Versuchen wir heute einmal, zunächst Details zu betrachten und uns dann allgemeineren Einschätzungen zur Berichterstattung zum Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt zu nähern. Der Bildblog etwa greift den medialen Umgang mit dem zunächst als Tschetschenen eingeordneten pakistanischen Tatverdächtigen auf, der inzwischen wieder auf freien Fuß ist, nachdem „die Festnahme nur auf Grundlage einer vagen Personenbeschreibung erfolgt war“ (Spiegel Online). Moritz Tschermak schreibt:
„Die Spekulationen, Mutmaßungen und Ratereien über ihn zeigen, wie hysterisch Medien agieren, wie sie Halbwissen herausposaunen, sich widersprechen.“
Stefan Niggemeier bemerkt derweil bei Übermedien, dass das für die Berichterstattung über Extremsituationen geschaffene Genre „Was wir wissen/Was wir nicht wissen“ auch nicht mehr das ist, was es für kurze Zeit möglicherweise war - und nennt als Beispiel dafür eine in einem dpa-Beitrag unter „Was wir wissen“ rubrizierte Passage, in der es ebenfalls um den zwischenzeitlichen Verdächtigen geht:
„Der festgenommene mutmaßliche Fahrer könnte nach Erkenntnissen aus Sicherheitskreisen ein Pakistaner oder Afghane sein. Er sei wohl als Flüchtling eingereist.“
Laut Niggemeier ist diese Könnte-oder-wohl-Mischung „so ziemlich exakt das Gegenteil dessen, was ein ‚Was wir wissen‘-Listenpunkt wäre“.
Ein Text, der sich zumindest mit meinen eigenen Eindrücken beim Fernsehen am Montagabend weitgehend deckt, ist mir im Blog des Indie-Magazins Transform aufgefallen:
„Das Bedürfnis, sich auf dem Laufenden zu halten, wenn Schreckliches passiert, ist groß. Doch bleibt die Frage, ob es uns wirklich hilft, wenn wir die Anzahl der Opfer verfolgen, wie ein Sportergebnis (…) Es scheint fast so, als sei die Berichterstattung zu einem traurigen, grausamen Spannungsgenre verkommen, bei aller Vorsicht, die man guten Medien zugestehen kann. Es gibt kein Zurück hinter die Möglichkeiten der digitalen Medien. Sie stellen eine Unmittelbarkeit her, die uns in Angst versetzt. Mit Livevideos und Bildern direkt vom Ort des Vorfalls. Vielleicht besteht der Ausweg darin, sich dem Nachrichtenstrom zu entziehen, wenn man sichergestellt hat, dass keine unmittelbare Gefahr droht und man nichts weiter tun kann, um zu helfen. Das Smartphone weglegen, Radio und Fernseher aus- oder umschalten.“
Daran anschließen lässt sich mit Yassin Musharbash (Zeit Online), der aus der Ferne (Jordanien) auf die Lage im vertrauten Berlin blickt und dabei unter anderem darauf eingeht, wie man an seinem aktuellen Aufenthaltsort mit Anschlägen umgeht - und betont, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Dass Verbrechen in der Regel nicht bereits wenige Stunden, nachdem sie begangen wurden, aufgeklärt werden. Beziehungsweise:
„Die Antworten werden kommen, die meisten jedenfalls, die wichtigsten, nur eben nicht heute.“
Mit „heute“ war im konkreten Fall Dienstag kurz vor elf Uhr gemeint - zu dem Zeitpunkt wurde der Text online gestellt -, aber „heute“ gilt möglicherweise auch noch zur Hauptlesezeit dieser Kolumne.
