Die neueste Otto-Brenner-Stiftungs-Studie ist schon draußen, früher als angekündigt, denn die medienmediale Aufregung ist wegen der Vorveröffentlichungs-Strategie bzw. "medialen Sturzgeburt" (uebermedien.de) größer als erwartet. Das Arbeitsheft "Die 'Flüchtlingskrise' in den Medien – Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information" ist hier auf der Stiftungs-Webseite download- und bestellbar. Mit aufgeregt ist der Verfasser Michael Haller:
"Er hatte gehofft, dass die 'Zeit' das Thema 'ausgeruht' darstellt – stattdessen habe es die 'blödsinnige, überspitzte Vorabmeldung' gegeben",
zitiert Stefan Niggemeier auf uebermedien.de den emeritierten Journalistikprofessor.
"Bei der 'Zeit' allerdings ist man sich keiner Schuld bewusst. Jochen Bittner, der Autor des Artikels, sagt, die Formulierung 'Die Medien haben völlig versagt', wie sie turi2.de gebrauchte, sei eine 'unzulässige Zuspitzung'; die eigene Formulierung 'Wichtige deutsche Tageszeitungen haben während der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 bei der kritischen Berichterstattung versagt' sei aber eine zulässige Zusammenfassung."
War das Füll-Adjektiv "völlig" das Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen brachte? Jedenfalls brachte Haller seinen ersten Ärger nicht in der Kommentarspalte zum Artikel, den Jochen Bittner für die Zeit verfasst hat, zum Ausdruck. Dort wäre er, unter noch nicht ganz 1.100 Kommentaren, freilich kaum mehr aufzuspüren. Vielmehr in der erheblich übersichtlicheren Kommentarspalte unter der turi2.de-Vorabmeldungs-Weiterverbreitung staunte Haller,
"dass seriöse Medien mit dieser Meldung über unsere Studienergebnisse das tun, was wir als Problem ermittelt haben: dass Vorgänge einseitig und überzogen dargestellt werden."
Das richtet sich ausdrücklich bereits gegen Die Zeit, wie Haller dann zumindest der TAZ sagte:
"'Die Zeit hat Zuspitzungen vorgenommen, die ich für boulevardesk halte', sagte Haller der taz. 'Das hatte ich von der Zeit nicht erwartet'",
woraufhin TAZ-Redakteur Peter Weissenburger erst mal ein "Das ist mal sowas von meta" entfuhr. Dann schrieb er aber auch eine ausführliche, um nicht zu starke Zuspitzung bemühte, sondern ostentativ neutrale Zusammenfassung der Studienergebnisse.
Kurzum: Hallers Überraschung überrascht ebenfalls. Schließlich ist Die Zeit im Internet, in dem alle Medien zusammenwachsen, keine Wochenzeitung, sondern ein Echtzeit-getriebenes, am Ende jedes Werktages prallvolles Nachrichtenportal. Schließlich gäbe es für Interessierte auch Anlass, sich über seine Vorveröffentlichungs-Strategie zu ärgern:
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Wobei so eine Strategie wiederum legitim ist, wenn komplexe Ergebnisse von viel langer Arbeit aktuell ins Internet eingespeist werden müssen. Wenn es in der deutschen Medienlandschaft verlässliche Mechanismen gibt, dann gehört dazu, dass alle hinterherhinken, sobald erst mal ein Leitmedium angefangen hat, bzw. alle berichten, was alle berichten. Dass exklusive Vorabmeldungen, die durchdringen sollen, zugespitzt werden, und Weiterverbreiter, die außer dem Original ja auch sich selber Gehör verschaffen wollen, sie noch weiter zuspitzen, während Formate, die Komplexität weniger reduzieren (und dabei dann unillustrierte Texte in fünfstelliger Zeichenzahl produzieren, wie das Altpapier ...), bei der Reichweite die Nase nicht vorn haben, dass der "Mainstream ... nur den sloganförmigen Schaum abschöpft" (wie Diedrich Diederichsen gerade in völlig anderem Zusammenhang dem Tagesspiegel sagte), um die Klicks zu erzielen, die er braucht, kann den Journalistikprofessor eigentlich nicht überrascht haben.
