Nicht in Ordnung

Nicht in Ordnung
Ein Augenzeugen-Bericht aus dem Reich der Witwenschüttler. Der deutsche Woody Allen ist tot. Ausnahmen vom Mindestlohn sind den Verlegern nicht genug. Freischreiber haben Probleme bei der Recherche. Denniz Yücel trennt sich vorbildhaft von der taz, sowie: das Fernsehprogramm.

Eine Spalte auf dem Titel, ein Aufmacher im Vermischten, das bei der SZ Panorama und der FAZ Deutschland und die Welt heißt.

Eine Woche, nachdem die Germanwings-Maschine ihr tragisches Ende in den Alpen fand, bietet sich in den beiden großen Zeitungen wieder Platz für untaugliche Sturmgewehre der Bundeswehr und französische Kommunalpolitik. Auch bei den Online-Medien muss man zunehmend scrollen, um etwas über die ärztliche Schweigepflicht bei Piloten allgemein oder die Krankengeschichte des Andreas L. im Speziellen zu erfahren. Berichte gibt es jetzt nur noch, wenn es auch Neues zu berichten gibt. Das als Errungenschaft der Metadebatte der vergangenen Woche zu sehen, wäre wohl übertrieben. Die Aufmerksamkeit zieht weiter; das Atomprogramm des Irans will diskutiert werden.

In diesem Internet machte gestern noch der Text des Halterner Schülers Mika Baumeister die Runde. In seinem Blog, in dem er bislang über seine Ice-Bucket-Challenge  und den unzufriedenstellenden Verlauf einer Abi-Zulassungsparty schrieb, stehen nun Sätze wie

„Liebe Konsumenten von Klatschblättern oder einigen TV-Sendern, suchen sie sich neue Berichterstatter!“

und

„Die Berichterstattung in Haltern war nicht in Ordnung.“

Hier lässt sich nachlesen, was wir bislang nur aus der Sicht von Menschen gehört haben, die in der Vergangenheit nach tragischen Ereignissen von Witwenschüttlern heimgesucht wurden: das ist schrecklich. Zumal manche Journalisten nicht davor zurückschrecken, Geld zu bieten und sich als Lehrer oder Seelsorger auszugeben, um an Informationen zu kommen.

Abgesehen vom Appell an, sich als Journalist in solchen Fällen nicht wie ein Arschloch zu verhalten, hat Baumeister noch die Idee, in Zukunft nur noch ausgewählte Medien vor Ort zu erlauben.

Reicht es denn nicht theoretisch, wenn nur 4 Kameras vor Ort sind? Etwa die ARD für die ersten, zweiten und dritten Programme, die dpa sowie Reuters für private Sender und die Lokalzeitung? Das Bildmaterial hinter der Absperrung ist im Prinzip das Gleiche“,

meint er.

Dass es keine Lösung sein kann, nur ausgewähltes Staatsfernsehen zuzulassen (zumal es keine Garantie gibt, dass dieses sich besser zu benehmen weiß), lässt sich unter „Medienvielfalt“ im Lexikon der Demokratie nachlesen.

Es bleibt das Dilemma, dass man Menschen Menschlichkeit nicht verordnen kann. Sie müssen schon selber drauf kommen.

Mika Baumeister hat sich dann selbst noch die Dialektik geleistet, die Öffentlichkeit auf Abstand zu halten, in dem er mehr Öffentlichkeit gesucht hat. Das Video vom Gespräch mit Richard Gutjahr gibt es hier.

Zudem sei zum Thema noch auf den Krautreporter-Text von gestern verwiesen, der den Umgang eines Flugbegleiters mit der Absturz-Meldung dokumentiert.

Und nun Themenwechsel.

[+++] „ZEIT: Sind das Ihre Worte: ,Es schaut nicht gut aus?’

