Demokratie ist ganz einfach. Alle vier Jahren gibt es in diesem Land Bundestagswahlen. Parteien werben um die Gunst der Wähler. Diese gehen am Wahltag in ihr Wahllokal, um ihre Stimme abzugeben, oder auch nicht. Ab 18:00 Uhr werden die Stimmen ausgezählt. Es gibt Sieger und Verlierer. Die Regierungsbildung endet schließlich mit der Wahl eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin. So einfach wie die Regierungsbildung ist im Prinzip auch die Berichterstattung. Die Medien informieren über die Parteien und deren Kandidaten. Sie schildern deren Konflikte und Parteiinterne Ränkespiele, bewerten Chancen und Risiken.
Journalisten haben zwar auch eine Meinung, aber diese ist lediglich ein Diskussionsangebot an ihre Leser. Das nennt sich Leitartikel oder Kommentar. In einer pluralistischen Gesellschaft findet so jeder Topf seinen passenden Deckel. Wer mit einem Medienangebot unzufrieden ist, sucht sich halt ein anderes. Insofern müssten wir zur Zeit in der besten aller Welten leben. In der Politik hat man die Auswahl von der AfD bis zur Linken. Im digitalisierten Mediensystem eine im Vergleich zu früher beispiellose Angebotsvielfalt. So war es noch nie so einfach, sich bei den Parteien selbst zu informieren. Zudem hat der sogenannte Mainstream seine Gatekeeper genannte Nadelöhrfunktion verloren. Niemand muss mehr der „Lügenpresse“ folgen. Er kann schließlich auch den Fake-News bei Facebook sein Vertrauen schenken. Warum hat eigentlich noch niemand Lügenbuch als Slogan erfunden?
Trotzdem sind alle frustriert. Woran liegt das bloß?
+++ Das könnte vielleicht daran liegen, das Einfache unnötig kompliziert zu machen. So hat gestern Abend die Bundeskanzlerin ihrer Partei, den Deutschen und dem Rest der Welt ihre erneute Kanzlerkandidatur mitgeteilt. Das war alles, nur keine Überraschung. Es hatte auch nachvollziehbarerweise den Charakter einer Selbstausrufung. Der Beschluss des CDU-Bundesvorstandes, Frau Merkel zu nominieren, spielte deshalb in der Berichterstattung keine Rolle. (Gab es überhaupt einen?) Vielmehr dominierten die Motive der Kanzlerin als eine Art psychologisches Selbstportrait.
Davon war auch das Interview mit Anne Will geprägt, wie in den TV-Kritiken nachzulesen ist. Etwa in der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung. Inhalte spielten daher keine Rolle. Stefan Kuzmany hat das auf Spiegel online prägnant zusammengefasst. Man hätte schon sich schon mit Kaffee wachhalten müssen, um beim Interview mit der Kanzlerin nicht einzuschlafen. Wie grotesk aber die Debatten mittlerweile verlaufen, zeigte sich an folgender Bemerkung von Kuzmany.
„Obwohl Merkel wenig Inhaltliches preisgegeben hat: Die Abschaffung des Kapitalismus als Kernforderung im Bundestagswahlkampf ist kaum von ihr zu erwarten.“
Eine entsprechende Formulierung über Helmut Kohl wäre schlicht undenkbar gewesen, sogar für Kabarettisten. Darin zeigt sich die Beliebigkeit eines solchen Politikverständnisses, selbst wenn es in diesem Fall um eine Aussage des Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz ging. Was sollen jetzt eigentlich Journalisten darüber berichten? Es gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.
+++ Zuviel Konkretheit könnte aber auch schaden. Das dokumentiert diese Meldung aus dem Deutschlandfunk über eine vergleichende Studie zum Thema Populismus. Dort finden sich zur Methodik folgende Sätze:
„Als empfänglich für populistische Positionen definiert die Studie jene Menschen, die bestimmte Grundüberzeugungen teilen: eine ablehnende Haltung zur EU, generelle Vorbehalte gegen Einwanderung in ihr Land, eine kritische Haltung gegenüber der gängigen Formulierung der Menschenrechte sowie eine Präferenz für eine robuste, auf nationale Interessen fokussierte Außenpolitik.“
Nun weiß zwar niemand, was unter der „gängigen Formulierung der Menschenrechte“ zu verstehen ist. Aber ohne das Kriterium der „ablehnenden Haltung zur EU“ erinnert das doch an eher klassische konservative Positionen in der deutschen Politik. Sie fand sich in der deutschen Politik unter anderem in der CDU/CSU wieder. Man kann sich auch nicht daran erinnern, dass etwa Frankreich oder Großbritannien jemals eine andere als eine „robuste, auf nationale Interessen fokussierte Außenpolitik“ gemacht haben. Mit der Charakterisierung als „populistisch“ soll eine solche Position delegitimiert werden. Sie wird damit als außerhalb des etablierten Meinungsspektrums verortet. Auf dieser Grundlage sollte sich wirklich niemand wundern, wenn sich manche Mediennutzer anschließend einen anderen Deckel für den passenden Topf suchen.