Andererseits helfen Überraschungsmomente natürlich beim Durchdringen, und in der Hinsicht kann sich Haller, der zur Studie selbst außer von der Welt dann auch noch von Deutschlandfunks "@mediasres" vorab interviewt wurde, nicht beklagen.
[+++] Jetzt ein Blick in die Studie selbst. Ich habe sie noch nicht ganz durchgelesen, sie umfasst 184 Seiten (PDF). Es lohnt jedenfalls, darin zu lesen. Z.B., weil Haller die Geschichte des Begriffs "Willkommenskultur" bzw. den "politischen Diskurs rund um den Euphemismus Willkommenskultur" (S. 81) mit vielen Belegen über die Jahre rekonstruiert und dabei zeigt, wie "die utilitäre Zwecksetzung", die zunächst Wirtschaftsverbände mit dem Begriff verbanden, "zugunsten einer auf das Gesellschaftsganze bezogenen normativen Rechtfertigung" " verschwand" (S. 70).
"Die Neigung, aus einer introjektiven und insofern allwissend wirkenden Position heraus auktorial zu berichten, ist den Journalisten der Leitmedien nicht fremd: Rund ein Drittel der Nachrichtentexte zeigt diese Attitüde",
ist wiederum selbst ein erfrischender Hauch Auktorialität enthalten, der beim Lesen längerer Texte bekanntlich hilft.
Und dass bei aller Empirie keineswegs alle Journalisten seine Ergebnisse unterschreiben werden, hat Haller ebenfalls antizipiert. So heißt es etwa zum Einstieg ins Fazit (S. 141), mit Bezug auf "gravierende Dysfunktionen des Informationsjournalismus als Teil der sogenannten Mainstreammedien":
"Diese Störungen haben sich so tief eingefressen, dass sie von Journalisten oder einzelnen Redaktionen vermutlich für normal gehalten, das heißt nicht als solche wahrgenommen oder gar problematisiert werden. Dies könnte erklären, warum die meisten tagesaktuellen Medien bis zur Silvesternacht 2015/16 nicht erkannt hatten, dass sich durch die Gesellschaft ein mentaler Graben zieht, der den weltoffen-liberal denkenden Teil der Bevölkerung – Leser der Leitmedien – vom konservativ-liberal bis nationalistisch eingestellten Teil trennt."
Am Ende konzediert Haller, dass viele Medien im Lauf des Jahres 2016, das nur einem kleinen Teil zu seinem Untersuchungszeitraum gehörte, aus ihren in der Zeit zuvor von ihm konstarierten Fehlern gelernt hätten.
Ob Medien wirklich lernten oder vielleicht sogar aus der neuen Studie Lehren ziehen, könnte sich zeigen, falls die "neue Flüchtlingskrise" tatsächlich zu dem Wahlkampf-Thema wird, zu dem der SPD-Kanzlerkandidat es machen möchte. Dann könnten sich Leitmedien auch nicht mehr auf die bequeme Position zurückziehen, sich die sehr große Bundestags-Mehrheitsmeinung der Großen Koalition zu eigen zu machen.
[+++] Neues zu den Aufmerksamkeits-/ regungs-Hotspots der vergangenen Wochen I: Benno Stieber, Baden-Württemberg-Korrespondent der TAZ, ist noch mal nach #Schorndorf (AP vom Dienstag und Mittwoch) gefahren und hat den "wohl entscheidenden Fehler" gefunden: Er lag gar nicht in Schorndorf, sondern
"steckt ausgerechnet in einer Meldung der dpa. Der Landesdienst meldet um 16.53 Uhr: 'In der Nacht zum Sonntag versammelten sich laut Polizei 1000 junge Leute im Schlosspark der Stadt und randalierten.' Daraus entsteht eine digitale stille Post: Aus den tausend Jugendlichen wird ein Flüchtlingsmob, aus Gapschereien und Belästigungen, die am anderen Ende des Festgeländes stattgefunden haben, werden Vergewaltigungen und Bilder von der Kölner Silvesternacht."
