Der gedruckte Spiegel kann naturgemäß nicht aktuell auf die Ergebnisse von am Sonntag stattfindenden Wahlen reagieren, aber in der aktuellen Ausgabe findet sich ein Interview, das im Nachgang der #ltwmv16 durchaus anregend ist. Das Magazin hat mit dem 90-jährigen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman gesprochen, der unter anderem sagt:
„Der Flüchtling ist, wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht ‚Die Landschaft des Exils’ schrieb, ein Bote des Unglücks. Er bringt die schlechten Nachrichten, die Konflikte und Stürme aus der Ferne vor unsere Haustür. Er führt uns vor Augen, dass es globale, nicht leicht vorzustellende Kräfte gibt, die weit draußen wirken, aber mächtig genug sind, auch unser Leben zu beeinträchtigen.“
Dass „unser Leben“ bisher durch Flüchtlinge „beeinträchtigt“ worden wäre, würde ich allerdings nicht sagen (und verweise in diesem Zusammenhang auf diese und diese luzide Anmerkung von Patrick Bahners vom heutigen Morgen). Bauman sagt des weiteren:
„Den Flüchtling trifft ein umgeleiteter Zorn. Der Sündenbock erleichtert das beunruhigende und demütigende Gefühl unserer Hilflosigkeit und existenziellen Unsicherheit, dem wir alle in der flüssigen Moderne ausgesetzt sind. Das ist die Chance der politischen Stimmenfänger (…) Das Versprechen, die unerwünschten Ausländer draußen zu halten, ist eine Art Exorzismus.“
Bemerkenswert ist, dass der von Bauman geprägte Begriff „fluid modernity“ hier mit „flüssige Moderne“ übersetzt wird, sonst aber in der Regel mit „flüchtige Moderne“ (siehe hier und hier).
Der nicht-gedruckte Spiegel - also Spiegel Online, um es weniger verklausuliert zu formulieren - hat ein neues Layout (siehe dazu Chefredakteur Florian Harms in eigener Sache), und dort findet sich unter anderem ein Artikel Hasnain Kazims über einen möglicherweise geläuterten Ex-Stimmenfänger und Ex-Exorxisten (um es in Anlehnung an Zygmunt Bauman zu sagen). Stefan Petzner, einst Wahlkampfmanager Jörg Haiders bzw. „der Sohn einer Bauernfamilie aus Kärnten, der heute in Wien lebt“, sagt heute:
“So manches, was wir gemacht haben, war sicherlich nicht sehr menschlich.“
Insofern ist immerhin nicht auszuschließen, dass in einigen Jahren der eine oder andere AfDist zum Humanismus konvertiert.
„Populisten gehörten zu einer Demokratie dazu - aber als ‚kleiner Teil der Opposition‘, sagt Petzner. Gefährlich werde es, wenn sie an die Macht kämen. Die AfD in Deutschland und Donald Trump in den USA, so sagt Petzner, seien auch deshalb erfolgreich, weil Medien und politische Gegner sich ‚auf jeden Tabubruch, auf jede Grenzüberschreitung‘ einließen und ihnen damit erst recht Aufmerksamkeit verschafften.“
[+++] Das sieht Joachim Huber (Tagesspiegel) möglicherweise etwas anders, jedenfalls ist er gerade auf Zinne, weil die ARD am Sonntag daran festgehalten hat und das ZDF anlässlich der Wahlen in Berlin daran festhalten wird, die „Berliner Runde“ mit Vertretern der Bundestagsparteien zu besetzen - weshalb, um noch einmal Bauman aufzugreifen, die Exorzisten außen vor bleiben.
„Über die AfD reden, reicht längst nicht mehr, mit der AfD diskutieren ist das Gebot der Fernsehstunde“,
schreit schreibt Huber auch noch, obwohl er damit, wenn man mal an die Präsenz von AfD-Leuten in Talkshows denkt, nicht mal mehr Türen einrennt, sondern durch Rahmen stürmt, in denen gar keine Türen mehr hängen.
Zu den „Geboten der Fernsehstunde“ würde ich ja eher Beiträge zählen, wie sie jenseits des Fernsehens gerade die NZZ produziert hat: „Idomeni – wo war das noch?“ fragt sie ihre Leser und erinnert auch an andere Orte, die in der Berichterstattung über die Flüchtlingsbewegungen seit dem Sommer 2015 kurzfristig eine zentrale Rolle spielten, nun aber schon wieder vergessen sind, „(weil) sich das Interesse der Öffentlichkeit von einem Schauplatz zum nächsten verschiebt“. Die NZZ verlinkt in dem Zusammenhang auch noch mal auf wichtige Artikel aus der jüngeren Vergangenheit, zum Beispiel aus dem Juli dieses Jahres über ein Flüchtlingslager im Libanon.
