Immer noch eine gute Wundertüte

Immer noch eine gute Wundertüte
Die FAZ feiert glamourlos eine alte Werbekampagne, schreibt einen lesenswerten Offenen Brief und besucht einen alten Sportreporter in Strickjacke, der über Doping und Drohnenjournalismus berichtet. Außerdem: eine frische Antisemitismus-in-Medien-Diskussion; Erfolgsgeheimnisse der neuen "#1".

Etwas überdurchschnittlich steht die Frankfurter Allgemeine Zeitung zumindest immer dann da, wenn es um das fast die ganze Presse betreffende Problem des Auflagenschrumpfens geht. Im letzten Quartal verlor sie, je nachdem ob man die in Flugzeugen oder auf Bahnhöfen verteilten Exemplare mitzählt oder nicht, 13,4 bzw. 6, 7 Prozent (meedia.de, Tabellen weiter unten).

Auf den Einnahmenseite dürfte es also recht finster aussehen. Zwar kann sich das Politikressort heute über eine ganzseitige Text-Anzeige des Königreichs Saudi-Arabien ("Initiativen und Aktionen zur Bekämpfung von Terrorismus") freuen. Aber viel Geld bringen solche Anzeigen nicht mehr ein (vgl. Altpapier letzte Woche).

Meanwhile läuft der angekündigte Abbau von "bis zu 200 Stellen" (vgl. Altpapier aus dem September '14). Und der Glamour der Jahre, in denen Frank Schirrmacher noch lebte, fehlt halt auch. Was bei der Neubesetzung des Postens aber womöglich so geplant war.

"Bei Schirrmacher dachten viele, er sei der alleinige Chef der 'FAZ'. Das ärgerte die anderen Herausgeber, allesamt gleichberechtigt, immer wieder. Nicht zuletzt den für die Politik zuständigen Günther Nonnenmacher",

heißt es im Artikel "Dahinter fehlt ein kluger Kopf" der Madsack-Presse. Bei blendle.com ist über die Leipziger Volkszeitung er für 0,25 Euro zu haben. Die Ausgabe lohnt sich, er ist (mit dem rauchenden späten Helmut Schmidt, der einer Köpfe für die bekannte alte Werbekampagne war) auch ansprechend illiustriert, obwohl es darin vor allem um den Schirrmacher-Nachfolger geht, also den amtierenden Feuilleton-Herausgeber Jürgen Kaube. Dieser "bärtige Soziologe bewegte sich an bei der Jubiläumsfeier in Berlin", und zwar der zum 20-jährigen Jubiläum just jener Werbekampagne (auf der womöglich auch Saudi-Arabiens Botschafter feierte?)

"unauffällig durch die Menge und verharrte schließlich an einem der Stehtische am Rand des Geschehens. Keine Traube von Menschen umringte ihn, kaum einer beachtete ihn. Kaube ist nicht der Typ für den strahlenden Auftritt, die öffentliche Provokation, den Willen, die Welt zu deuten. Niemand kennt ihn aus dem Fernsehen, keine Talkshow diskutiert seine Bücher",

schreibt Ulrike Simon, die überhaupt ganz schön bissig geworden ist; ein anderes Beispiel dafür folgt später noch.

"Vergleichen mit Schirrmacher hält Kaube nicht stand. Sie wären unfair. Zu groß sind die Fußstapfen. ... Zwar antwortet er zügig auf Mails, reagiert freundlich, wenn man ihn anspricht. Aber ..."

undsoweiter.

Andererseits, heute vorn oben links auf dem Feuilleton, da steht der "Offene Brief" "Lieber Götz Aly", mit dem "Ihr Jürgen Kaube", so die Unterschrift, auf den gestern hier erwähnten, in der BLZ erhobenen, abenteuerlichen Antisemitismus-Vorwurf des Historikers Aly an diverse deutsche Mark-Zuckerberg-Kritiker, darunter den FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, reagiert. Kaube weist den Vorwurf entschieden zurück:

"Die Kritik daran, dass jemand Firmen und zuvorderst seine eigene als die Treuhänder des gesellschaftlichen Fortschritts darstellt, die Kritik an einer Verschleierung partikularer Interessen als gemeinnützig - einst nannte man so etwas Ideologiekritik. Sie, Herr Aly, nennen es antisemitisch ... Offenbar aber halten Sie Skepsis gegenüber den Selbstdarstellungen von Konzernchefs und Kritik an ihren Phrasen für so abwegig, dass man gleich zu den psychologischen Motiven derer übergehen kann, die sie äußern",

schreibt er und hat auch die sonstige Diskussion, etwa auf Facebook selbst, im Blick:

"Der Schriftsteller Per Leo, der über die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland geforscht hat, bringt es in einem Facebook-Eintrag zu Ihrer infamen Behauptung auf den Begriff: 'Aus Zuckerberg einen 'Juden' gemacht zu haben, diesen Vorwurf muss sich in diesem Fall einzig und allein Götz Aly gefallen lassen.'"

Kurzum, Kaube zeigt sich als guter Herausgeber, der sich mit einem geschliffen argumentierenden, auch einzeln lesenswerten (inzwischen frei online verfügbaren) Beitrag vor seinen Mitarbeiter stellt.

Unter dem Text steht übrigens ein gesetztes Gedicht (Lars Gustafsson, "Am Grab einer Schauspielerin"), rechts daneben setzt ein Gemälde (Adolph Menzel, "Dame mit Opernglas") einen vor allem beigefarbenen Farbtupfer in der Bleiwüste. Die FAZ ist, wenn man eine gedruckte Zeitung als Wundertüte betrachtet, immer noch eine ziemlich gute, würde ich sagen.

Weiter hinten auf seiner Medienseite geht Hanfeld selbst wieder ran. Heute beglossiert er die aus US-amerikanischen Medien (nytimes.com) vielleicht geläufige, aber arg komplizierte Sache mit Martin Shkreli ("Pharma-Spekulant", der "unlängst die Vermarktungsrechte des Medikaments Daraprim gekauft und den Preis einer Charge von 13,50 Dollar auf 750 Dollar heraufgesetzt" hat, den nun an Aids oder Krebs leidende Patienten zahlen müssen) sowie dem Wu-Tang Clan (Popmusiker, die ein Album "nur mit der Auflage von einem einzigen Exemplar verlegt" haben, welches nun Shkreli besitzt). Welcher Ethnie oder vielleicht Religion dieser Shkreli angehört, steht nicht in der Glosse. Es ließe sich zweifellos googeln oder mit einer sympathischeren Suchmaschine herausfinden.

Doch so etwas gerade nicht zu tun, sollte ja die Norm sein. Der Aufmacher der Medienseite ist dann auch noch Zeitungs-Wundertüte par excellence: Bernd Heller

"sieht noch fast so aus wie vor zwanzig Jahren, als er das ZDF verließ. Mit der aufrechten Haltung des früheren Leistungssportlers - Anfang der Siebziger war er deutscher Vizemeister im Stabhochsprung - öffnet der Achtundsechzigjährige in grauer Strickjacke und sportlichen Schuhen die Tür in seinem Wohnhaus in Mainz",

schildert Uwe Ebbinghaus ausgeruht. Vor allem geht es darum, dass Heller, als er noch das "Aktuelle Sportstudio" moderierte, "eher unfreiwillig, zum Doping-Experten", daher aber der ZDF-Sportredaktion, die sich für Doping nicht interessierte, unbequem geworden sei.

"1993 hieß es, das 'Aktuelle Sportstudio' brauche neue Gesichter. Heller war freier Mitarbeiter, er musste der Moderatorin Christine Reinhart weichen. Für diesen beruflichen Schlag macht Bernd Heller Ränkespiele im ZDF-Fernsehrat verantwortlich, in dem auch Sportfunktionäre sitzen."

Wobei  Ebbinghaus auf Heller gestoßen zu sein scheint, als dieser für die Journalistengewerkschaft DJV über das "Thema Drohnenjournalismus" referierte, nicht ohne dabei zu beteuern, dass es Drohnenjournalismus eigentlich doch gar nicht gäbe.

Eine irre klingende, zumindest irreduzible Geschichte, die sich auch bei blendle.com lesen lässt. Auch zu solchen Zwecken gibt es Zeitungen.

