Unglaubliche Ausverkauftheit

Unglaubliche Ausverkauftheit

Ein Beispiel, dass es sich lohnt, Presse-Stammkunde zu sein. Ein Stück der Geschichte der Pressefreiheit zum In-den-Händen-Halten. Auch Raif Badawi ist Charlie. Kai Gniffke ist brüsk. Die hübsche Schwester Medienverdrossenheit. Journalismus als Kernkraft betrachtet. Empörungsjunkies. Das Comeback der Vorratsdatenspeicherung.

Die unglaubliche Ausverkauftheit der neuen Charlie Hebdo wäre schon für sich allein eine Geschichte, auch wenn es von selbst niemals so gekommen wäre.

"Der Inhaber des Kiosks in der Route des Vignes in Saint-Julien-en-Genevois hat etwas Vergleichbares noch nie erlebt. Dreißig Menschen standen um sieben Uhr vor dem Geschäft, fünfzig Exemplare hatte er bekommen. Nur im Krieg und der Zeit danach muss es ähnlich gewesen sein, aber in der Résistance war nicht nur die Freiheit bedroht, sondern auch das Papier knapp" (faz.net).

Da zahlte es sich aus, wenn man schon früher regelmäßig physische Presseerzeugnisse kaufen gegangen ist: "Stammkunden durften sich auf die Warteliste für ein Nachdruckexemplar eintragen" (SZ-Medienseite).

####LINKS#### Vielleicht noch nach der Mondlandung habe es so was gegeben, vermutet Kioskinhaber Jean Nguyen, mit dem Rudolf Balmer (TAZ) sprach. "Auf die 27.000 Zeitungsverkaufsstellen im ganzen Land gab es in aller Frühe einen riesigen Ansturm" (Tsp.). Dass von dem doch sechzehn-, also nicht nur achtseitigen Heft statt drei Millionen nun doch fünf Millionen Exemplare gedruckt werden sollen, wird daran wenig ändern. Schließlich bekam "das Provokations- und Spottunternehmen einer Satirezeitschrift, das sonst einen kleinen Kreis Gleichgesinnter mit Witzen versorgt, ... durch den Blutzoll von heute auf morgen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit" (SZ).


Die deutschen Kulturreporter sind natürlich mit Exemplaren versorgt. "Nicht alle Beiträge sind witzig in dieser Nummer 1778. Eine historische ist es sehr wohl - und inhaltlich eine verblüffend durchschnittliche", schreibt Jürg Altwegg auf der letzten Seite im Politik-Buch der FAZ (im Rahmen eines Porträts des Chefredakteurs Gérard Biard), was weniger negativ gemeint ist als zeigt, dass Altwegg Charlie Hebdo sowieso längst schätzte.

Gleich auf der nächsten FAZ-Seite, der ersten des Feuilletons, geht Michael Hanfeld in die Inhaltsanalyse desselben Hefts:

"'Tout est pardonné'? Vergibt der Prophet den Cartoonisten? Vergibt er allen, auch den Mördern? Oder vergeben die Überlebenden den Attentätern? Letzteres wäre ausgesprochen frivol ..."

Er findet die "nicht bitterbösen, sondern bitteren, traurigen Pointen" auch gut. Und im selben Artikel Gelegenheit, auf anderes Trauriges hinzuweisen:

"Auch Raif Badawi ist 'Charlie', nur macht sein Beispiel bei uns nicht die Runde."

Badawi ist der saudi-arabische Blogger, der "zwei Tage nach den Attentaten in Paris ... im saudi-arabischen Dschidda ... öffentlich ausgepeitscht" wurde. "Er erhielt fünfzig Hiebe. Zu tausend Schlägen insgesamt und zehn Jahren Haft ist er verurteilt worden. Woche für Woche wird er der Tortur unterzogen. Zwanzigmal fünfzig Schläge mit der Peitsche - es ist eine Folter bis zum Tode", und es geschieht bei einem engen Verbündeten des sog. Westens (mehr beim Guardian).

Die aktuelle Charlie "strotzt ... erst recht vor sarkastischen Zeichnungen über Islamisten und Dschihadisten. Auch der Papst und die gutbürgerliche Moral bleiben Lieblingsthemen ihrer Satire" (TAZ noch mal).