[+++] Aus der langen Reihe von Nazi-Angriffen auf Journalisten: „Neonazis und Rechte aus der Dortmunder und Münchener Szene“, die bei einer AfD-Wahlparty in München mitfeierten, haben Menschen attackiert, die gegen die Veranstaltung protestierten - und Fotografen, die als Berichterstatter anwesend waren. Unter anderem sei der „Neonazi-Rapper“ Chris Ares beteiligt gewesen. Das berichtet das Neue Deutschland. Auch der Störungsmelder von Zeit Online geht auf den Vorfall ein. Und die SZ schreibt:
„Mehrere Zeugen berichteten am Montag übereinstimmend, dass am Sonntag gegen 17.45 Uhr zwei bis drei Dutzend Demonstranten vor die Gaststätte Portugal an der Friedenstraße zogen und gegen die AfD demonstrieren wollten. Dort erwartete sie offenbar bereits eine größere Gruppe. Mehrere Männer sollen kurz darauf auf die Demonstranten und zwei Fotografen losgegangen sein. ‚Das war gemeingefährlich‘, sagt ein Zeuge.“
Auf dem Watchblog augenzeugen.info ist der Vorfall noch nicht dokumentiert, ein aktueller Text dort gibt aber Aufschluss darüber, welche Strafen für derartige tätliche Angriffe auf Journalisten drohen.
[+++] Um „unser“ Geld - angesprochen fühlen dürfen sich jetzt Leser, die als Autoren tätig sind - geht es in einem Beitrag Wolfgang Michals zur Debatte um die VG-Wort-Ausschüttungen (siehe unter anderem dieses Altpapier). Der aktuelle Anlass des Artikels ist folgender:
„Am kommenden Samstag treffen sich die Mitglieder der Verwertungsgesellschaft Wort im Münchner Hofbräukeller. Es geht um die Rückzahlung der Gelder, die laut Bundesgerichtshof zu Unrecht an die Verlage ausgeschüttet wurden. Die Führung der VG Wort möchte, dass die Autoren zugunsten der Verleger auf das Geld verzichten.“
Michal geht unter anderem ein auf die „seltsame Koalition der Gewerkschaften mit ihren nominellen Gegnern“, wie es einer der Kommentatoren unter seinem Text formuliert:
„Die VG Wort-Funktionäre haben extra zwei hochkomplizierte Anträge aufgesetzt, mit denen sie die Autoren am kommenden Samstag von einer schnellen und umfassenden Rückforderung des Geldes abhalten wollen. Auch die großen Koalitionen in Berlin und Brüssel arbeiten daran, die einschlägigen Urteile des BGH und des Europäischen Gerichtshofs durch hastig gestrickte Gesetze wieder auszuhebeln, und selbst die Gewerkschafts-Funktionäre, die doch eigentlich die Interessen der Autoren zu 100 Prozent vertreten müssten, wollen, dass ihre Mitglieder auf einen Teil ihres Einkommens zugunsten der Verleger verzichten. Sie hoffen, dass die Verleger den Autoren dafür beim Urhebervertragsrecht entgegenkommen.“
Michal regt daher dazu an, zur Versammlung nach München zu fahren und dort gepflegte Bambule zu veranstalten:
„Offenbar gibt es die berechtigte Sorge, dass in München einige Autoren tatsächlich aufstehen und ihre Interessen selbstständig vertreten könnten. Es wäre dann gewiss nicht leicht, solche Autoren davon zu überzeugen, dass ein 500-Euro-Scheck (verbunden mit der vagen Aussicht auf Verbesserungen im Urhebervertragsrecht) besser ist als ein 1000-Euro-Scheck. Man wird deshalb versuchen, diese ‚Störenfriede‘ mit allen möglichen Geschäftsordnungsfinessen zu behindern, man wird die betonharte Satzung heranziehen, um jede Veränderung im Sinne der Autoren zu blockieren. Man wird den Autoren Horrorszenarien ausmalen, wenn sie – wider alle Vernunft – 1000 Euro auf ihrem Konto nützlicher finden als 500.“
Als Kontrapunkt empfiehlt sich ein langer, vor zweieinhalb Wochen erschienener Text von Ulf Froitzheim, der als DJV-Mann sowohl die VG-Wort-Strategie seiner Gewerkschaft verteidigt als auch die Freischreiber - bei denen Michal Mitglied ist (der aber gleichzeitig der von ihm attackierten Deutschen Journalisten-Union angehört) - für deren Positionen in Sachen VG Wort angreift.
