Wer soll das alles gucken?

Wer soll das alles gucken?
Heute eine sneak preview in die Zukunft des Fernsehens exklusiv aus Cannes (stinklangweilige Serien): alles eine nasse Blase? Zwei Sichtweisen einer drei- bis vierstündigen (und natürlich bei Youtube verfügbaren) medienpolitischen Diskussionsveranstaltung in Berlin. Außerdem: Fernsehen bleibt das Leitmedium, auch wenn der Lorbeerkranz piekt.

Die Croisette, Savoir-vivre unter Palmen, circa 11.000 Teilnehmer aus über hundert Ländern. Cocktails und zwischendurch Fernsehereignisse, die noch kaum jemand sonst kennt, genießen ... Ist's kein Journalistentraum, einmal auch in Cannes bei der legendären Fernsehmesse Mipcom dabei zu sein, zu lernen, zu teilen und inspizurieren? Zu den nur circa 400 Gästen des legendären GERMAN MIP COCKTAILs der deutschen Förderanstalten zu gehören, neben Oliver Berben oder Regina Ziegler den Fotografen anzulächeln und es vielleicht sogar auf eines der Partyfotos zu schaffen, die anschließend immer per E-Mail-Newsletter an die neidischen Daheimgebliebenen versandt (sowie vom mehrköpfig anwesenden dwdl.de zum Durchklicken publiziert) werden?

Na ja. Die jungen Leute, die Fernsehen ohnehin für tot halten, da sie imerzu überall epochale Netflixereignisse bingewatchen, teilen diese Meinung wohl nicht.

"Bis zum Ende des Jahres starten allein in den USA 135 neue Fernsehserien. 400 werden es in diesem Jahr insgesamt sein. Vor ein paar Jahren waren es noch weniger als die Hälfte, manche sprechen schon von einer 'Blase'. Wer soll das alles gucken?",

fasst Karoline Meta Beisel auf der SZ-Medienseite ihre Eindrücke zusammen, nachdem sie sichtlich an die Côte d'Azur gejettet ist und die "vor Nässe quietschende Teppiche im Marriott" (die sozusagen symbolisieren, dass der Klimawandel dort auch verhängnisvoll wirkt) selbst betreten hat.

Die bildgewaltig beschriebene Nässe verbindet sich in Beisels Bericht dann eindrucksvoll mit dem "steten Grundrauschen von neuen Shows", das auf Messen ja stets die Hauptsache ist, sowie mit der Überschrift "Im Überfluss".

"Das viel beschworene 'Goldenen [sic] Zeitalter des Fernsehens', mit seinen anspruchsvollen Fernsehserien, den epischen Erzählungen über Kleinstadtfamilien und siebenmal um die Ecke gedachten Kriminalgeschichten aus Skandinavien, geht es gerade zu Ende, weil es einfach zu viele gute Serien gibt?",

lautet Beisels zentrale, bereits relativ rhetorische Frage.

Was sie an konkreten Neuigkeiten (voranschreitende Serialisierung älterer Kinoerfolge wie "Minority Report" und "12 Monkeys"; Tolstois "Krieg und Frieden", das zuletzt wohl 2007, nicht ohne Hannelore Elsner übrigens, verfilmt wurde, wird schon wieder verfilmt) und Eindrücken (das neue "Akte X" "ist in Wahrheit stinklangweilig") mitbringt, erfrischt jedenfalls durch nüchternen Realismus. Also wenn man nicht immer, sobald es um die Zukunft des Fernsehens aus deutscher Sicht geht, den notorischen Nico-Hofmann-Optimismus (aktuell bei kress.de: "Der deutsche Fernsehmarkt ist das neue Skandinavien", der "große Magnetismus ..., den Berlin derzeit ausübt. Denken Sie an den neuen Spielberg-Kinofilm!") braucht. Wobei man Hofmann wiederum zugute halten muss, dass er Überblick hat (und das mit dem "neuen Skandinavien" aus dem englischen Independent zitiert) und sich selbst sicher nicht auf MIP-Cocktails herumtreibt.

[+++] Das Wer-soll-das-alles-gucken?-Problem verschärft sich im Internet bekanntlich sekündlich exponentiell in sämtlichen Nischen.

Sollten zum Beispiel hartgesottene Medienbeobachter sich entschließen, die von den Grünen frisch via Youtube geteilte Diskussionsveranstaltung "Landesverrat? Pressefreiheit stärken – JournalistInnen schützen" anzuschauen und genregemäß vor allem anzuhören, würden am Ende des Tages wieder knapp drei Stunden fehlen, um beim Verfolgen der laufenden Fernsehevents Anschluss zu halten.