Wie können deutsche Print-Freunde sich eine Ausgabe sichern? "In Deutschland werden die Exemplare wohl erst am Samstag erhältlich sein, die besten Chancen haben Interessenten in den großen Presseläden an Bahnhöfen und Flughäfen" (SZ noch mal). Und im weltumspannenden Internet "tauchten bereits ... Raubkopien auf und Angebote für 'gebrauchte' Exemplare für 100 bis 250 Euro! " auf (TAZ), ja zu noch höheren Preisen, hat der Nouvel Observateur beobachtet

Da gewinnt eine Aktion eines bekannten inländischen Druckerzeugnisses erst recht Bedeutung:

"Der stern und die Geschäftsführung des Verlags Gruner + Jahr möchten Ihnen gemeinsam die Gelegenheit geben, sich ein Exemplar der historischen Ausgabe des Satiremagazins zu sichern. Sie können damit ein Stück Zeitgeschichte und ein Stück der Geschichte der Pressefreiheit in Händen halten. 500 Exemplare stehen zur Verfügung. Schreiben Sie uns daher bitte ein kurzes Statement in zwei Sätzen, was für Sie eine freiheitliche Gesellschaft ausmacht ..."

Bzw., ein Foto von sich selbst, auf dem man "einen Zeichenstift als Zeichen der Solidarität" in der Hand hält, reiche auch aus, um in die Verlosung zu kommen.

Der Stern kommt aus diesem Anlass heute auch mal mit einem eher untypischen Titel heraus, dürfte gewiss aber auch noch am Mittwoch an den meisten Verkaufsstellen zu haben sein (trotz eines beigegebenen Plakats - hier zum Ausdrucken).

[+++] Die Weltöffentlichkeits-Aufmerksamkeit fällt naturgemäß unterschiedlich aus. "Eine ehrwürdige Zeitung zeigt Mut und macht neue Karriere", berichtet die ehrwürdige Berliner Zeitung aus der Türkei. Die "Auslieferungslaster" der Tageszeitung Cumhuriyet "wurden ... von der Staatsanwaltschaft gestoppt", durften nach "einstündiger Inspektion" aber weiterfahren, weil die dem Blatt beigelegte vierseitige Charlie-Ausgabe in türkischer Sprache keinerlei Mohammed-Karikaturen enthielt. "Im Istanbuler Szenebezirk Cihangir nahe dem Taksim-Platz war Cumhuriyet gegen Mittag an allen Kiosken ausverkauft" (TAZ).

Dass auch in nicht islamisch geprägten Ländern manche Zeitungen die neuen Mohammed-Karikaturen nicht zeigen mögen, war bereits am Dienstag hier Thema. Die Public Editor-in der New York Times, Margaret Sullivan, erklärte die Entscheidung gerade noch mal auch mit "safety concerns":

"Those concerns are far from frivolous; just days ago, a German newspaper’s office was firebombed after it published the cartoons following the attack, and now new concerns have arisen about reprisals."

Was sich auf den hierzulande nicht mit übertriebener Aufmerksamkeit bedachten Brandanschlag auf die Hamburger Morgenpost bezieht, der aber durchaus Folgen hat: Vor dem Sitz der TAZ, einem der nach eigenen Angaben "vielleicht polizeikritischsten Qualitätsblätter in Deutschland", wacht nun die Polizei (Martin Kaul schildert im Hausblog seine gemischten Gefühle). Und vor der edlen Glasfassade des Zeit Online-Sitzes, aus dem die Redakteure "im Minutentakt ihren Kopf für die Freiheit aus dem Onlinefenster halten", tun oder taten sie es ja auch. Lesen Sie hier, wie TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester sich gestern über die Gefühle lustig machte, die Chefredakteur Jochen Wegner letzte Woche deshalb öffentlich gemacht hatte.

Sind denn hierzulande alle Medien d'accord, was die Mohammed-Karikaturen betrifft? Nein, eine, von der man das nicht unbedingt erwartet hätte, kritisiert sie und "das in einer verachtzigfachten Auflage fortgesetzte Mohammed-Bashing der Zeitschrift 'Charlie Hebdo'" irgendwo  - das Neue Deutschland.