Dass es nicht so leicht fiel, am Montagabend „das Smartphone wegzulegen“ (Transform-Magazin), hatte auch mit der seltsam-gruseligen Faszination zu tun, die das „Safety Check“-Feature von Facebook zumindest auf jene Nutzer ausübte, die mit in Berlin lebenden Personen befreundet oder „befreundet“ sind. Fabian Franke (taz) bezweifelt, dass das Tool sonderlich aussagekräftig ist:
„Was, wenn der notwendige Internetzugang nicht besteht oder Nutzer*innen die Funktion nicht nutzen möchten? Ein nicht gesetztes ‚in Sicherheit‘ sagt dann wenig aus über den tatsächlichen Verbleib der Person. Fehlt eine Person in der Safety-Liste, könnte das die Sorge außerdem noch erhöhen (...) Gleichzeitig wächst der Druck auf diejenigen, die Facebook-Features normalerweise boykottieren. Denn das fällt schwerer, wenn damit Unsicherheit im Freundes- und Familienkreis ausgelöst wird.“
Zur Funktionsweise des erstmals nach dem Erdbeben in Nepal im April 2015 zum Einsatz gekommenen Features, das dazu beitragen konnte, Facebook am Montagabend als eine Art offiziöse Institution wahrzunehmen, zitiert Zeit Online indirekt den Facebook-Sprecher Stefan Stojanow:
„Sobald bestimmte Begriffe wie Feuer, Erdbeben oder auch Anschlag in einer Region so häufig von Facebook-Nutzern gepostet werden, dass sie einen Schwellenwert überschreiten und die entsprechende Nachricht auch von externen Dritten verbreitet wird, denen Facebook vertraut, löst der Safety Check automatisch aus.“
Chris Köver hat für wired.de ebenfalls mit Stojanow gesprochen, unter anderem über die sich schnell verändernden Begriffe auf der Safety-Check-Seite für Berlin (Anschlag, Gewalttat, Vorfall):
„Wie es zu diesen unterschiedlichen Varianten kam, erklärt (er) so: Das Safety Check-Tool gibt basierend auf den Posting der Nutzer eine Empfehlung, wie das katastrophale Ereignis zu bezeichnen ist. ‚Im Fall des Berliner Weihnachtsmarktes lautete diese Empfehlung: Anschlag‘, sagt Stojanow. 'Wir haben dann auf Basis der offiziellen Statements, die wir aus den Medien und vonseiten von Behörden bekommen haben, die Bezeichnung angepasst (…) Wir machen keine selbstständige Einschätzung der Situation, sondern verlassen uns auf Medienquellen und Polizeiberichte, wie es auch in der Seite des Safety Check als Hinweis steht‘ (…) Die Mühe, Angaben selbst bei den Primärquellen nachzuprüfen, in diesem Fall der Berliner Polizei, macht sich Facebook jedoch nicht. ‚Das können wir in vielen Fällen gar nicht, etwa bei Naturkatastrophen, wir sind ja nicht vor Ort und müssen uns auf Medienquellen verlassen.‘“
Das Fazit der Wired-Redakteurin:
„Facebook trägt eine Mitverantwortung für die Wortwahl, mit der Ereignisse beschrieben werden. Diese Verantwortung kann nicht allein an einen Algorithmus delegiert werden.“
Auffällig ist, dass sich beim Thema Safety Check ein Facebook-Pressesprecher als relativ redselig erweist - ganz anders als man das etwa von Stojanows Kollegin, der zuletzt in diesem Altpapier vorkommenden Tina Kulow, kennt.
Was die Meinungen zur Berichterstattung im Fernsehen angeht, lassen sich zwei allgemeinere Debattenstränge benennen. In dem einen geht es um Schnelligkeit: „Langsamkeit ist kein journalistischer Standard“, kritisiert mit Blick auf ARD und ZDF zum Beispiel Martin Brüning, der mehr als vier Jahre Pressesprecher der FDP-Fraktion im Niedersächsischen Landtag war und nun beim landespolitischen Fachdienst Rundblick Niedersachsen (siehe Altpapier) zugange ist. Die Gegenposition vertreten t3n („Es geht nicht darum, wer die erste Eilmeldung raushaut“) und Daniel Bouhs in einem Interview mit dbate.de („Das Wettrennen um fünf Minuten vorher oder später live ist nicht besonders angemessen“). Sehr spät dran war jedenfalls das ZDF - weshalb sich Intendant Thomas Bellut am Dienstag genötigt sah, die Vorgehensweise seines Senders zu verteidigen (siehe dwdl.de, am Ende des Textes).