+++ Während die Kanzlerin auf einer Pressekonferenz ihre erneute Kandidatur verkündete, beschäftigte sich im ZDF Berlin direkt mit dem Berliner Politikjournalismus. In der Beziehung ist übrigens immer noch Tom Schimmecks Studie „Am besten nichts neues“ aus dem Jahr 2010 zu empfehlen. Er hat schon damals die Mechanismen anschaulich beschrieben, die auch jetzt wieder zur Diskussion stehen. In Berlin direkt hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen noch einmal auf eine Selbstverständlichkeit hingewiesen. Politik und Journalismus betrachteten sich ja „traditionell als gegensätzlich“.
Das habe sich geändert, so Pörksen. Sie werden mittlerweile von vielen Mediennutzern als Teil des etablierten Politiksystems wahrgenommen. Die nicht nur von Schimmeck schon vor Jahren artikulierte Kritik ist also beim Publikum angekommen, so könnte man das auch formulieren. Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, sieht in der sozialen und ideologischen Homogenität von Journalisten das Problem. Der CDU nahestehende Journalisten wären dort nur noch selten anzutreffen. Die parteipolitischen Präferenzen gingen zu den Grünen, was man den meisten Beiträgen auch anmerkte. Auf Twitter kommentierte das Simone Peter als Parteivorsitzende der Grünen wie folgt.
„Dass viele Journalisten Grün wählen würden, fände ich nicht beklagenswert. Aber dass sich das aufs Produkt auswirke, spricht Neutralität ab.“
+++ Dabei kann man das tatsächlich dem Mediennutzer selbst überlassen. Er muss eine eigene Wahlentscheidung treffen. Zudem wird er sonst auch nicht mehr die Angebote nutzen, die der etablierte Journalismus anzubieten hat. Der grenzt sich gerade von dem Lügenbuch ab, das offensichtlich auf Facebook zu finden gewesen ist. Daniel Bouhs hat in der taz die Diskussion zusammengefasst:
„ Am diesem Wochenende nun aber informierte der Konzernchef mit einem Facebook-Eintrag: Man nehme Falschinformationen „ernst“ und arbeite – siehe da! – „schon lange an diesem Problem“. Er gesteht also ein: Das Facebook-Management hat vor geraumer Zeit festgestellt, wie gefährlich Falschmeldungen sein können, die sich mitunter rasant verbreiten. Gleich mehrere Entwicklungen in den vergangenen Tagen dürften den Facebook-Chef zur öffentlichen Kehrtwende bewogen haben: Die Nachrichtenseite Buzzfeed, die in den USA auch ernsthaften Journalismus betreibt, hat in der vergangenen Woche eine brisante Analyse veröffentlicht. Demnach haben sich zur Präsidentschaftswahl Falschmeldungen weiter verbreitet als seriöse Medienberichte. Facebook hat das bislang nicht dementiert.“ (Links im Original)
Ob daran Facebook als Plattform-Betreiber etwa ändern kann, ist allerdings zu bezweifeln. Man kann nämlich lediglich auf das Interesse des Mediennutzers an seriöser Information vertrauen. Martin Giesler hat dazu 99 Thesen verfasst. Unter der Nummer 78 findet sich folgende Aussage.
„Journalisten werden fake news in sozialen Netzwerken aufspüren und Nutzer durch „echten“ Journalismus vom Gegenteil überzeugen (müssen).“
Unter der Nummer 89 findet sich der Appell an den Wachhund namens Journalismus.
„Journalisten müssen mehr denn je als Watchdogs agieren, um Falschinformation und Populismus keinen Raum zu geben.“
Womit man wieder an den Ausgangspunkt gekommen ist. Wer dem Populismus keinen Raum geben will, wird nämlich scheitern. Er findet genügend Raum woanders. Daran lässt sich nichts mehr ändern. Und am Ende ist Demokratie ganz einfach. Der Mediennutzer wird wie der Wähler selber eine Entscheidung treffen müssen. Die wird ihm kein Journalist abnehmen können, selbst wenn er dessen Entscheidungen für falsch halten sollte. Zum Glück gibt es aber auch nicht den Mediennutzer als homogene Masse. Das ist vielleicht ein Trost.