Dietl: Nein, das haben die Ärzte genau so gesagt. Ich habe geantwortet: ,Ja gut, was schlagen Sie jetzt vor? Chemo? Das möchte ich nicht so gerne machen, schon gar nicht, bevor ich nicht mehr weiß.’ Ich habe dann noch eine Untersuchung gemacht, für die man radioaktives Wasser trinken muss, auch da war die Tami dabei. Ihre Anwesenheit hat mir sehr gutgetan, das war eine harte Sache. Nach der Untersuchung haben die Ärzte gesagt, sie hätten eine gute Nachricht. Die gute Nachricht war aber nur, dass es noch keine Metastasen gibt. Okay. Ich habe dann natürlich gefragt, wie lange man mit so einem Karzinom lebt. Da haben die gesagt: Das weiß man nicht.“

November 2013 war es, als Helmut Dietl dies im Gespräch im Giovanni di Lorenzo in der Zeit erzählte. Gestern ist Dietl gestorben.

„Er galt als Autor und Regisseur von bissigen und zugleich melancholischen Filmen. Von Fachkritikern wurde er als ,deutsche Antwort auf Woody Allen’ bezeichnet.“ (zeit.de)

„Ebenso wie Woody Allen deckte der im oberbayerischen Wiessee geborene Dietl mit Vorliebe und Ironie menschliche Schwächen auf und beleuchtete gesellschaftliche Kuriositäten.“ (Hamburger Abendblatt)

„Helmut Dietl. Der bayerische Stadtneurotiker, oft dem ,Ganz normalen Wahnsinn’ nah, und doch immer süchtig nach der großen dramatischen Ironie, die nur das Leben selbst ihm bieten konnte. (SZ, Seite 3)

„Zuletzt nannten ihn manche ,den deutschen Woody Allen’ - obwohl er doch eigentlich der Münchner Billy Wilder war.“ (br.de)

Nur Claudius Seidl findet auf Seite 9 des FAZ-Feuilletons einen anderen Vergleich:

„Wer das, was Dietls Zauber ausmacht, für Münchner Folklore hält, der kann auch Sigmund Freud zur Wiener Folklore zählen und Balzac zum Stadtschreiber von Paris machen.“

[+++] Noch einmal FAZ, aber ganz anderes Thema: Der Mindestlohn für Zeitungsausträger. Dass die Verleger ihn als Plage erachten, sodass sie „vom Mindestlohn betroffen“ für eine richtige Formulierung halten, ist ja nicht ganz neu. Doch die Vehemenz der Klage auf Seite 19 im FAZ-Wirtschaftsteil verdient hier doch noch einmal Beachtung.

„Die Mehrkosten für Mitarbeiter werden dieses Jahr etwa 205 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr betragen. Das ergibt eine neue Auswertung des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) (...) Schon bisher kam es durch den Mindestlohn zu 2000 Entlassungen beim Zustellpersonal; weitere 1250 Entlassungen sind für dieses Jahr geplant. (...) ,Der Mindestlohn bremst die Verlage aus und nimmt ihnen das Geld, um zu investieren und zu wachsen’, sagt Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des Verbandes“,

schreibt dort Jan Hauser, und wer jetzt glaubt, dass es wirklich schlimm ist, wie dieser Mindestlohn Jobs killt, ist noch nicht bis zu dem Absatz vorgedrungen, in dem es darum geht, dass er die Provinz von der Welt abschneidet („,Politiker müssen sich der eigenen Verantwortung stellen, wenn ganze Landstriche buchstäblich den Anschluss an die Informationsgesellschaft verlieren’, sagt Wolff.“)

Ob wohl jemand dem BDZV ein Fax schicken und von der Existenz des Internets berichten kann? Danke.

Hätte ein Schraubenhersteller nicht genug Kohle, um seine Angestellten vernünftig zu bezahlen, würde man ihm zum Überdenken seines Geschäftsmodells raten. Im Falle der Verlage gilt das natürlich nicht. Sie wünschen sich als Belohnung dafür, dass sie die verzögerte Einführung des Mindestlohns mit Entlassungen quittieren, eine Entlastung von Sozialabgaben:

„,Das Gesetz sorgt nicht für die versprochene Entlastung’, klagt Wolff jetzt. Er erinnert an eine andere Idee: Die Zeitungszusteller sollten von Beginn an 8,50 Euro erhalten und die Verlage dafür von den üblichen Sozialabgaben nur noch 10 statt 28 Prozent zahlen. ,Dieser Vorschlag aus der Regierungsbank hätte den drohenden Rückzug der gedruckten Zeitungen aus dünn besiedelten Gebieten vermieden.’“

Auf die Ausnahme vom Mindestlohn folgt die Ausnahme von Sozialabgaben folgen Ausnahmen bei der Steuer, Lebensmittelgutscheine und Sozialtickets für BDZV-Funktionäre.