[+++] Falls Sie dennoch Lust haben, in eher obsolete, aber halt scharf zu führende Antisemitismus-Debatten einzusteigen: Die Chance besteht außer über Götz Aly auch über Jakob Augstein, der sicherlich online versierter ist als der Historiker und ja in weniger tristen Medien als der Berliner Zeitung kolumniert (die er überdies ganz oder teilweise besitzt). Anlässlich der SPON-"'Im Zweifel links"-Kolumne "Die völkische Revolution" schrieb Pascal Beucker in der TAZ zurück:

"Mit Verve ist Augstein damit beschäftigt, stets von Neuem zu beweisen, dass er vor drei Jahren zu Recht Aufnahme in die 'Top Ten der antisemitischen/antiisraelischen Verunglimpfungen' des Simon Wiesenthal Centers gefunden hat."

und schließt, nicht ohne noch ins Jahr 1969 zurückgegriffen zu haben, mit "Jedoch: 'Im Zweifel links' ist das nicht." Ja, bestimmt denn nicht die jeweils eigene Perspektive bzw. Filterblase, was links ist? Mit einem

"Wenn selbst Kollegen von der sog. Qualitätspresse nicht mehr lesen können..."

bei Twitter reagierte der smarte Millionär bereits.

[+++] Falls Sie im Zweifel lieber über rechts diskutieren und wissen wollen, was sich in der gestern ebenfalls hier behandelten Die-Partei-AfD-immer-rechtspopulistisch-nennen-Frage getan hat: Der Tagesspiegel referiert Bülend Ürüks partei-/ machtpolitische Interpretation der SWR-Beschlüsse nun auch (ohne Ürük zu nennen) und hat zur Spracheregelung selbst außer von einem SWR-Sprecher auch von "Tagesschau"-Chefredakteur Dr. Kai Gniffke persönlich Auskunft bekommen. Überraschend fielen die Auskunft natürlich nicht aus. (Während die von Jakob Augstein im Diskussionsstrang unter dem oben verlinkten Tweet geschöpfte Abkürzung "mod. Rechtspop." durchaus überrascht und der AfD gefallen könnte ...).

Unterdessen hat sich mein in dem Zusammenhang geäußerter Wunsch, zur Schärfung des Begriffs auch in anderen Bereichen Populismus zu identifizieren und kritisieren, bereits erfüllt.

"Die Methoden, mit denen 'Focus Online' gerade in sozialen Netzwerken mit populistischen und teils irreführenden Postings immer wieder nach Klicks fischt, mögen fragwürdig sein - doch sie wirken",

schreibt dwdl.de in der Meldung über den neuen "Reichweiten-Spitzenreiter" (burda-news.de cool kurz: "#1") unter den Nachrichtenportalen. Focus.de ist das. Weiter im ...
 


Altpapierkorb

+++ Ein paar ihrer "Erfolgsgeheimnisse" verraten Geschäftsführer Oliver Eckert und Chefredakteur Daniel Steil im meedia.de-Interview. "Eine unserer Stärken ist zum Beispiel, dass wir keinen dieser weit verbreiteten Print-Online-Newsrooms haben. Das würde uns defokussieren", sagt Eckert etwa. Er hat sicher ausdrücklich "k" und nicht "c" gesagt. De-focus-sieren wäre ja eher ein Erfolgsgeheimnis des Online-Qualitätsjournalismus, der weniger gut klickt. +++

+++ "Rechtsextreme online auf Menschenfang" seien "weniger zielstrebig und schlechter finanziert als die Islamisten", sagte laut Tagesspiegel Stefan Glaser von jugendschutz.net bei der Vorstellung der Studie " Islamismus im Internet" (PDF). +++

+++ Die inzwischen bekanntlich von der FAZ besessene Frankfurter Rundschau nennt Kandidaten für den Intendanten-Posten beim Hessischen Rundfunk. Es sind dieselben, die die Bild-Zeitung früh auch schon nannte, aber die FR berichtet ausführlicher. Favorit sei ein  59-jähriges "Eigengewächs", Fernsehdirektor Manfred Krupp. Der andere Kandidat käme aus Bremen, wo er die lokale Anstalt leitet. Dass den einen die CDU, den anderen die SPD bevorzugt, versteht sich. +++