Auffassungsunterschiede gibt es auch über eine andere Frage: Hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Vergleich mit der Berichterstattung über den Massenmord von München (siehe dieses Altpapier, in dem man auch einige Motive der aktuellen Kritik findet) am Montagabend ein - sofern man das angesichts der traurigen Umständen sagen kann - besseres Bild abgegeben? Michael Hanfeld (FAZ) ist, was wenig überrascht, überhaupt nicht einverstanden mit dem von ARD und ZDF Gebotenen, er watscht auch „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni ab, „der an diesem Abend kein Bein auf den Boden bekommt“ - womit der FAZ-Mann also anderer Meinung ist als der gestern an dieser Stelle zitierte Tagesspiegel-Kollege Joachim Huber. Wohlwollende generelle Einschätzungen kommen heute von Huber im Duett mit Tagesspiegel-Kollege Markus Ehrenberg („Und wenn es auch zynisch klingen mag: Die Medien in Deutschland wissen mit jedem Anschlag besser und professioneller mit solchen Lagen umzugehen“) der taz-Kommentatorin Amna Franzke („Insgesamt lief die Berichterstattung rund“) und dem schon erwähnten Daniel Bouhs, der in einem Facebook-Beitrag aber betont, dass es noch besser laufen könnte, wenn die Sender in Trockenübungen Krisenberichterstattung trainierten.
Ehrenberg/Huber schlagen im Tagesspiegel in Sachen Beobachtung von Berichterstattung zu Extremereignissen auch einen Bogen zu den Bildern, die von der Ermordung des russischen Botschafters in Ankara zu sehen waren:
„In der ‚Tagesschau’ am Montag im Ersten um 20 Uhr waren (…) sekundenlang bewegte Bilder von dem wild mit der Pistole drohenden und Parolen rufenden Polizisten zu sehen, eine Szene fast wie aus der US-Serie ‚Westworld‘. Was die Frage aufwirft, ob diese Bilder-Sequenz nötig war. Wo hört Information auf, und wo fängt Propaganda an, im Sinne von medialer Wahrnehmung der Ziele der Terroristen? ‚ARD-aktuell-‚Chef Kai Gniffke verweist gegenüber dem Tagesspiegel darauf, dass die Bilder des toten russischen Botschafters am Boden in der „Tagesschau“ nicht zu sehen waren. Die Sendung habe bewusst darauf verzichtet.“
Aber spielt das eine Rolle?
„Auch ohne den toten Botschafter im Bild – die Sequenz mit dem drohenden Polizisten, die in der „Tagesschau“ zu sehen war, könnte durchaus einer Ikonisierung des Täters zuträglich sein“,
meinen Ehrenberg/Huber.
Zur Verwendung des möglicherweise der Ikonisierung des Mörders zuträglichen Bildes bei der New York Times äußert sich ebd. Phil Corbett, „associate masthead editor for standards and ethics, who was involved in the decision to use the photo“. Dessen Äußerungen kommentiert wiederum Jean-Martin Büttner im Blog des Tages-Anzeigers:
„‚Das Bild zeigt die schockierende Natur der Attacke‘, sagt (Corbett) – ‚viel eindrücklicher, als es eine blosse Beschreibung getan hätte. Der gut angezogene Täter, die elegante Umgebung, all das gehört zum Nachrichtenwert. Das Bild ist erschreckend, aber nicht blutrünstig.‘ Ein eleganter Mord also, mit einem krawattierten, attraktiven Täter, sublimierte Gewalt und damit konsumierbar, mit anderen Worten: ein Mord wie bei James Bond. Hinrichtungsvideos zeigt die New York Times nicht, auch keine Folterszenen aus Mexiko oder das Verbrennen eines Piloten durch den IS, das Fox TV seinem Publikum vorgespielt hatte. Aber man will doch bei der Action ein wenig dabei sein.“
