Um kurz nach halb elf gestern Abend war es dann doch so weit:
„Dass wir jetzt darüber berichten, liegt daran, dass der Fall nun eine politische Dimension bekommen hat. Das Opfer wird dabei ebenso von einigen Seiten instrumentalisiert wie der mutmaßliche Täter. Und im sonst so beschauliche Freiburg ist die Welt auch jenseits dieses Falles alles andere als in Ordnung.“
So moderierte Ingo Zamperoni den Beitrag aus dem Hause ARD aktuell an, auf den die Nation offenbar dringender gewartet hatte als etwa auf das Angela-Merkel-Interview davor. Dass es so kommen würde, hatte Kai Gniffke schon am Nachmittag bei Facebook angekündigt, wo er eine Viertelstunde live Fragen beantwortete, warum die „Tagesschau“ über Morde an dunkelhäutigen US-Amerikanern/den Fall Tu?çe/Anschläge auf Flüchtlingsheime berichtet, aber nicht, wenn ein afghanischer Flüchtling eine Freiburger Studentin ermordet haben soll (im Original natürlich als Tatsache formuliert, nur echt mit einself111!!!) (s. auch Altpapier gestern).
„Weil mittlerweile aus diesem Einzelfall eine so große Relevanz entstanden ist (...) Wir haben jetzt eine gesellschaftliche Diskussion, die wir sehr sehr gerne auch abbilden. Aber das ist etwas anderes als die Berichterstattung über einen einzelnen Kriminalfall“,
lautete Gniffkes Argument, das für jeden, der schon einmal etwas von Nachrichtenwerten gehört hat, durchaus plausibel erscheint (s. etwa den gestern hier schon verlinkten Übermedien-Text von Stefan Niggemeier), was nicht heißt, dass alle Journalisten die Entscheidung verstehen und mittragen.
„Die gesellschaftliche Relevanz, von der Gniffke oft sprach, die war nämlich längst da. Der Mordfall war eben kein isolierter Einzelfall und ist auch nicht allein nach seinem ,Gesprächswert’ (Gniffke-Code für Klatsch und Boulevard) zu beurteilen, sondern er gehört durch die Herkunft des Tatverdächtigen automatisch zur aufgeladenen Flüchtlingsdebatte. Zu anderen Zeiten hätte das, was Gniffke sagte, womöglich gegolten aber nicht in Deutschland im Jahr 2016. (...) Gesellschaftlich relevant ist eine Sache für die ,Tagesschau’ vor allem dann, wenn sich Politiker dazu äußern“,
meint Stefan Winterbauer bei Meedia, dem entgegenzuhalten ist, dass es einer der Vorteile der „Tagesschau“ ist, nicht wie ein an dieser Stelle nicht näher genanntes Medienportal jedem kleinsten Netz-Aufreger hinterherzuhecheln, sondern sich den Luxus zu gönnen, zwei Sekunden darüber nachzudenken, ob dieses Thema tatsächlich einen Beitrag wert ist. Und solange Artikel 12.1 des Pressekodex noch im Amt ist, ist die Nationalität eines Täters nicht automatisch von nationalem Interesse, egal, welches Jahr wir schreiben.
Doch es gibt noch ein zweites Argument der Gniffke-Kritiker – die Angst, durch Weglassen Vorurteile zu bestätigen.
In der SZ (S. 4) formuliert Joachim Käppner es zivilisiert:
„Die ,Tagesschau’ ist neben ,Heute’ im ZDF die wichtigste deutsche Nachrichtensendung. Sie sollte sich nicht einmal dem Hauch des Verdachts aussetzen, unerwünschte Fakten lieber zu verschweigen; das spielt nur den Falschen in die Hände wie der AfD, die sich nun die Hände reibt. Spätestens seit der Kölner Silvesternacht müsste die Sensibilität dafür groß genug sein. (...) Vielleicht hat die Redaktion die Bedeutung des Mordfalls einfach falsch eingeschätzt. Dann wäre es aber besser, die ARD würde jetzt schlicht bekennen: Sorry, auch wir machen mal Fehler.“
In der FAZ spricht Reinhard Müller in einem Kommentar (S. 8/Blendle 0,45€) die AfD-Rhetorik deutlich aus:
„Sollte aber die Tatsache, dass der Verdächtige als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in dieses Land gekommen ist (und bei einer Familie wohnte), dazu führen, diese Nachricht nicht hoch zu hängen? Das wäre eine Berichterstattung nach dem Motto: Was die Menschen wirklich interessiert, interessiert uns nicht. Wer von vornherein krampfhaft möglichen Beifall von der ,falschen Seite’ vermeiden will, der hat ihn schon sicher.“
Und Michael Hanfeld ist sich auf seiner Medienseite nicht zu schade, daraus folgende Schlussfolgerung zu ziehen (Medienseite/Blendle 0,45€):
„Vor den genannten Hintergründen, die in die Wahrnehmung dieses Verbrechens hineinspielen, erscheint es schon ziemlich unverständlich, dass die ,Tagesschau’ ihre Leerstelle auch noch als Ausweis einer besonders sorgfältigen Nachrichtenauswahl ausgibt. Über den Kampfslogan ,Lückenpresse’ braucht sich jedenfalls niemand mehr zu wundern.“
Ja. Puh. Hier schreibt tatsächlich ein Journalist, die Journalisten-Hasser hätten gute Gründe für eben diesen. Wer seinen Hass auf das öffentlich-rechtliche System so wenig zu zügeln imstande ist... sollte vielleicht noch mal das Proseminar „Verantwortungsethik“ besuchen.