Altpapierkorb
+++ Silke Burmester bastelt derzeit „an einem Konzept für ein Print- und Onlinemagazin“, erzählt sie in einem Interview mit kress.de. „Und wenn das gelingen sollte, dann steht es absolut in der Tradition des Gestaltenwollens und des Sicheinmischens (...) Wenn ich die Mittel hätte, könnte ich innerhalb kürzester Zeit etwas unglaublich Gutes raushauen. Ich habe aber nicht viel Vertrauen in die großen Verlage. Ich möchte mir das Konzept auch nicht von einer Anzeigenabteilung kaputtmachen lassen. Über Kooperationen kann man nachdenken, aber generell muss ich versuchen, es selbst aufzustellen (...) Tatsächlich fühlte es sich ein bisschen so an, als würde ich ein Kreuzfahrtschiff bauen. Natürlich muss ich zusehen, dass ich einen Maschinisten ranhole, einen, der Karten lesen kann, und jemand, der die Küche bestückt. Die Größenordnung hat das". Hauptsächlich hat Interviewerin Anna von Garmissen aber mit Burmester über deren neues Buch „Mutterblues. Mein Kind wird erwachsen, und was werde ich?“ gesprochen.
+++ Für die SZ schreibt Burmester heute über die Indiecon, die Tagung und Messe der Indie-Magazine, die am Wochenende in Hamburg stattfand, also über das Treffen von Menschen, die ihr Schiff bereits gebaut haben (wenn auch kein Kreuzfahrtschiff). Unter anderem geht es um das von Ricarda Messner gegründete Sofa, „ein trashig anmutendes, englischsprachiges Heft für junge Frauen mit dem Slogan ‚Life is A Chatroom‘, angelegt zwischen dem feministischen Ausdruck eines Missy Magazins und dem grafischen Overkill von Bravo.“
+++ Jenseits von Indie und Burmesters Kreuzfahrtschiff in spe: die Zeitschrift Zeit Magazin Mann, die heute erstmals am Kiosk liegt. Tagesspiegel-Redakteur Joachim Huber, der weiter oben schon erwähnte Zombie-Experte, hat das 8,50 Euro teure Ding bereits gelesen. Desgleichen Jens Twiehaus (turi2): Der Ableger positioniere sich „als Magazin, das bei seinen Lesern untenrum mit dem Sexappeal des Geldes für Bewegung sorgt“, zotet er. Es solle wohl „zum Pflichtblatt für sämtliche Golfclubs der Republik“ werden, schreibt er außerdem.
+++ Sorgen machen muss man sich möglicherweise um Elke Heidenreich, jedenfalls, sofern man der Ansicht ist, dass sie jemals eine kluge Literaturkritikerin war. Im „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens attestierte sie gerade einer Romanautorin eine „ernsthafte Störung“, das heißt, sie tat, wie der Tages-Anzeiger bemerkt, etwas, „was Studenten nach dem ersten Semester Germanistik nicht mehr tun: Sie verwechselte grobschlächtig die Kategorien und schloss vom Werk auf das Leben. Auch wendete sie das höchst problematische Verfahren an, unliebsame oder unbequeme Literatur zu pathologisieren. Wer ein künstlerisches Werk für nicht gut befindet und den Urheber deshalb für geisteskrank erklärt, führt ein historisch schwer belastetes Erbe fort.“ Bereits 2014 war Heidenreich mit einer Peinlichkeit im „Literaturclub“ aufgefallen (siehe Altpapier, am Ende des Korbs).
+++ Eine „vertiefte Analyse“ des Eurobarometers zum Thema Medienvertrauen, also der „jährlichen Bevölkerungsbefragung im Auftrag der Europäischen Kommission“, präsentiert das Europäische Journalismus-Observatorium. Warum ich mit dem Begriff „Medienvertrauen“ Probleme habe, habe ich im Altpapier schon einmal erläutert.