Gerade diese Kölner Silvesternacht hat viele Leitmedien bekanntlich viel Vertrauen gekostet. Ob das Vertrauen zurückgekehrt ist und bleibt, muss sich bei Anlässen wie dem in Schorndorf und vor allem der Berichterstattung darüber zeigen. Jedenfalls habe die DPA sich entschuldigt und ihre Meldung zurückgezogen. Wozu meedia.de, das gern auch visuell zuspitzt, ein Foto des DPA-Chefredakteurs Sven Gösmann mit besonders bedröppeltem Gesichtsausdruck gefunden hat (und die online weiter verfügbare Erst-Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Aalen verlinkt).
[+++] Neues zu den Aufmerksamkeits-/ regungs-Hotspots der vergangenen Wochen II: Nach den Ausschreitungen und Zerstörungen beim G20-Gipfel in Hamburg hatte die gedruckte Bild-Zeitung auf ihrer Titelseite nach einem "G20-Steinewerfer" gefahndet, den sie dann auch fand und zumindest vornamentlich ("Kevin") benannte. Dazu gab es eine umfassende Diskussion, ob die Medien so etwas dürften, um die es an natürlich im Altpapier (12.7.) ging.
Ein weiteres Argument gegen die, die mit Kevins Persönlichkeitsrecht gegen Springers Bild-Zeitung argumentierten, führte bereits in der vergangenen Woche André Mielke an, der weiterhin für die Berliner Zeitung sowie (mit besserer Überschrift) die Frankfurter Rundschau kolumniert:
"Ich dachte an 1992, Rostock-Lichtenhagen, vor dem brennenden Vietnamesenwohnheim: Harald Ewert hackedicht im DFB-Trikot, mit glasigem Blick den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, einen korsikaförmigen Fleck im Schritt seiner grauen Jogginghose. Der Fotograf kam zu Geld und Ewert vor Gericht. Ich hielt sein Porträt bisher für ein rechtmäßiges Dokument der Zeitgeschichte, als vom öffentlichen Interesse gedeckt und die Szene für ein stinklegales Bild von, wie es im Gesetz eben auch heißt, 'Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen'. Werch ein Illtum. Der Posterboy des ganz nahen Ostens hätte die halbe Welt verklagen können. Niemand hatte ihn gefragt geschweige denn bezahlt. Jetzt ist er tot."
Am Ende hat Mielke natürlich auch ein wenig zugespitzt. Jedenfalls handelt es sich hier rechtlich mutmaßlich um eine Grauzone (auch AP), bis eine hinreichend interessierte Seite ein letztinstanzliches Urteil erwirkt haben wird. Persönlichkeitsrechte-Fragen bleiben in jedem einzelnen Fall ein verdammt schwieriges Thema, aber rechts und links dürften dabei keine Kategorien sein. Die FR-Überschrift lautet übrigens "Besserpresse versus 'Bild'"
(Und rechtliche Auseinandersetzungen um Bildrechte an Harald Ewert hatte es zumindest zwischen Jan Böhmermann und dem Fotografen, der Ewert 1992 fotografiert hatte, gegeben).
+++ Wo rechts und links gar keine Kategorien sind, sondern ein immer noch schlichteres 'Wer nicht für mich ist, ist gegen mich', wo es vor Gerichten aber um jahrzehntelange oder mehrfach lebenslängliche Gefängnisstrafen geht (zumindest solange der Machthaber die Todesstrafe nicht wieder eingeführt haben wird): in der Türkei. Heute beginnt in Istanbul der Prozess gegen 17 Cumhuriyet-Mitarbeiter. Einer, der das Glück hat, nicht dort zu sein, Ex-Chefredakteur Can Dündar, schreibt zu diesem Anlass auf der SZ-Medienseite: "Sogar der Tee-Junge, der in der Cafeteria der Zeitung arbeitete, wurde verhaftet; seine Schuld war die Bemerkung 'Ich würde Erdogan keinen Tee servieren, wenn er hierher käme', die ein bei der Zeitung diensthabender Polizist gehört und seinem Vorgesetzten gemeldet hatte. Und siehe da, am nächsten Morgen wurde unser Tee-Junge in Gewahrsam genommen wegen Präsidentenbeleidigung." +++