Natürlich hat die AfD die Nicht-Berichterstattung über die Freiburger Ereignisse instrumentalisiert.
„Die Berichterstattung über die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht und über den Sexualmord in Freiburg seien zwei Beispiele dafür, ,dass nicht umfassend berichtet wird’, sagte Petry. ,Die Begründung der ,Tagesschau’ in diesem Einzelfall, das sei ein regionales Ereignis, die war schon arg lächerlich’, ergänzte Meuthen“,
heißt es in einem dpa-Bericht bei Zeit Online, der über die gestrige Verkündung der AfD informiert, dass sie in den zehn Landesparlamenten mit ihrer Beteiligung eine Kündigung des Rundfunkstaatsvertrags beantragen wird. Aber solange Medien noch selbst entscheiden können, was sie berichten, sollten sie das doch bitteschön tun. Aus Angst vor der AfD und ihrer Anhänger die eigenen Kriterien über Bord zu werfen, hieße indirekt, ihr die Nachrichtenauswahl zu überlassen. Und so nervig man Kai Gniffke auch finden mag: Durch Frauke Petry ersetzt möchte ich ihn jetzt auch nicht wissen.
Stefan Niggemeier twitterte gestern Abend:
###extern|twitter|niggi/status/805819294072393728###
Das ist das eine. Das andere ist, dass die Bedeutsamkeit von Nachrichten nicht in Lautstärke gemessen wird. Das wissen nur viele Menschen nicht, weil diverse Medien seit Jahren das Gegenteil praktizieren. Dass ein unbeugsames, sprödes Nachrichtenangebot dagegenhält, kann man natürlich kritisieren. Wirklich schlimm finden mag ich das nicht.
[+++] Dass Lärm ein Thema wichtig macht, war auch über das Wochenende am Beispiel der Bomben-Geschichte aus der wöchentlichen Beilage u.a. des Schweizer Tages-Anzeigers namens Das Magazin zu bemerken, die ebenfalls gestern hier schon Thema war. Auf das wilde Teilen des Textes über Big Data und passgenaue Facebook-Werbung für Donald Trump und den Brexit folgt nun die langsame Einordnung.
„Etwas, das so gut ins Bild passt, das als tragische Heldengeschichte daherkommt und endlich einen Sündenbock und einen Grund für den Wahlsieg Donald Trumps liefert – etwas, das gerade jeder hören möchte, das fast schon zu perfekt klingt, um wahr zu sein, sollte man vielleicht zweifach, dreifach, vierfach auseinandernehmen. Schon grundlegende journalistische Reflexe müssten da greifen“,
schreibt etwa Dennis Horn im Digitalistan-Blog des WDR, der sich u.a. daran stößt, dass der Erfolg der vorgestellten Technik nur durch zwei Quellen belegt wird, „nämlich Erfinder und Verkäufer der Analysen, die ihr eigenes Produkt selbstverständlich für das Nonplusultra halten“.