Wir sollen den Prozess beschleunigen und deutsche Verlage gleich unter Denkmalschutz stellen, Option auf Unesco-Weltkulturerbe.

Und dann ist Ruhe.

[+++] Zugegebenermaßen, das Wort „Recherchieren“ kommt im Begriff „Freischreiber“ nicht vor. Dennoch wäre es besser gewesen, der Verband der freien Journalisten hätte sich daran gewagt, bevor er am Samstagabend Gruner+Jahr wegen schlechter Zahlungsmoral einen Preis zweifelhaften Namens verlieh.

Nun durfte er sich dabei von G+J-Sprecher Frank Thomsen sagen lassen:

„G+J hat im vergangenen Jahr einige zehntausend Honorare ausbezahlt. Weltweit. An einige tausend Menschen. Redakteure, Reporter, Grafiker, Fotografen und und und. Mir liegen die exakten Zahlen vor. Von diesen Rechnungen sind 80 Prozent innerhalb von zwei Wochen, 99 Prozent innerhalb von vier Wochen bezahlt worden. Sieht so schlechte Zahlungsmoral aus?“,

wie Meedia dokumentiert.

Gut, das könnte einem jetzt peinlich sein, von einem Pressesprecher der schlechten Recherche überführt zu werden. Aber hey, was interessiert uns das Geschwätz von gestern, wenn heute schon darüber verhandelt wird, ob das House of Content den Code of Fairness unterschreibt (siehe dieser Twitter-Dialog).

Die gleiche Sprache spricht man schon; bleibt nur die Frage, auf wie viele von insgesamt zehn Fairness-Punkten G+J sich einzulassen vermag. Die Zeit hat es immerhin auf neun geschafft, wie der Verband stolz vermeldet. Denn hey, dieser Code ist halt echt fair, wenn auch nur zu den Anderen.


Altpapierkorb

+++ Die SZ macht nun in Chefredakteurs-Doppelspitze und gesellt Wolfgang Kracht zu Kurt Kister. „Der Herausgeberrat würdigt mit seiner Entscheidung die herausragende Zusammenarbeit von Kurt Kister und Wolfgang Krach in der Chefredaktion der SZ und hat deshalb beschlossen, dass sich die Aufgabenverteilung, wie sie de facto seit Langem in der Führung der Redaktion bewährt ist, künftig auch de jure im Impressum niederschlagen soll“, zitiert eine kleine Meldung auf der SZ-Medienseite Johannes Friedmann, Vorsitzender des Herausgeberrates. Weitere Zitate gibt es bei DWDL. +++

+++ Deniz Yücel trennt sich von der taz, und zwar so, wie es Robyn rät („Call your girlfriend / It's time you had the talk / Give your reasons / Say it's not her fault“): „Als Autor bin ich in der taz an keine Grenzen des Erlaubten gestoßen. Die taz ist das, was ihre Redakteure und Autoren aus ihr machen. Und die taz war für mich ein großer Spielplatz. Mit Abenteuer und Raufereien, Händchenhalten und Hundescheiße. Man kann keine gute Zeitung machen ohne Lust.“ Grund genug, zu bleiben, war offenbar alles nicht. +++

+++ Journalisten in Krisengebieten werden immer öfter Opfer von Gewalt, schreibt Markus Spillmann in der NZZ. „Erfahrene Korrespondenten sind sich darin einig, dass der beste Schutz für einen Journalisten neben einschlägigen Verhaltensregeln noch immer eine profunde Kenntnis der Berichtsregion und ein über Jahre gepflegtes Netzwerk an zuverlässigen Kontaktpersonen bietet. Zwar hat mit der Digitalisierung die Verfügbarkeit von Informationen exponentiell zugenommen, ihre Überprüfung an Ort und Stelle wird aber gerade in hiesigen Medienunternehmen – die NZZ ist dabei noch eine löbliche Ausnahme – aus mangelndem Verständnis und aus Kostengründen immer mehr vernachlässigt.“ +++