An dieser Stelle kurz der Hinweis, dass viele deutsche Medienschaffenden-Organisationen, nämlich "ARD, dju in verdi, DJV, Freelens, Freischreiber, netzwerk recherche, n-ost, Reporter ohne Grenzen, VDZ, der Verband Cartoonlobby, VPRT, VDZ und ZDF", sich zu einer gemeinsamen Stellungnahme zusammengerauft haben, die vielleicht manchmal etwas ungelenk klingt ("Kritik und Polemik, Satire und Tabubruch sind von der Presse- und Rundfunkfreiheit umfasst"), sich aber ohne Weiteres als Statement, was eine freiheitliche Gesellschaft ausmacht, bei  Gruner + Jahr für die oben erwähnte Verlosungsaktion einreichen ließe.

[+++] Nun hinein in die deutschen, womöglich typisch deutschen Nischen-Streitigkeiten. Aktuell ein spannungsgeladenes Dreieck bilden die gestern hier erwähnte TAZ-Chefredakteurin Ines Pohl, der ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke (dessen Blogbeitrag ich gestern noch nachgetragen hatte) sowie natürlich Stefan Niggemeier ("Die 'Tagesschau'. Wo man schöne Inszenierungen nicht blöd hinterfragt"). Es geht um die Frage, in welcher Straße genau die viel fotografierten Staats- und Regierungschefs vieler Länder am Sonntag in Paris kurz demonstrieren waren. Es war also doch keine Neben- bzw. Seitenstraße, sondern einer der zum allgemeinen Demonstrieren vorgesehenen Boulevards, bloß unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen (wie gestern hier erwähnt). Inzwischen liegen seitens der TAZ (Quentin Lichtblau auf der Medienseite) und Gniffkes jeweils auch versöhnliche Nachträge unter Berücksichtigung der jeweils anderen Äußerungen vor. Nur seitens des schon erwähnten Sterns, schilt Dieter Hoß Gniffke, das "Gebot der Stunde" ausrufend, noch mal als "brüsk" - obwohl der "Tagesschau"-Chef doch für seine Brüskheit fast so bekannt ist, wie für seinen Doktor-Titel!

[+++] Zurück zu den ernsten Themen. Tagesspiegel-Medienchef Joachim Huber hat sich gestern, was das Kommentieren der Unwort-des Jahres-Wahl angeht, zurückgehalten. Heute ist er dafür doppelt am Start: erstens mit einem geschliffenen Kommentar zum "Lügenpresse"-Begriff. Dass "Medienverdrossenheit" "die sehr viel hübschere Schwester des Totschlagsbegriffs" ist - wer würde das nicht unterschreiben? Dagegen böte die Analyse

"Der journalistische Stand rangiert in der Ansehensskala der Berufe weit unten. Diese Befunde sind nicht neu, neu ist, dass die Kernkraft der journalistischen Profession - die Vermittlung von richtiger wie wichtiger Information - zum Ausglühen gebracht werden soll."

viel Stoff zum Nachdenken oder Streiten. Schon weil die Kernkraft in einem weniger übertragenen Sinne in Deutschland ja definitiv ein Auslaufmodell ist.

Zweitens hat Huber dann noch mit dem immer überall gerne interviewten Medienwissenschafts-Professor Bernhard Pörksen gesprochen, der nicht nur seinen Max Weber gelesen hat, sondern auch Akif Pirinçci und Thor Kunkel, und von "Empörungsjunkies" ("feuern ... Beschwerden in Serie ab, die sich kaum noch abarbeiten lassen"), der "fünften Gewalt" ("besteht aus den vernetzten Vielen des digitalen Zeitalters, die längst zur publizistischen Macht geworden sind, zu einer 'Publikative' eigenen Rechts") und den Pegida-Demonstrationen als "Ausdruck einer gefühlten Repräsentationskrise" spricht ...

Medien-Profis, die Huber wie Pörksen sind, lassen sie das Interview dennoch mit "einer guten Nachricht" ausklingen.