Wie sehr man sich auf deren Aussagen verlassen hat, zeigt auch ein weiteres Beispiel, vorgetragen von Alexander Franz, Unternehmensberater aus Wien, bei Carta:
„Das dort erwähnte ,OCEAN’ gibt es so nicht. Das ist vermutlich ein Marketing-Gag der im Artikel erwähnten Firma, weil der eigentlich übliche Begriff ,Big 5’ auch als ,die fünf grossen Wirtschaftsprüfungsfirmen’ verstanden werden kann. In der Psychologie, aber auch in verwandten Gebieten (Personalentwicklung, Psychiatrie, ..) spricht man von den Big 5 der Persönlichkeit. Der Begriff OCEAN kommt nur auf der Homepage der im Artikel erwähnten Firma vor, und ansonsten als Merkhilfe, wenn man sich auf Prüfungen vorbereitet und nicht sicher ist, ob einem alle fünf Punkte einfallen.“
Hinzu kommt, dass die nach dem Modell der Firma mithilfe von Facebook erstellten Profile nicht ganz so passgenau sind, wie der Artikel nahelegt. Den Test haben Thomas Knüwer in seinem Blog („Ich bin also entspannt, zurückhaltend und in mich gekehrt, noch dazu wenig impulsiv. Dies werden alle Leser von Indiskretion Ehrensache nur bestätigen können.“) sowie Johnny Haeusler für die deutsche Wired („Ich sei wahrscheinlich eine Frau, weil ich Morrissey mag, so das System, vielleicht aber auch nicht, weil ich Depeche Mode auch gut finde. Das ist so erkenntnisarm wie meine Charakterisierung/Typografierung (siehe Screenshot), die wohl jeder hätte erstellen können, der sich mal eine halbe Stunde lang mit mir unterhalten hat.“) gemacht.
Warum dennoch auch so viele Journalisten den Text weiterverbreiteten, erklärt Fabian Reinbold bei Spiegel Online:
„Das sagenhafte Echo, das solche Geschichten wie der ,Das Magazin’-Artikel im Moment erfahren, hängt wohl auch mit dem Schock und der allgemeinen Verunsicherung nach dem Trump-Sieg zusammen, den viele nicht für möglich gehalten haben. Motto: Endlich eine Erklärung, mit der alles Sinn ergibt!!!!
Erst war es der weiße Mann aus der Unterschicht, der angeblich ganz allein Trump das Weiße Haus bescherte, später mal die Frauen - und nun sollen es eben skrupellose Daten-Ingenieure gewesen sein.“
Der Wunsch nach einfachen Antworten ist also allgegenwärtig.
Ein wenig aus der Zeit gefallen, weil weder den Magazin-Text noch die sich anschließende Debatte erwähnend, kommt ein Beitrag von Mathias Müller vom Blumencron auf S. 8 der FAZ daher (online steht er etwas anders, mit Hinweis aufs Magazin), der das Thema auf die Folgen der technischen Entwicklung für die politische Kommunikation zuspitzt:
„Wie bei so vielen neuen Entwicklungen ist die Technologie neutral, nicht mehr als ein immer intelligenteres Werkzeug. Entscheidend ist, mit welcher Intention sie eingesetzt wird: im Dienste echter Aufklärung, zu gewöhnlicher Werbung, mit der klaren Absicht, politische Propaganda zu verbreiten, oder mit einer desinformatorischen Intention, um einen Staat oder eine Gesellschaft zu destabilisieren. Genutzt werden kann sie als nützliches Tool wie als destruktive Waffe.“
Die Technik, die uns die Freiheit des Internets gegeben hat, kann uns ausspähen, manipulieren und unsere Demokratie ansägen. Das zu verstehen, erscheint doch wichtig. Dass es dafür einen unkritischen Ein-Quellen-Text braucht, ist aber ebenso Problem wie Lösung.