Was man bei Giesler übrigens unter der Nummer 99 findet? Seine Jobsuche. Zweifellos sind damit die "99 Gedanken zur Entwicklung von Social Media und Journalismus" eine originelle Form des Bewerbungsschreibens.
Altpapierkorb
+++ Wie sich Falschmeldungen über die sozialen Netzwerke verbreiten, hat ebenfalls die New York Times recherchiert. „After midnight, Mr. Tucker deleted his original tweet, then posted an image of it stamped with the word “false” for posterity. It did not receive much attention. After a week, that message had 29 retweets and 27 likes. The Snopes article has been shared about 5,800 times according to its website, a fraction of the number for the fake version of the news. Faced with the impact of his initial tweet, Mr. Tucker, who now has about 960 Twitter followers, allowed himself a moment of reflection. “Anytime you see me in the future going out there where I think there’s going to be a big audience, I can assure you I’m going to try my best to be balanced with the facts and be very clear about what is opinion and what is not,” Mr. Tucker said. If he could go back, he said, “I might have still tweeted it but very differently. I think it goes without saying I would have tried to make a more objective statement.” Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass Mediennutzer aus solchen Vorfällen eine gesunde Skepsis gegenüber sozialen Netzwerken entwickeln. Allerdings brauchen diese häufig immer noch die klassischen Medien als Brandbeschleuniger.
+++ Dazu passend: Über Fake-News in klassischen Medien findet man etwas bei Uebermedien.
+++ Selbsterfahrung steht zur Zeit im Journalismus hoch im Kurs. An diesem Montag findet man zwei Beispiele. Im Spiegel hat sich Jan Fleischhauer in die Echokammern der AfD begeben. In der FAS hat es Friederike Haupt mit dem alten Axel Springer Motto „Seid nett zueinander“ versucht. Beide Artikel sind noch nicht online.
+++ Anmerkungen zum Thema Interviews findet man dagegen auf Kress in der Kolumne von Paul-Josef Raue. Schon sechs Tage alt, aber heute wieder aktuell. Dort wird nämlich auch nicht erkennbar wird, wie man eigentlich die Bundeskanzlerin interviewen soll.
+++ Unter Umständen war die Idee, den Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz zu Anne Will einzuladen, der Vermutung geschuldet, es bei der Kanzlerin tatsächlich vor allem mit deren psychologischen Motiven zu tun zu haben. Es wäre eine Erklärung, der im Interview mit der Kanzlerin nicht jede empirische Relevanz abzusprechen wäre. Dazu passt übrigens dieser schon ältere Artikel auf Uebermedien, der sich mit mit dem Problem psychologischer Ferndiagnosen beschäftigt. Anlass war besagter Maaz. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gab es eine vergleichbare Debatte, wie in diesem Artikel auf Zeit online aus dem Sommer nachzulesen ist. Vielleicht solte man sich doch besser den politischen Inhalten widmen.
+++ Wie man den Fallstricken sozialer Netzwerke entkommt? Dazu gibt es von Hans-Jürgen Jakobs, früherer Chefredakteur des Handelsblatts, in einem Interview auf Kress interessante Hinweise. „kress.de: Allerdings. Über einen Ihrer Protagonisten, Abdullah bin Mohammed bin Saud Al-Thani, findet sich in der deutschsprachigen Wikipedia kein Artikel, und in der englischsprachigen gibt es nur drei Zeilen mit seinen biographischen Daten. Wird der katarische Scheich unterschätzt? Hans-Jürgen Jakobs: Was für ihn gilt, gilt für alle Scheichs. Man kann und darf sie nicht unterschätzen. Wissen Sie, warum Sie im Internet nichts über diese Leute finden? Weil sie keine Interviews geben und auch keine Informationen preisgeben - oder zumindest nur ganz selten. Es handelt sich bei ihnen um völlig abgeschottete Investoren, die zu Herrscherfamilien gehören. Sie setzen das Geld aus der Erdöl- und Erdgasförderung zielgerichtet in Volkswirtschaften ein.“ Die Lösung heißt Datensparsamkeit. Die können sich die Investoren aus dem Morgenland aber auch leisten. Sie müssen schließlich von niemanden gewählt werden.