+++ Als wäre er nie weg gewesen, ist der Deutsche Fernsehpreis wieder da. Die Nominierungen stehen auf deutscher-fernsehpreis.de. Achten Sie auf den Doch-nicht-Schlager-Grand-Prix-Teilnehmer in Kategorie 6! Haben Sie noch die Markus-Lanz-Shows "vom 27.10., 17.11. und 19.11.2015" in Erinnerung? Die sind auch nominiert. "Eine unabhängige Jury, deren Vorsitzender 'TV Spielfilm'-Chefredakteur Lutz Carstens ist, hat in den vergangenen Wochen mehr als 800 Programmvorschläge gesichtet", so dwdl.de, dessen Chefredakteur und Geschäftsführer auch in der Jury saß. +++ Für den Sat.1-Film "Mordkommission Berlin 1" fand die Jury die Bezeichnung "Historischer Glamourkrimi". Eine schöne Würdigung dieses Films, des zur gleichen Zeit spielenden, am Tag zuvor gesendeten, aber nicht ganz 85 Jahre zuvor gedrehten Fritz-Lang-Films "M" (und auch noch des vermutlich in naher Zukunft gedreht werdenden Tom-Tykwer-ARD-Sky-Projekts "Babylon Berlin" hat Dietrich Leder für medienkorrespondenz.de geschrieben. +++

+++ Weitere Ulrike-Simon-Bissigkeit richtet sich gegen Wolfram Weimer, obwohl dieser u.a. ehemalige Cicero-Chef sehr wohl  ein Typ für den strahlenden Auftritt ist (Wer ihn "kennt, weiß: Schein kommt bei ihm vor Sein"). Wie "die CSU, gerade im Umzugsstress vom maroden Sitz in der Nymphenburger Straße in eine schicke, neue Partzeizentrale nach Schwabing", offenbar indirekt mitteilte, könnte Weimer bald nicht mehr für den Bayernkurier zuständig sein (rnd-news.de). +++

+++ "Aber wenn etwas nicht funktionierte, dann zog Raab eben weiter und probierte fröhlich etwas anderes. Er war ein ausdauernder Sponti in der strukturkonservativen Welt des Fernsehens", würdigt Cornelius Pollmer auf der SZ-Medienseite schon mal Stefan Raab, der in den kommenden Woche letztmals seine Pro-Sieben-Sendungen machen wird. +++

+++ Ebd. werden außerdem gewürdigt: die kasachische Reporterin Bela Kudaibergenowa für auf Facebook bewiesene Courage gegenüber dem staatlichen Fernsehen. +++ Und die neue Staffel des Podcasts "Serial" ("Diesmal geht es um den US-Soldaten Bowe Bergdahl, der fünf Jahre in Taliban-Haft verbrachte und 2014 im Tausch gegen fünf Häftlinge aus Guantánamo freikam. Der Fall wirft bis heute Fragen auf, weil Bergdahl, bevor er gefangen genommen wurde, seinen Stützpunkt in Afghanistan freiwillig verlassen hatte. ... Ist Bergdahl Deserteur oder Whistleblower?") +++ Auch ebd.: die gestern hier erwähnte ZDF-Ankündigung, lobbyradar.de einzustellen ("Jetzt behaupten Mitarbeiter 'Zeit Online' zufolge, dass ausgerechnet Druck von Seiten der Politik für das Ende verantwortlich sei. Der Redaktionsleiter von heute.de Michael Bartsch bestreitet die Vorwürfe ..."). +++ Und David Denk scheint es irgendwie ungerecht zu finden, dass einzelne Kommissarsdarsteller im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur immer jeweils einen Kommisar darstellen dürfen. +++ 

+++ "Könnte man bei der Berichterstattung über den US-Wahlkampf bitte aufhören, ständig neue Umfragewerte in die Überschriften zu katapultieren?", bittet Konrad Ege unter der Überschrift "Umfragenmist" (epd medien). +++

+++ Das gibt es selten: einen "Erfolg für europäischen Rundfunk", da sich die USA "trotz intensiver Lobbyarbeit im Vorfeld ... nicht durchsetzen" konnte. Da berichtet die Medienkorrespondenz von der Weltfunkkonferenz 2015, die im November vier Wochen in Genf tagte. Es geht um die Welt der Frequenzbänder. +++

+++ Und der zu unzähligen Peitschenhieben verurteilte saudi-arabische Blogger Raif Badawi "soll in Hungerstreik getreten sein" (faz.net/ DPA). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

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