Nicht die gesamte Presse findet die Wahl von "Lügenpresse" als Unwort des Jahres gerechtfertigt. Schwarmverhalten und Aufladung als journalistische Probleme. Ein Smilie in einem Tweet von Erika Steinbach als ein juristisches Problem? Außerdem: ein Werk der Zivilisationsgeschichte als Zeitungstitelseite.
Falls jemand nach der Kür von "Lügenpresse" zum Unwort des Jahres (unwortdesjahres.net/ PDF), unter anderem wegen der "sprachgeschichtlichen Aufladung des Ausdrucks" in der Nazizeit, heute noch mal viel gründliches, journalistisches Lob des Journalismus befürchtet, wie es gestern abend etwa die "Tagesthemen" mit Heribert Prantl und natürlich Kai Gniffke vormachten, wird er angenehm überrascht.
In der Süddeutschen kommt die Unwort-Nachricht, wenn ich nichts übersehen habe, allein im "Streiflicht" vor, das mit Gustav Freytags 162 Jahre altem Bühnenstück "Die Journalisten" ein- und mit Googles NgramViewer, "mit dessen Hilfe man sehen kann, welche Karrieren bestimmte Begriffe in den letzten fünf Jahrhunderten machten", aussteigt:
"Bei der 'Lügenpresse' beginnen die Ausschläge um 1848, doch die richtig hektischen Fieberkurven finden sich in den Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in denen sich das friedliebende Deutschland der 'Lügenfeldzüge' kaum erwehren konnte. Das Diagramm endet mit dem Jahr 2000. Schade, dass das neue Unwort diesen schönen Termin zum Aufhören übersehen hat."
In der FAZ lässt die bunte Seite die Geschichte des Begriffs Revue passieren (und informiert, dass der der "Journaille" vom Journalisten Karl Kraus ersonnen wurde).
Dass bei der jüngsten Pegida-Demonstration auch wieder "Lügenpresse!" skandiert wurde, hat allerdings Jasper von Altenbockum als Eindruck aus Dresden (eine von zwei Pegida-Demo-Reportagen der heutigen FAZ) mitgebracht. Eher nicht, würde die TAZ entgegnen:
"Lügenpresse? 'Heute nicht', befiehlt Lutz Bachmann. Der Ruf passt nicht zu der Gedenkminute für 'Charlie Hebdo', zu der sich die Demonstranten versammelt haben".
So leiten Thomas Gerlach und Christian Jacob ihre Mittwochs-Reportage über die montägliche Demonstrationen ein, die insgesamt erheblich mehr Eindrücke wiedergibt als die FAZ (u.a. von einer "Rentnerin aus der Sächsischen Schweiz" und ihrem Mann, die "Internet-Fernsehen, vornehmlich bewusst.tv und quer-denken.tv", gucken. "Beide Kanäle verbreiten gerade, dass die Pariser Anschläge perfide Inszenierungen gewesen sein könnten. Im russischen Netz zieht das seit Tagen Kreise").
Aber zurück zur aktuellen Unwort-Diskussion:
"Besser kann man den Pegida-Leuten kaum in die Hände spielen und belegen, dass die Bezeichnung 'Lügenpresse' mehr ist als ein böser Kampfbegriff",
und:
"Es ist davon auszugehen, dass die Jury bei der Wahl von diesem Vorgang noch keine Kenntnis hatte",
kommentiert Ines Pohl, natürlich auch in der TAZ. Da bezieht die Chefredakteurin sich auf die "Fehldarstellung vieler Medien" (TAZ-Medienseite heute), was die Teilnahme vieler internationaler Regierungschefs am Trauermarsch am Sonntag in Paris betrifft (siehe den gestern hier verlinkten Spiegel Online-Artikel). Zumindest die Nachrichtenagentur AFP habe auch ein Foto, "das den arrangierten Block der Volksvertreter zeigt", im Angebot gehabt, insofern hätten die deutschen Medien "die wahren Umstände des Politikermarschs" zeigen können bzw. sich offenbar bewusst entschieden, es nicht zu tun, argumentieren die TAZler.
Wobei, vielleicht war es auch nicht so grotesk, wie einzelne Fotos aussehen. "Die Spitzenpolitiker um Hollande und Merkel liefen doch nicht in einer Seitenstraße, wie französische und britische Medien berichtet hatten. Christian Röwekamp, Sprecher der ... dpa, erklärte dem Tagesspiegel, dass die Staatsoberhäupter zwar in einigem Abstand zu den etwa 1,5 Millionen Menschen liefen, jedoch auf der gleichen Strecke und diesen voraus. ... Der durch die Fotos entstandene Eindruck, dass die versammelten Staatschefs den 'Republikanischen Marsch' angeführt haben, wäre demnach nicht falsch ...", meldete etwa tagesspiegel.de im Rahmen eines Livetickers (14.40 Uhr).
Nachtrag am Nachmittag: Der oben erwähnte "Tagesschau"-Chef Gniffke hat auch bereits "richtig sauer" zurückgebloggt.
