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, er vermisse „eine wirkliche innere Auseinandersetzung mit den Vorwürfen und seinem Verhalten zur Schulzeit“.

Dass Söder zu Aiwanger hält: geschenkt. Dass ihm Wahltaktik wichtiger ist als Haltung, ist ein starkes Stück, aber so ist er eben. Dass er von Aiwanger verlangt, in sich zu gehen: okay. Dass er gleichzeitig aber glaubt, mit einem Besuch einer jüdischen Gedenkstätte sei es getan, das geht zu weit. Was erhofft sich der CSU-Vorsitzende: die Absolution ausgerechnet von jüdischer Seite? Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, fand die einzig richtigen Worte dazu: "In Gedenkstätten wird kein Ablasshandel betrieben."

Zur Erinnerung: Es gab schon einmal Flugblätter. In Taschen junger Leute. Von Geschwistern. Von Menschen mit Mut und Charakter. Selbst im Angesicht des Todes. Es waren die Geschwister Scholl.

Wenn wir Erntedank feiern und vor Gott legen, wofür wir danken, wünsche ich mir, dass dort neben allen Gaben auch Mut liegt. Mut und Haltung. Reue und Demut. Einsicht und Respekt. Achtung und Charakter. Damit wir uns erinnern, worauf es ankommt.

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