+++ Wer sich noch dafür interessiert, wie man ein Varoufake erstellt: Frederik Fischer erklärt es bei den Krautreportern. +++

+++ Dass der ARD-Vorabend den Rentnern gehört, erkennt man verlässlich an der Apotheken-Umschau-Werbung. Nun schaffen es die Kunden allerdings auch ins Programm zwischen den Werbeblöcken: „Rentnercops“ heißt die Serie, die heute um 18.50 Uhr startet und genau so ist, wie es der Name vermuten lässt. Kurz Sagatz hat für den Tagesspiegel Darsteller Tilo Prückner (74) interviewt und ihm Sätze wie diesen entlockt: „Es gibt da eine natürliche Auslese. Viele sterben weg, bei andern hat der Alkohol das Gehirn zerfressen. Und wer übrig bleibt, spielt halt noch – und wird im Zweifel im besser.“ +++

+++ Das bisherige System der VG Wort war für die Verlage sehr erfolgreich. Für die Urheber gilt das nicht. VG Wort und Verleger hatten deshalb ,gute’ Gründe, die langjährige Verteilungspraxis soweit irgend möglich zu verschleiern“, lautet das Fazit eines 20.000-Zeichen-Werkes, das der gegen die VG Wort klagende Urheberrechtler Martin Vogel im Blog von Stefan Niggemeier veröffentlicht hat. +++

+++ Die SZ hat beschlossen, ihre heutige Medienseite völlig der Rezension des Fernsehprogramms zu widmen. Jens Bisky überzeugt die Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ nicht, die morgen in der ARD läuft („Bebildert werden im ,TV-Event’ die Schrecken der Lagerwelt, als könnte man ihnen durch Emotionen, Gefühlsaufwallungen näher kommen. Auf der Strecke bleiben dabei die Charaktere, sie schrumpfen zu Typen. Auf der Strecke bleibt auch der Konflikt zwischen Herz und Verstand, ohne den Apitz’ Geschichte in sich zusammenfällt.“). Verena Mayer bespricht Wolfgang Ettlichs filmische Exkursion durch „Mein Neukölln“ (RBB), („Sein Blick auf Neukölln das er in breitem Berlinerisch kommentiert, ist so privat, dass man sich erst fragt, was Ettlich eigentlich erzählen will, außer, dass nichts mehr so ist wie früher. Am Ende macht das aber die Qualität der stillen Berliner Skizze aus“). Und Julia Weigl lobt „Die Ungehorsame“ als Film über häusliche Gewalt, den Sat1 heute zeigt („Es sind genau diese Zuspitzungen, die den Film beklemmend realistisch wirken lassen. Denn er entblößt eine Gesellschaft, die an das Gute im Menschen glauben möchte und wegschaut, sobald etwas nicht in die perfekte Welt passt.“) +++ Letzteres findet auch bei Sven Sakowitz in der taz Anklang. („Die ersten Minuten (...) verlaufen nach routiniertem Krimimuster, aber dann entwickelt er sich in eine andere Richtung, wird zu einem aufwühlenden Justiz- und Beziehungsdrama.“) +++

+++ Außerdem in der taz: Vice macht bald täglich Nachrichten bei HBO. +++

+++ „Downton Abbey“ neigt sich dem Ende zu, begrüßt in Staffel 5 (ab morgen auf Sky) aber noch das Radio, schreibt Andrea Diener auf der Medienseite der FAZ. +++ Auf der es zudem um Sputnis News geht, welches für die weltweite Verbreitung russischer Nachrichten Propaganda sorgt. (Das klingt dann z.B. so: „,Diese Sanktionen machen auch europäischen Unternehmen zu schaffen. (...) Wir möchten gemeinsam kooperieren, um diese Probleme zu überwinden’, sagte der Präsident.“) +++

Frisches Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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