[+++] Kommen wir zur Medienpolitik: Es gibt einen aktuellen Anlass, das im Altpapier von vergangenem Freitag erwähnte, von epd medien öffentlich gemachte Strategiepapier der ARD zu "Auftrag und Strukturoptimierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten in Zeiten der Digitalisierung der Medien" noch einmal aufzugreifen. In jenem Papier [das die ARD mittlerweile selbst online gestellt hat - Update, 16.50 Uhr] ist dargelegt, wie sich der Senderverbund „eine stärkere Präsenz im nicht-linearen Bereich“ vorstellt und und wie man sich besser konkurrenzfähig machen will im Wettbewerb mit den globalen Plattformanbietern. Andererseits will die ARD, wie nun bekannt wird, in einem nicht unwesentlichen Teilbereich ihre Online-Aktivitäten keineswegs ausdehnen, sondern reduzieren. Das ist wiederum der Inhalt eines anderen Papiers, das „BDZV-Präsident Mathias Töpfer, der auch den Medienkonzern Axel Springer leitet“, BDZV-Angaben zufolge „‚in gemeinsamer Diskussion‘ mit der ARD-Vorsitzenden Karola Wille und dem NDR-Intendanten Lutz Marmor erarbeitet“ habe, wie Daniel Bouhs („Zapp“) berichtet. Demnach würde sich, wie der Autor es formuliert, die ARD selbst „Handschellen anlegen“. Beziehungsweise:
„Die ARD würde auf den Startseiten ihrer Internet-Angebote maximal ein Drittel Text zeigen. Mindestens zwei Drittel der Flächen würden mit Video- und Audioplayer oder schlicht Fotos gefüllt. Den BDZV-Angaben zufolge hat die sogenannte Kontaktgruppe der ARD zugesichert, noch im Jahr 2016 und damit kurzfristig über das Papier zu entscheiden.“
Lorenz Lorenz-Meyer vertritt bei Carta die Position, dass diese Haltung symptomatisch sei („Wenn es um ihre digitale Zukunft geht, sind die öffentlich-rechtlichen Medien – zumindest auf Leitungsebene – von einer erstaunlichen Verzagtheit. Ihre Visions- und Mutlosigkeit grenzt zuweilen an Masochismus“). Er meint, angesichts der Medienkrise und
„der Tatsache, dass gerade junge Zielgruppen nur noch über zeitgemäße digitale Medienkanäle erreicht werden können, ist es nicht nur sinnvoll, sondern zwingend notwendig, die öffentlich-rechtlichen Medien massiv und mit aller zur Verfügung stehenden Kreativität zu einem zentralen Player auf den digitalen und mobilen Plattformen weiterzuentwickeln. Ihnen obliegt in der gegenwärtigen Situation eine große gesellschaftliche Verantwortung, der sie sich nicht entziehen dürfen.“
Medienpolitik, andere Baustelle:
„Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe wird sich nicht näher mit dem im Rundfunkstaatsvertrag verankerten Verbot befassen, demzufolge in bundesweit ausgestrahlten Fernsehprogrammen keine regionalisierte Werbung gesendet werden darf. Das höchste deutsche Gericht nahm eine Verfassungsbeschwerde der Pro Sieben Sat 1 Media SE gegen diese Vorschrift nicht zur Entscheidung an.“
Diese Entscheidung fiel zwar bereits Ende Juni, wurde aber nun erst aufgrund von Recherchen der Medienkorrespondenz bekannt. Zum Hintergrund schreibt Volker Nünning:
„Im Jahr 2012 hatte die Pro-Sieben-Sat-1-Gruppe eine Initiative gestartet und Tests durchgeführt, um in dreien seiner bundesweit über Kabel verbreiteten Programme (Sat 1, Pro Sieben, Kabel 1) regionalisierte Werbung ausstrahlen zu können; nicht zuletzt um dadurch zusätzliche Werbeeinnahmen zu erzielen. Mit diesem Vorstoß löste das Unternehmen damals heftige Kritik von Verlagen und regionalen Radiosendern aus, die Verluste bei ihren Werbeeinnahmen befürchteten und das Vorgehen von Pro Sieben Sat 1 als rechtswidrig einstuften.“
Während die Auseinandersetzung über die Zulässigkeit dessen, wer was im Internet darf, im ersten Fall zwischen öffentlich-rechtlichem und privatwirtschaftlichem Milieu läuft, verläuft sie in Sachen regionalisierte Werbung also innerhalb von letzterem Milieu.