Erwart- bis vorhersehbare Kommentare zur Unwort-Wahl gibt's in den klassischen Berliner Tageszeitungen (Christian Bommarius in der BLZ: "Es lebe die 'Lügenpresse'!", Tagesspiegel, in Springers Welt schildert Ulrich Clauß noch mal sehr schlicht, "Wo Pegida und Islamisten der gleichen Meinung" seien).
####LINKS#### Erhöhte Sensibilität bis hin zu einigen blank liegenden Nerven lässt sich der Presse insgesamt bescheinigen.
"Seit den Anschlägen von Paris überschlagen sich die Deutungen, rotieren die Reaktionen. Nicht alles wirkt stringent", heißt es in einem weiteren, lesenswerten Tagesspiegel-Kommentar, in dem Malte Lehming dann zehn "Ist es nicht seltsam?"-"Fragen an den rasenden Zeitgeist" stellt. U.a. eine bizarre, angesichts des ursprünglichen Anlasses lächerliche, womöglich dennoch juristische Streitigkeit um einen Smilie in einem Tweet von Erika Steinbach, aber auch Kritik an Springer-Chef Mathias Döpfner kommen darin in angenehm zurückhaltenden Tonfall vor. Schließlich ist auch auf Meinungsseiten niemand verpflichtet, unbedingt immer den vorgesehenen Raum mit einer felsenfesten Meinung zum angefragten Thema auszufüllen.
[+++] Der Terminzufall will, dass just, während Anfang 2015 das Unwort 2014 bekannt gegeben wurde, die neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung verschickt wird. "Das Unwort erklärt die Untat", heißt sie. Das Unwort, auf das sie sich bezieht, ist das von 2011/12, das überhaupt nicht mehr verwendet wird, weil es ein grob falscher Begriff war. Bei dem, was viele Medien aller Qualitätsstufen lange "Döner-Morde" nannten, handelte es sich schließlich um die Mordserie des NSU. Der Berichterstattung darüber gilt die 90-seitige Studie (hier als PDF).
In der vorangestellten Zusammenfassung ihrer Ergebnisse (S. 10/11) kritisieren Elke Grittmann, Tanja Thomas und Fabian Virchow u.a. "strukturelle Mechanismen und Defizite im Feld des Journalismus":
"Hierzu gehören insbesondere fehlende Ressourcen für eigenständige Recherchen, fortbestehende Distanz zu migrantischem Leben, unzureichende Repräsentanz migrantischer Perspektiven in der Berichterstattung sowie ein 'Schwarmverhalten', das - wie am Begriff 'Döner-Morde' erkennbar, der als plakative Formulierung vielfach übernommen wurde - zur Verstärkung diskriminierender Berichterstattung beitragen kann".
Vorher auf derselben Seite heißt es:
" ... Aus vermuteten Verbindungen zur 'organisierten Kriminalität' wurden vielfach Tatsachenbehauptungen gemacht. Die Berichterstattung wurde aufgeladen mit Spekulationen über angebliche 'Milieus' und 'Parallelwelten' ..."
Diese Aufladung scheint also auch ein gravierendes Problem zu sein. Gibt es (journalistische) Wege der Entladung?
[+++] In diesem Jahrzehnt, wenn nicht -hundert auch selten: frühzeitig ausverkaufte Presseerzeugnisse.
Die neue Charlie Hebdo ist's an diesem Mittwoch, nur zum Beispiel hier in Straßburg.
"Zeitungshändler berichten von langen Wartelisten für die neue Ausgabe" (EPD/ evangelisch.de). Beim deutschen Presseimporteur klagen die Mitarbeiter schon über "Zustände wie 'nach einem Erdbeben'" (Tagesspiegel), und das nicht wegen eines terroristischen Überfalls, sondern weil Paris nicht liefern könne. Bisher hat dieser Importeur freilich auch bloß 90 Hefte pro Woche aus Frankreich bezogen, und "verkauft wurden im Durchschnitt 45 bis 50 Exemplare" (dnv-online.net).
Behelfen kann man sich, wenn es um die Geste geht, mit der heutigen TAZ, die auf ihre gesamte Titelseite den Charlie-Titel übernommen hat und, wie ja durchschien, auch wieder einige lesens- und bedenkenswerte Artikel enthält. Dazu gehört auch noch Deniz Yücels Lob des Titelmotivs:
"... was für ein überwältigend schönes, rührendes und komisches Ergebnis! Eine Zeichnung, dies zu sagen ist man zumindest im Augenblick geneigt, die in eine Reihe gehört mit den Revolutionsgemälden von Delacroix und da Volpedo und ähnlichen Werken der Zivilisationsgeschichte."
Dass, wie viele Meldungen verbreiten, das ägyptische Fatwa-Amt stattdessen bereits von einer "ungerechtfertigten Provokation" spricht, "die zu einer 'neuen Welle des Hasses' führen werde", also die Zeichnung enorm auflädt, gehört auch dazu.
Eine gezeichnete Doppelseite aus dem Charlie-Inneren, unter anderem mit Madonna und Angela Merkel sowie ihren Unterhöschen, bietet die Süddeutsche im Feuilleton sowie online.