+++ In Frankreich haben die Konservativen in einer Urwahl ihren Spitzenkandidaten gesucht. In welcher psychologischen Verfassung der frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy jetzt ist, wissen wir nicht so genau. Es ist kein journalistisches Thema, weil er sich schließlich nicht selbst ausrufen konnte. So merkt man doch, wie Verfahren zur Findung eines Kandidaten zugleich die Berichterstattung beeinflussen. Wobei der Spitzenreiter keineswegs der Favorit der Presse gewesen ist, wie Nils Minkmar kurz und bündig diagnostiziert.
+++ Was an solchen Montagen selten fehlt? Die Türkei. Im dritten Radio-Programm des WDR gibt es ab kommenden Mittwoch ein Hörspiel in vier Teilen über die Lage von Journalisten in Erdognas Reich. „In TÜRKEI UNZENSIERT berichten Autoren, die zuhause ihre Plattformen und Kanäle verloren haben. Sie erzählen, wie ihr Alltag sich verändert, wie täglich Freiheiten beschnitten und Bürgerrechte verletzt werden. Von Woche zu Woche beschreiben sie, wie ihr Land, das einmal auf dem Weg zum Rechtsstaat war, immer weiter in Richtung Diktatur abdriftet.“ Zuhören lohnt sich.
+++ Dazu auch dieser Artikel aus der New York Times. Der türkische Präsident nimmt den Nicht-Raucherschutz offensichtlich ernst. Der Kolumnist Kadri Gursel nahm das zum Anlaß, um zum „Rauchen gegen Erdogan“ aufzufordern. Was ihm passierte? „For that, Mr. Gursel was arrested on terrorism charges and is being held in pretrial detention, one of 120 journalists who have been jailed in Turkey’s crackdown on the news media since a failed coup attempt in July. There, he has the company of 10 colleagues from his newspaper, Cumhuriyet, the country’s last major independent publication. Among them are its editor and the paper’s chief executive, arrested as he stepped off a flight to Istanbul last Friday. Turkey now has handily outstripped China as the world’s biggest jailer of journalists, according to figures compiled by the Committee to Protect Journalists.“ Da fällt einem wirklich nichts mehr zu ein.
+++ Zum Thema „Neutralität im Journalismus“ dieser Hinweis auf einen Kommentar von Andreas Stopp in „Markt und Medien“ im Deutschlandfunk. Es geht um ein Gerichtsurteil aus Österreich. „Aber nur den Eindruck! In Wirklichkeit ist der Text quasi gekauft. Warum sollte man das dem unbedarften Leser sagen? Müssen wir nicht, sagt jetzt das österreichische Höchste Gericht: Alles Schmarrn, die Leser halten Zeitungsartikel, alle und überhaupt, ohnehin für gekauft, tendenziell, gefärbt, beeinflusst, subjektiv, gelenkt, manipulativ. Konsequenterweise muss auch gar nicht mehr unterschieden werden zwischen redaktionellen Teilen und bezahlter Werbung. Willkommen im postfaktischen Journalismus, kann ich da nur sagen. Art, Ursprung, Genese des Inhalts, der Fakten, spielt keine Rolle mehr! Allein die gefühlte Wahrheit entscheidet! Ab in die Restmülltonne mit der Objektivität des qualifizierten Journalismus, was bleiben darf, ist Lügenpresse. Weiss doch eh‘ jeder und das kann ja jetzt auch endlich mal gesetzlich legitimiert, gerichtlich verankert und als "normal" deklariert werden, dass Medien nicht trennen zwischen Wahrheit und Manipulation.“ Offensichtlich hat Österreich nicht nur ein Problem mit der ordnungsgemäßen Durchführung von Präsidentschaftswahlen.
+++ Über die kritische Lage eines unabhängigen Journalismus in Israel hört man etwas in „Töne, Texte, Bilder“ auf WDR 5. Dafür haben aber Youtube-Stars keine Legitimationsdefizite, wie im Standard zu lesen ist. Es handelt sich ja auch um eine Fan-Kultur.
+++ Von der Bild gibt es auch etwas Neues: Sie machen jetzt Rundfunk. Deshalb wird man wahrscheinlich auch weiterhin Programmzeitschriften brauchen. Dazu auf Turi Christian Hellmann, Chefredakteur der Hörzu.
+++ Ob der Presserat dabei helfen kann, die Frustration von Journalisten und Mediennutzern zu beenden? Daran sind auch nach sechzig Jahren Zweifel angebracht.
+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Wann Fake-News tatsächlich Fakes sind. Und wie alle auf den "galoppierenden Wahnsinn" des twitternden Donald Trump hereinfallen, zeigt Don Alphonso.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.