+++ Eine Menge Reporterpreise wurden gestern Abend verliehen, etwa für die von Zeit Online und der Zeit betriebene Aufarbeitung von Anschlägen auf Flüchtlingsheime, die Panama-Papers (SZ) und Correctiv. Eine Auflistung aller Preisträger sowie zeitgemäße PDF-Versionen des Ausgezeichneten stehen auf der Website des Reporter-Forums. +++
+++ Redaktionen halten der Trollen und Verschwörungstheoretikern in ihren Kommentarspalten zu wenig entgegen, meint Stephan Goldmann bei Lousy Pennies, und Generationen von Social-Media-Redakteuren beißen darob fassungslos in die Tischkante. +++
+++ „Der Mitteldeutsche Rundfunk ist für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie wichtiger denn je... relevante, verlässliche und glaubwürdige Qualitätsanbieter im Radio, Fernsehen und im Netz ... die Menschen in ihren Lebenswelten erreichen, ihre Lebenswirklichkeit differenziert widerspiegeln, sie wahrheitsgemäß informieren, Hintergründe erklären und einordnen...“ – die frisch wiedergewählte MDR-Intendantin Karola Wille stellt ihre Ideen für die nächsten sechs Jahre vor (Quelle: MDR-Rundfunkrat). „Darüber hinaus hat der MDR-Rundfunkrat in seiner jüngsten Sitzung auch den Haushaltsplan für 2017 genehmigt. Dieser sieht in Summe ein Minus von 28,8 Millionen Euro vor, welches aber durch die Mittel aus der Beitragsrücklage ausgeglichen wird.“ (DWDL) +++
+++ „Seit einiger Zeit nun schmücken das Verlagsgebäude Plakate mit hübsch illustrierten Fragen, die Fans der ausgeruhten Wandlektüre zur kritischen Selbstüberprüfung auffordern. ,Habe ich das Unternehmensinteresse stets klar vor Augen? Auch wenn ich die Dinge privat in einem anderen Licht sehe?’ Oder: ,Kann man sich auf mich verlassen? Stehe ich zu meinem Wort als Geschäftspartner, als Vorgesetzter und als Kollege?’“. Katharina Riehl hat auf der Medienseite der SZ Investigatives von den Fluren des Burda-Verlags. +++ Zudem berichtet Viola Schenz über das Berliner Podcast-Label Viertausendhertz. +++
+++ In der NZZ fragt sich Rainer Stadler, wozu wir diese Digitalcharta (Altpapier am Donnerstag und Freitag) brauchen, die gestern Nachmittag im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. +++
+++ „Daten-Protzerei im Terabyte-Format“, „Unklare Quellenlage“, „Die Ankündigung, dass bald noch viel mehr kommt“: Acht Phänomene, die mit jeder großen Datengeschichte einhergehen, nennt Stefan Winterbauer bei Meedia. +++
+++ Die Website ist tot. Erklärt heute: Kurt Sagatz im Tagesspiegel. +++
+++ „Radio ist das vertrauteste Medium für heute alte Menschen, es war das Medium ihrer Jugend, bestimmte die Freizeit. Es war normal, gemeinsam Unterhaltungsshows, Sportübertragungen oder Konzerte im Radio zu hören. Deshalb habe ich ,Hörzeit’ im Stil der Radiosendungen aus den 1950ern konzipiert.“ Christine Schön bei kress.de über ihre Radiosendung für Menschen mit Demenz, die nun auf CD erscheint, weil kein öffentlich-rechtlicher Sender sich dafür interessierte. +++
+++ „Kann man den Holocaust tatsächlich in zehn Sekunden kurzen Snaps erzählen?“ Man kann es zumindest versuchen, dachten sich ein paar Reporter der Axel Springer Akademie. Es berichten horizont.net und DWDL. +++
+++ Gleich nach der „Tagesschau“ zeigt Arte heute die Doku „Angela Merkel: die Unerwartete“. Robert Birnbaum dazu im Tagesspiegel: „Die 90 Minuten liefern jedenfalls Fingerzeige darauf, dass das Unerwartete so verblüffend gar nicht war. Merkel war vorher keine eiskalte Machtmechanikerin und hinterher keine Gefühlsdusel-Tante. Aber schon dass Horst Seehofer (,Es war ein Fehler!!’) nur ein einziges Mal und in einer Archivaufnahme auftaucht, zeigt, dass da noch viel mehr zu erzählen gewesen wäre.“ Nico Fried auf der SZ-Medienseite: „Der bemerkenswerteste Eindruck an diesem Film ist nicht die politische Analyse, es ist der Vergleich der schieren Erscheinung Merkel von heute mit der Merkel nach der Wende.“ Und Holger Schmale im Kölner Stadt-Anzeiger: „Interessant ist, dass dies nicht auf chronologische Weise geschieht, sondern historische Wegmarken mit der aktuellen Rolle der Kanzlerin gegengeschnitten werden. Das ist ein Überraschungseffekt, der den Film immer wieder spannend macht.“ +++
+++ „Denn Ina Baltes, Ralph Goldmann, Andreas Halbach und Katja Nellissen zeichnen in ihrem Film nicht nur nach, was zwischen sieben Uhr abends am 31. Dezember 2015 und dem Morgen des Neujahrstags im Hauptbahnhof und am Dom geschah. Sie schauen auch auf die (kommunikations-)politischen und medialen Konsequenzen. Die stellenweise verblüffend lückenhafte Nacherzählung dieses Teils der Neujahrsgeschichte jedoch, auch was Versäumnisse des eigenen Senders betrifft, muss man wohl selbst unter den Folgen der Silvesternacht subsumieren, welche die Doku aufzuarbeiten angetreten ist.“ Ursula Scheer auf der FAZ-Medienseite über die „Frontal21“-Doku „Die Kölner Silvesternacht – Was geschah und was folgte“, die um 21 Uhr im ZDF läuft. +++
Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.