+++ Ihr Vertrauen verspielen möglicherweise Radiosender, die „Fake-Gespräche oder als live verkaufte, aufgezeichnete Aufsager“ für opportun halten. Solche Elemente seien „in vielen Sendern und Nachrichtenredaktionen üblich“, weiß fairradio.de - und liefert eine Recherche, die belegt, dass auch die Nachrichtenredaktion von Bayern 1 ihre Hörer in die Irre führt. „Der Bayerische Rundfunk spielt hier mit der Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten. Und er tut es ohne jede Notwendigkeit. Ein ehrlich anmoderiertes Reporterstück erfüllt journalistisch den gleichen Zweck. Aber: Wer live klingen möchte, ohne sich die Arbeit einer echten Live-Sendung zu machen, täuscht seine Hörer. Das ist gerade in Zeiten von ‚Lügenpresse‘-Vorwürfen brandgefährlich für die Glaubwürdigkeit aller Radiomacher.“
+++ Der Grünen-Europapolitiker Jan Philipp Albrecht führt im Aufmachertext der FAZ-Medienseite die neulich von VG-Media-Geschäftsführer Markus Runde mit einer Forderung nach einem nationalen Digitalgesetz (siehe Altpapier) begonnene Debatte fort. Albrecht schreibt: „Runde führt aus, die Politik müsse in der Lage sein, nationale Gesetze für das Internetzeitalter zu erlassen und gegenüber den global agierenden Konzernen durchzusetzen. Er missachtet, dass die Schwäche Europas in dieser Frage vor allem aus der massiven Fragmentierung des EU-Binnenmarkts und den jahrelangen Alleingängen der Nationalstaaten resultiert. Zu dem Problem tragen nicht nur Parteien, sondern auch nationale Interessensverbände und Medien bei. Gerade in der Medienwirtschaft sind deutsche Unternehmen noch immer die Ansicht, dass sie es alleine mit der globalisierten Internetökonomie aufnehmen können. Ein Fehler, der die europäische Wirtschaft noch teuer zu stehen kommen wird (…)“ Albrecht empfiehlt auch dringend, „sich mit den zahlreichen, bereits angeregten Gesetzgebungsvorhaben zum digitalen Binnenmarkt der EU beschäftigen“.
+++ Ebenfalls auf der FAZ-Medienseite: „Der Blog des Autors Dennis Cooper ist seit ein paar Tagen wieder verfügbar.“ Im Juli hatte Google, auf dessen Dienst blogger.com Coopers Online-Tagebuch verankert war, dieses „ohne Angaben von Gründen gelöscht“ (siehe Altpapier).
+++ Dass der Geschäftsbericht des WDR für 2015 „ein Defizit von 104,3 Millionen Euro verzeichnet“, meldet die FAZ auch noch.
+++ Old media rules okay: „Zum ersten Mal seit vielen Jahren“ haben sowohl die New York Times als auch die Washington Post digital mehr Publikum erreicht als Buzzfeed und die Huffington Post, schreibt Politico. Das bezieht sich auf den Monat Juli.
+++ Die SZ geht darauf ein, dass am morgigen Mittwoch die Newspaper Association of America (NAA) „auf ihrer Jahrestagung in Chicago das nicht unbedeutende Wort ‚Newspaper‘ (Zeitung) aus ihrem Namen tilgen will“ (siehe auch Altpapier von Montag).
+++ Die Medienkorrespondenz stellt ausführlich Bremen Next vor, das am 17. August gestartete, sich an die jüngere Zielgruppe wendende Hörfunkprogramm von Radio Bremen (siehe Altpapier), und geht dabei auch auf die Kritik des Privatsender-Lobbyverbandes VPRT ein: „‚Das Vorgehen bei Bremen Next folgt einem bekannten Muster: Programme werden online gestartet und dann systematisch zuerst digital-terrestrisch und später über UKW verbreitet. Damit treibt die ARD die Expansion zu Lasten privater Radioangebote voran und macht sich die bisweilen unklaren rechtlichen Grenzen zunutze“‘, erklärte Klaus Schunk, der Vorsitzende des Fachbereichs Radio und Audiodienste im VPRT (…) Um die Zukunft des Radios ‚verlässlich und in einem faireren Verhältnis von ARD und Privaten zu regeln‘, forderte Schunk einen länderübergreifenden und bundesweit geltenden Radiostaatsvertrag.“
+++ Interviews mit ZDF-Hierarchen (I): Gegenüber dwdl.de kündigt Programmdirektor Norbert Himmler an, ZDFneo „mit eigener Fiction stärken“ zu wollen, „die bewusst für die 30- bis 59-Jährigen gedacht und gemacht wurde. Dabei geht es nicht um Programme, bei denen wir Synergien mit dem Hauptprogramm erreichen wollen. Dabei geht es um die Stärkung der Genres, die nicht klassisch im ZDF zuhause sind: Non-Crime-Drama und Sitcoms.“
+++ Interviews mit ZDF-Hierarchen (II): medienpolitik.net hat mit Produktionsdirektor Andreas Bereczky über 360°-Bilder und Virtual Reality (VR) gesprochen. Das ZDF habe zwei demnächst zu sehende Folgen des Formats „Terra X“ - „Vulkane“ und „Das Geheimnis der Wolfskinder“ - „mit VR-Elementen produziert, die dann über die ZDF Mediathek abrufbar sind“, sagt Bereczky unter anderem.
+++ Heute im Fernsehen: eine Dokumentation, die „spannend wie eine Detektivgeschichte“ ist, wie das Hamburger Abendblatt meint. „Als in den 70er-Jahren in Kambodscha der Bürgerkrieg tobte, nutzten Plünderer die unübersichtliche Lage aus und machten sich über viele Tempel her“ - das ist der Ausgangspunkt für den Arte-Film „Die Spur der Tempelritter“.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.