[+++] Was Heiteres wäre an dieser Stelle ja jetzt auch nicht schlecht: Philip Meinhold nimmt sich für die Wahrheit-Seite der taz „Ich denke deutsch“ vor, ein Buch, das Jürgen Todenhöfer, der künftige Herausgeber des Freitag, 1989 geschrieben hat und in dem er, wie der taz-Autor meint, „bereits das Schauermärchen von Lügenpresse und Mainstream-Medien“ entworfen habe. Was Meinhold u.a. mit folgendem Zitat illustriert:
„Unsere Gedankenwelt wird systematisch durch die veröffentlichte Meinung verdrängt. Ganze Redakteurs-Brigaden treten jeden Montagmorgen zur Befehlsausgabe vor den Kiosken des Spiegel an: Hier – und nicht in Bonn – wird Order gegeben, was wir diese Woche denken dürfen, was Sache ist, sofern die radioaktive Molke etwas von uns übriggelassen hat (…) Der Grips wird an der Garderobe dieser Kioske abgegeben. Eigene Gedanken sind out. Kampagnen sind in. Das Geschäft der Meinungsmache mit vorgegebenen Strategie-Themen, Denk-Mustern, Agitations- und Propagandakampagnen blüht.“
Die seltsame Verwendung des Begriffs „Kiosk“ ist keineswegs der Höhepunkt des Buchs, denn:
„Todenhöfer ist nicht nur ein Meister der missratenen Formulierung, sondern auch der Metaphernlawine: ‚Die Sozialdemokratie entmannt sich politisch im spät-marxistischen Dogmenwahn, streicht dem Volk rosaroten Hoffnungsquark auf die Pausenstulle und kokettiert, längst impotent, mit jenen selbsternannten Giftpropheten und ökomanischen Hiobskündern, die wenig von Ökologie, aber viel von Ideologie verstehen.‘“
Es gebe dennoch „einen entscheidenden Unterschied zum Todenhöfer von heute: Während dieser noch bei jedem islamistischen Terroranschlag auf die Schuld des Westens verweist, war der alte Todenhöfer ein treuer Freund von USA, Nato und sogar Israel“.
Meinholds Fazit:
„Man hätte es kaum für möglich gehalten – und das ist das eigentlich Tragische bei der Lektüre dieses Frühwerks von Jürgen Todenhöfer: Der Autor ist tatsächlich noch dümmer geworden, als er es beim Schreiben dieses Buches schon war.“
Altpapierkorb
+++ Was die Pressefreiheit in Deutschland angeht, dürfte man sich „nicht zurücklehnen. Sonst kommen wir dahin, wo andere Länder hineingeschlittert sind“, hat kürzlich der Regisseur und Journalist Daniel Harrich gesagt - und zwar auf einer „Grimme trifft die Branche“-Veranstaltung im Bundestag, über die ich für die Medienkorrespondenz geschrieben habe.
+++ Mit den anderen Ländern gemeint sein dürfte unter anderem Ungarn, wo, wie aktuell die Junge Welt berichtet, „Neonazis nicht mehr als solche bezeichnet werden dürfen“.
+++ Dass wir uns Sachen in Pressefreiheit hier zu Lande tatsächlich „nicht zurücklehnen dürfen“ (Harrich), zeigt auch die Entscheidung des MDR, einen Artikel über eine „Mahnwache“ von Rechtsextremen in Dresden zum „Schutz“ des Autors ohne Nennung seines Namens zu veröffentlichen. In dem Text heißt es: „Die Polizei greift nicht ein, (…) als ein älterer Mann anfängt, Fotografen und Kameramänner zu beschimpfen. ‚An euren Händen klebt genauso viel Blut wie an Angela Merkel‘. Eine Frau stimmt ein. ‚Ihr seid das Schlimmste und Dreckigste, was ich je gesehen habe.‘ Ein anderer brüllt: ‚Wenn es mal anders kommt, dann gnade euch Gott. Und die Zeit wird kommen…‘"
+++ Warum „die gerne erzählte Geschichte vom links-grünen/linksliberalen Schweizer ‚Medien-Mainstream‘ (…) ein Märchen“ sei und das Gegenteil zutreffe, erläutert die Tageswoche.