Die genannte Veranstaltung besitzt den Vorzug, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven in Textform aufbereitet worden zu sein. Einerseits "saß hinten am Tisch" Markus Beckedahl, "einer der Betreiber von Netzpolitik.org und seines Zeichens selbst Mitglied der Grünen, und tippte alles mit". Andererseits war Ulrike Simon dort, aus deren wöchentlicher Madsack/ RND-Kolumne das Zitat stammt. Simon findet zwar "irgendwie rührend ... , wie sich die Bündnisgrünen bei einem Fachgespräch Anfang dieser Woche um uns Journalisten sorgten", vertritt zur Veranstaltung selbst aber die klare Meinung, dass sie "nach 15 Minuten (hätte) beendet sein können". Womit sie die Position des Podiumsdiskutanten Gunther Latsch vom Spiegel übernimmt, der sagte, die Landesverrats-Affäre um netzpolitik.org

"sei ein ermutigendes Beispiel gewesen und habe gezeigt, dass Journalisten gar nicht so schutzbedürftig seien, wie mancher annehme: Die Zivilgesellschaft habe funktioniert, der Aufschrei sei medienübergreifend erfolgt, die Öffentlichkeit habe die Regierung unter Druck gesetzt, Generalbundesanwalt Harald Range als Drahtzieher der Anzeigen musste in Ruhestand. Kurzum, der Fall Netzpolitik.org habe gezeigt: 'Es bedarf keiner weiteren Gesetze, um Journalisten zu schützen.'"

Die Grünen sind freilich in der Opposition und müssen andere Gesetze wollen. Beckedahl war bekanntlich unfreiwilliger Protagonist dieser "Landesverrats"-Affäre und verlangt natürlich nach Konsequenzen. Es wäre ja wirklich gut - völlig ohne Ironie - wenn diese Affäre netzpolitisch ähnliche Folgen nach sich zöge wie einst die Spiegel-Affäre. Nur vielleicht aus Sicht des heutigen Spiegel nicht, der ungefähr seither zu den Platzhirschen der Branche gehört ...

Jedenfalls dauerte die Veranstaltung (zwischendurch kam aus dem Publikum wohl ein Vorschlag, " eine Art Berufskammer" für Journalisten einzuführen, wie Simon noch notierte) und dauerte. Auf seine Weise vermittelt Beckedahls netzpolitik.org-Bericht von der Dauer der nach seinen Angaben sogar "vierstündigen Debatte" einen so guten Eindruck, dass die Lust, nach eventuellen Gegensätzen zwischen den Affären-Protgonisten von 1962 und denen von 2015 zu suchen, dann doch schwindet.

Wer das Ansehen des Videos zurückstellt, hätte dann noch etwas Zeit, um linear oder nichtlinear fernzusehen.


Altpapierkorb

+++ Das Fernsehen bleibt "bis auf weiteres das Leitmedium". Das hat, wie die Medienkorrespondenz berichtet, die Kommission namens KEK festgestellt, die im Alltag keine große Rolle spielt, aber anno 2006 wesentlich zum Verhindern der Springer-ProSiebenSat.1-Fusion beitrug. Um vielleicht wieder einmal etwas wirkungsvoller werden zu können, hat sie neue Ideen zum Berechnen der Meinungsmacht auf dem von der KEK bedachten "Gesamtmeinungsmarkt" (Altpapier aus dem Februar) entwickelt. +++

+++ Den künftigen Arte-Präsidenten, den als natürlich weiterhin amtierender SWR-Intendant ehemaligen ARD-Vorsitzenden Peter Boudgoust haben wir gestern hier schon kurz begrüßt. Heute zitiert die SZ aus seiner Ansprache anlässlich der Wahl in Straßburg. Er gelte "in seinem Heimatsender und der dortigen Produzentenbranche als Pragmatiker, was eher positiv gemeint ist". +++ "Den Job hat er auch", lautet die Überschrift der FAZ-Meldung. +++

+++ Ins laufende Programm: Eine Fernsehsendung am späten Abend, auf die zwei Vorabbesprechungen zumindest durche konträre Urteile etwas gespannt machen. Oliver Jungen von der FAZ nannte gestern (inzwischen frei online) die Macher der neuen, heute um 23.00 Uhr ausgestrahlten ZDF-Sendung "Sketch History", vor allem die Autoren Chris Geletneky und Roland Slawik, welche sich "nicht die Bohne" für die Quellen der Weltgeschichte interessierten, "die neuen Historienkasper des ZDF". Sogar einen Kritikerdarling nahm er nicht aus: "Auch Bastian Pastewka macht als Sprecher im Off nicht die beste Figur: '1962, das Jahr des Grauens: Kuba-Krise, Marilyn Monroe stirbt, und Campino wird geboren', lautet eine seiner behäbigen Pointen." +++ Umso begeisterter der begeisterungsfähige David Denk:  "Gutes Fernsehen", schreibt er gleich im ersten Satz seiner SZ-Kritik und beschreibt dann hübsch, wie Darsteller Max Giermann als Julius Cäsar bzw. als Klaus Kinski als Julius Cäsar austickt, "weil der Lorbeerkranz so piekt". Beinahe möchte man sich eine eigene Meinung bilden. +++ Ne dritte bietet Torsten Wahl in der Berliner Zeitung (der außerdem deutlich macht, dass "Hitler und Co" auch nicht fehlen). +++