+++ Seit Freitag (AP-Korb) rumort das vom FAZ-Wirtschaftsressort in die Welt gesetzte Gerücht, die ARD könne dem Privatsender RTL beim Versteigern der Formel 1-Fernsehrechte überbieten wollen. Sollte bereits eine Petition aufgesetzt werden, die, falls "plötzlich auch die Formel 1 zur öffentlich-rechtlichen Grundversorgung gehören" und dafür Rundfunkgebühren ausgegeben werden sollten, dann doch die Zusammenlegung von ARD und ZDF fordert? Vielleicht noch nicht: "Offenbar sind die Intendanten bislang dagegen", hat der Tagesspiegel gehört zitiert der Tagesspiegel aus dem FAZ-Artikel. Wer Zugang zu Intendanten hat, sollte ihnen bitte zureden, bei dieser Haltung zu bleiben. +++
+++ "Wir sind erstaunt, wie weit rechtsstaatliche Ermittlungsarbeit geht und fragen uns, wie es um die Pressefreiheit bestellt ist", sagt Jan Emendörfer, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung angesichts der schriftlichen Generalstaatsanwaltschafts-Auskunft, dass Polizisten beim Ermitteln gegen Linksextremisten "monatelang Gespräche mit einem Journalisten der Leipziger Volkszeitung" abgehört haben. Es berichten die LVZ selbst und die TAZ ("Die Antwort des Justizministeriums listet allerdings auch eine lange Reihe von Übergriffen auf offensichtliche Nazis und Anhänger der rechten Szene auf. Dennoch bleibt der sächsische Verfolgungseifer gegenüber vermeintlich linken Straftätern augenfällig"). +++
+++ Der Bayerischen Rundfunk darf seinen Klassik-Radioprogramm ins kaum verbreitete Digitalradio verschieben, um auf UKW Platz für noch einen Jugendsender, einen jüngeren, zu schaffen. Das hat zumindest der Bayerische Verfassungsgerichtshof bereits im Juni entschieden, berichtet nun radiowoche.de. "Das Verfahren ist aktuell noch vor dem Oberlandesgericht München, der nächsthöheren Instanz, anhängig." +++
+++ "Beim Berliner Regionalspartensender RBB kann man offenbar gebührend feiern", freut sich Robert Ide schwungvoll im Tagesspiegel-"Checkpoint" und legt nahe, dass die Abschiedsfeierlichkeiten für Ex-Intendatin Dagmar Reim sehr teuer gewesen könnten. +++
+++ Zu "Arbeitsleistungen, aber auch Haftstrafen von bis zu zwei Jahren auf Bewährung" wurden Islamisten verurteilt, die 2015 den Redaktionssitz der Hamburger Morgenpost abbrennen wollten (welt.de). +++ "Wer auf YouTube auf Englisch oder Arabisch nach Enthauptungsvideos oder anderen Propaganda-Inhalten islamistischer Terrororganisationen sucht, wird seit Donnerstag auf andere Beiträge umgeleitet. ... Die Google-Tochter hat dafür eine spezielle 'Redirect'-Methode entwickelt, die auf Adwords-Werkzeugen für zielgerichtete Werbung basiert" (heise.de). +++
+++ Leonhard Dobusch: "Ja, ich finde das klassische Instrument der Programmbeschwerde aus mehreren Gründen nicht gut. Da 400 Stunden Video pro Minute werden auf YouTube hochgeladen, warum braucht man da sieben Milliarden Euro im Jahr für ARD und ZDF? Das ist die Frage – und die wird gerade immer lauter gestellt. Teilweise aus Eigennutz von den Presse- und Zeitungsverlegern. Aber eben auch von Zuschauern, von Bürgern" (aus Teil II des neulich hier als "inhaltlich bestimmt waaaahnsinnig spannend" empfundenen uebermedien.de-Formats "Herr Rundfunkrat fragt Herrn Fernsehrat"). +++
+++ Das gibt's auch nicht oft: dass die SZ-Medienseite was von Netflix kritisiert. Jetzt aber zeigt sich Andrian Kreye "leider schnell" ge-"nervt". +++
+++ "Drogen gehen im Privatfernsehen immer. Die Rede ist nicht von etwaigen Konsumgewohnheiten hinter den Kulissen, sondern vom wohligen Grusel der Illegalität", der sich nun auch beim ProSieben-Publikum einstellen soll (SZ-Medienseite über Thilo Mischkes "Uncovered"-Reportage, siehe auch Tsp.). +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.