Altpapierkorb

+++ Was gerade erst losgeht: das (netz-)politische Konsequenzen-ziehen-Wollen aus den Anschlägen in Frankreich, zunächst mit einem Comeback der eigentlich erledigt gewesenen, anlasslosen Vorratsdatenspeicherung (netzpolitik.org, Süddeutsche mit der tagesaktuellen Sigmar-Gabriel-Position). +++

+++ "Hättet Ihr am Anfang nur ein bisschen kleinere Brötchen gebacken, dann wäre ich vermutlich im Frieden mit Eurem nicht eben kurzweiligen Lernprozess": Ergebnis einer gründlichen Krautreporter-Kritik von fraumeike.de und der Diskussion drunter. +++

+++ Grundlegende Thesen zum Internet I: zehn, "wie die Möglichkeiten des Netzes mit der Demokratie kollidieren", aus Andrew Keens Buch "The Internet Is Not the Answer", das am Montag als "Das digitale Debakel" auf deutsch erscheint es als  auf deutsch, eröffnen das SZ-Feuilleton. Z.B.: "8. Im Netz gibt es eine Explosion der Information und viele Nischen. Demokratie braucht einen Informationsraum." +++

+++ Grundlegende Thesen zum Internet II: "Man stelle sich einmal den Aufschrei vor, wenn die chinesische Regierung Anspruch auf den Zugang zu allen Daten erhöbe, die über Geräte laufen, welche von chinesischen Unternehmen wie Xiaomi oder Lenovo gefertigt worden sind, und zwar unabhängig davon, wo die Nutzer sich befinden": So argumentiert Evgeny Morozov unter der Überschrift "Entamerikanisiert endlich das Internet" im FAZ-Feuilleton. +++

+++ Grundlegende Thesen zum Internet III: "Irgendwann muss man aus dieser Erkenntnis, dass Medien islamistische und offenbar hochwirksame Propaganda über Bande transportieren, Konsequenzen ziehen. Aber welche?" (Sascha Lobo, SPON). +++

+++ Die FAZ-Medienseite befasst sich mit den "Augen des ermordeten Zeichners" Charb auf Plakaten beim Trauermarsch in Paris  (Foto bei lemonde.fr). +++ Außerdem haben Netflix-Chefs mal wieder erzählt, wie sie die Zukunft des Fernsehens planen (vielleicht, weil Woody Allen, Regisseur sehr von vielen Kinokomödien, die "mittlerweile gerade nicht durch Unkonventionalität" auffallen, ja für Amazon tätig wird). Auch "lokale Stoffe nach dem Muster der schwedisch-amerikanischen Koproduktion 'Lilyhammer'" soll es geben, referiert Nina Rehfeld in der FAZ. Dass von den USA aus Schweden und Norwegen eins sind, ist tatsächlich aufschlussreich. +++

+++ Das Mekka des deutschen Privatfernsehens sind die Niederlande. Die SZ bespricht eine neue RTL-Sitcom "nach einer niederländischen Vorlage ('Divorce', Idee: Linda de Mol) haben sich die Autoren von Schwartzkopff TV, bekannt etwa durch 'The Voice of Germany', die besseren Späße immerhin auf dem Niveau von 'Ladykracher' ausgedacht)". +++ Am Rande: Schwartzkopff TV ist inzwischen ein Springer-de Mol-Unternehmen. +++ Und bei der Sat.1-Präsentation des "Reality-Formats" namens "Newtopia" nach einem "Urformat John de Mols in den Niederlanden" waren SZ und FAZ (online ähnlich) auch. SZ: "Der Anspruch, der dabei formuliert wird, lässt sich so zusammenfassen: ein bisschen Weltrevolution und ein bisschen Busen. Vielleicht auch viel Busen, wenn es sich gerade so ergibt." +++

+++ Für die SZ-Medienseite hat Claudia Fromme die "neu gepuderte" G+J-Zeitschrift Eltern angeschaut: "Sehr leger wird es bei der Anzeigenplatzierung, die einen bei den gut recherchierten Texten ärgert. Ein Protokoll zu Social Freezing wird flankiert von einer Anzeige eines Anbieters von Social Freezing. Vor einem Text zu Inkontinenz wird für Einlagen gegen 'Uups-Momente' geworben ... " +++

+++ Mal wieder was Relevantes bei carta.info: "Insbesondere, wenn private Suchmaschinen nach uns nicht bekannten Kriterien Verlinkungen zu Pressebeiträgen, Meinungsartikeln oder Ähnlichem löschen, müssen wir aufhorchen. ... Fest steht, dass die Gefahren für eine Zensur substanziell sind", schreibt die grüne Medienpolitikerin Tabea Rößner. +++ "Das, was hier als innovativ verkauft wird, ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer medienpolitisch falschen Weichenstellung" (radiowatcher.de über die App namens radioplayer.de). +++

+++Und Edo Reents ist nun offiziell Feuilletonchef der FAZ, meldet diese. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?