+++ Das attraktive Missgeschick des Tagesspiegels auf seiner Mittwochs-Titelseite (Altpapier gestern) hat's in den englischen Sprachraum zum Guardian geschafft. +++

+++ Die kontinuierliche Verschärfung bzw. - schlechterung der russischen Mediengesetze im Thema im Tagesspiegel. +++

+++ Die FAZ-Medienseite meldet, dass "die Staatsanwaltschaft in Ankara ... dem größten Anbieter von Abofernsehen in der Türkei die Ausstrahlung von sieben regierungskritischen Kanälen untersagt" hat. +++ Und befragt den "Datenexperten Chris Conolly" zum EuGH-Urteil in punkto "Safe Harbor" ("Für die Vereinigten Staaten wäre es das Beste, sich dem Rest der entwickelten Welt anzuschließen und eigene grundlegende Datenschutzgesetze zu verabschieden. Aber unglücklicherweise ist das in der gegenwärtigen politischen Situation in den Vereinigten Staaten ausgeschlossen."). +++ Und stellt die bei ZDF-Neo zu sehende BBC-Serie "Call the Midwife" vor ("zeigt das gute, alte England"). +++ Und verreißt den heutigen Degeto-Film im Rahmen der "Heimat"-Woche der ARD ("Als die Kurbjuweits auf der Flucht vor wildgewordenen Rindern in weißer Rippenunterwäsche erst in Kuhfladen ausrutschen und dann kotbeschmiert bei einer piekfeinen Bauernhochzeit auflaufen, raunt die Brautmutter nur: 'Warum sind die Deutschen fast nackt und voller Scheiße?' ... Hässlich dargestellte, zwischenmenschlich gestörte Deutsche mit Vertreibungshintergrund treffen auf lebenslustige Polen, die in einem historischen Vakuum, einem Paradies am Rande Europas, feiern, schmausen und Wodka trinken. Dieser Film ist für Deutsche und Polen gleichermaßen schwer zu ertragen", schreibt Heike Hupertz).  +++

+++ Findet Tilmann P. Gangloff etwas Gutes dran? Klicken Sie hier! +++

+++ Die SZ-Medienseite berichtet von einer "Veranstaltung der Justizpressekonferenz Karlsruhe" (Seitdem der EuGH "den Datenschutz starkmacht, kehrt vorsichtiger Optimismus zurück"). +++ Und, dass die von der ARD in ihrem Werberahmenprogramm nicht mehr gewollte "Heiter bis tödlich"-Schmunzelkrimiserie "Monaco 110" im bayerischen Dritten Programm weiterlaufen soll +++

+++ +++ Angela Merkels Auftritt bei Anne Will am Mittwochabend (Altpapier gestern) ist nun Thema in Feuilletons und dergleichen. "So kommt es, dass in Merkels Rhetorik die Kunst des Möglichen - Politik - im zahlenmystischen Quark versinkt und umgekehrt Glaubens- und Gesinnungssätzen realpolitischer Rang zuerkannt wird ('ich habe überhaupt keine Zweifel', 'meine innere Gewissheit sagt mir', 'ich bin ganz fest davon überzeugt'). Wie beim neurolinguistischen Programmieren (NLP) wird ein und derselbe Glaubenssatz ('Wir schaffen das') mit jedem neuen Erfahrungsgehalt verbunden", analysiert Christian Geyer in der FAZ. +++ Wohingegen Anja Maier ihre Sendungs-Besprechung für die TAZ in ein eigenes Erlebnis mit einer Gruppe Flüchtlinge in der S-Bahn kleidet, das der Kanzlerin gefallen würde. +++ Altpapier-Autor Frank Lübberding hat sich in seinem Blog wiesaussieht.de zur Sendung geäußert. +++

+++ Und wer nicht zu doll auf die 957. "Tatort"-Folge am Sonntag gespannt ist, kann schon mal beginnen, auf die 1000. Folge in circa einem Jahr gespannt zu werden (Tsp./ EPD). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.

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