+++ Die von sehr, sehr vielen Journalisten „teils mit äußerst unlauteren Mitteln und ideologischen Kampfbegriffen geführte Kampagne“ gegen den Berliner Staatssekretär Andrej Holm analysiert die Seite Bizim Kiez. Die Kampagne lasse „sowohl den nötigen Respekt gegenüber den gern zitierten Opfern des DDR-Unrechts (die hier wieder einmal ungefragt und oft entgegen ihren eigenen politischen Ansichten zu dem Thema instrumentalisiert werden) vermissen, als auch jede Verhältnismäßigkeit in ihren Verurteilungen und den daraus abgeleiteten Konsequenzen“.
+++ Unter anderem über die Frage, ob „das Internet unser Gehirn verändert“, hat Juliane Liebert fürs SZ-Feuilleton mit Jan Kalbitzer gesprochen, Arzt, Psychotherapeut und Autor des Buchs "Digitale Paranoia - online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren“. Kalbitzer sagt: „Das mit den Filterbubbles halte ich in Teilen für ein Gerücht. Wir sind derzeit durch das Internet mit so vielen neuen Informationen konfrontiert wie noch nie zuvor. Ich denke, dass viel von der gefühlten gesellschaftlichen Überforderung auch damit zu tun hat. Außerdem habe ich den Eindruck, dass das Argument der Filterblase oft ein Herabblicken ist auf Leute, die sich angeblich in solchen Filterblasen befinden. Wir werfen das gerne unseren "gefühlten" Gegnern vor, das erinnert mich immer an Ehestreits, in denen es ja auch oft so parallele Realitäten gibt, aber man immer seine eigene Realität für unglaublich objektiv hält und dem anderen Verzerrung vorwirft. Es werden in den aktuellen Diskussionen auf beiden Seiten Regeln des fairen Umgangs miteinander verletzt und es wird unzulässig pauschalisiert.“
+++ Gerald Wagner beschäftigt sich im FAZ-Feuilleton (S. 12) mit den „Hoffnungen“, die „die Sehnsuchtsmaschine Internet“ einst weckte: „Unbestreitbar hat die weltweite Vernetzung von Datenspeichern die Informationskosten gesenkt. Aber eben nicht global. Das Internet war immer nur die Fiktion eines postnationalen Wunschdenkens. Das Netz, vor dem Menschen in Riad, Berlin oder Schanghai sitzen, ist nicht dasselbe Netz. Man mag sich hierzulande über die Vulgarität und den realen Irrsinn der sozialen Medien empören. Die große Mehrheit der Menschheit hat andere Sorgen. Leider spricht derzeit nichts für die Annahme, dass es einen globalen Fortschritt hin zu mehr demokratischen Ländern gebe, die zumindest ein Mindestmaß an Informationsfreiheit gewährten und relativ unzensierten Zugang zum Internet erlaubten. Im Gegenteil: Die NGO Freedom House beklagt in ihrem inzwischen siebten jährlichen Bericht ‚Freedom on the Net‘, dass die Freiheit im Netz seit mittlerweile sechs Jahren kontinuierlich zurückgegangen sei. In 34 der 65 untersuchten Länder nutzen Regierungen nicht nur Soziale Medien wie Facebook und Twitter zur Überwachung und Unterdrückung ihrer Bevölkerungen, sondern – dies ist ein neuer Trend – selbst Kommunikationskanäle wie WhatsApp und Telegram.“
+++ Das vor allem vom WDR bestrittene Radioprogramm Funkhaus Europa, das anlässlich damals debattierter (und beschlossener) Reformen im März eine Zeitlang Thema im Altpapier war (etwa hier und hier) heißt künftig Cosmo (Radioszene).
+++ Mehr zum WDR: Dass dieser sich beim Verkauf von Kunstwerken dumm angestellt hat, dröselt díe SZ auf.
+++ Außerdem auf der SZ-Medienseite: Katharina Riehl über „Der weiße Äthiopier“, „die unbegreiflich verkitschte“, teilweise „unerträgliche“ ARD-Verfilmung einer Ferdinand-von-Schirach-Kurzgeschichte.
+++ Was optimistisch Stimmendes zum Ausklang: Franz Beckenbauer schreibt künftig keine Kolumnen mehr für die Bild-Zeitung. Dies ist einem dpa/Tagespiegel-Text erwähnt.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.