+++ Jürgen Todenhöfer ist es "gelungen, im Irak den deutschen IS-Kämpfer Christian Emde zu interviewen", was RTL heute nacht um 0.30 Uhr zeigt (dwdl.de). +++ "Man kann sich als Zuschauer daran aufgeilen, die eigene Angst, die eigenen Vorurteile, den eigenen Hass und die eigenen Mordfantasien aufsteigen lassen, wie das ist, wenn das Offenbare noch einmal unverhüllt gezeigt wird. Und die Aufklärung verschwimmt zum Infoporno" (Matthias Drobinski auf der SZ-Medienseite). +++
+++ #freemiao: "'Was soll das? Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Bist du wirklich deutsch? Du bist ganz anders als andere Deutsche!' – 'Wirklich?' – 'Die sind ehrlich.' – 'Und ich nicht?' – 'Nein, du nicht. Du bist komisch. Sehr komisch. Mit den anderen deutschen Journalisten war es immer sehr angenehm.' – 'Da haben die mir anderes erzählt.' – 'Mit dir ist es gar nicht angenehm. Ich an deiner Stelle würde mich zusammenreißen'" (nicht Gustav Freytag 1853, sondern ein chinesischer Polizeibeamter 2014). Weil Zhang Miao inzwischen seit Monaten unter obskuren Bedingungen in Haft gehalten wird, hat Zeit-Korrespontin Angela Köckritz eine lange Reportage über die Verhaftung ihrer Mitarbeiterin und ihre eigenen Versuche, über ihr Schicksal etwas herauzufinden, veröffentlicht (zeit.de). +++
+++ "Ich komme ja direkt von den angeblich 'gleichgeschalteten' Medien. Ich habe die letzten zwanzig Jahre als Journalist frei für die ARD gearbeitet. Aus dieser Perspektive kann ich nur sagen: Wer mit guten Argumenten für seine Themen und Positionen kämpft, bekommt am Ende dort auch Sendezeit. Aber bei allem guten Journalismus, den es gibt, empfinde ich doch auch in der Summe als Zuschauer bei den großen, wichtigen Fragen - Sozialreformen, Rentenreformen, die außenpolitische Neuausrichtung - das Meinungsspektrum als sehr eingeengt" (Dietrich Krauss, beim ZDF Redakteur für "Die Anstalt" mit den Kabarettisten Max Uthoff und Claus von Wagner, im Stefan-Niggemeier-Interview auf krautreporter.de). +++
+++ Der nun bestätigte neue Chefredakteur von Spiegel Online, Florian Harms, ist studierter Islamwissenschaftler (spiegel.de). +++ Das gesamte Paket mit Klaus Brinkbäumer als Chefredakteur des gedruckten Spiegel, der "auch eine Art Ober-Hoheit über das Online-Geschehen beim Spiegel" habe, sei "der totale Triumph der Heft-Redaktion im Machtkampf" (Stefan Winterbauer, meedia.de). +++
+++ "Nicht entschuldigt hat sich der Sender", der noch neue französische Nachrichtensender BFM TV, "für eine unverantwortliche Fehlleistung: Am Nachmittag meldete er während der Live-Übertragung, dass sich eine Frau in der Kühlkammer versteckt habe. Sie war nicht die Einzige, aber ihre Familie hat wegen der Gefährdung ihres Lebens bei der Medienaufsicht CSA Klage eingereicht": Über diesen und andere Aspekte der französischen berichterstattung informiert Jürg Altwegg auf der FAZ-Medienseite. Über Michel Houellebecqs Interview mit Canal + auch frei online. +++
+++ Dem New York Times-Reporter James Risen bleibt Beugehaft (siehe epd medien) erspart, meldet die FAZ außerdem. +++
+++ "Tag der Wahrheit" "ist ein lupenreiner, dramaturgisch perfekt gebauter Katastrophenfilm mit allen genretypischen Zutaten und zugleich ein gesellschaftspolitisches Statement" sowie "ein zweisprachiger Film, in dem die Sprecher jeweils situationsbedingt zwischen Deutsch und Französisch (untertitelt) wechseln": Da ist Heike Hupertz (FAZ) ganz begeistert vom ARD-Spielfilm heute abend. +++ Auch die SZ ist angetan vom deutsch-französischen Fernseh-Experiment. Frei online zu haben sind Kritiken von TPG hier nebenan und von Peter Luley bei Spiegel Online (da das Werk vorab bereits auf Arte lief). +++
+++ "'Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Für mich ist es ein Rätsel, warum manche Sportarten im Fernsehen nicht angenommen werden', sagt ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz, der bei seinem öffentlich-rechtlichen Sender allerdings nicht so streng nach marktwirtschaftlichen Kriterien entscheiden muss wie die private Konkurrenz. 'Unser oberstes Gebot ist Vielfalt', sagt Axel Balkausky, Sportkoordinator der ARD-Sender. Nicht nur öffentlich-rechtliche Gremien sollen ja schließlich die Gesellschaft abbilden, sondern vor allem das Programm. Da der Sendetag aber auch nur 24 Stunden hat, muss aus der Vielfalt immer wieder gut begründet ausgewählt werden...": Da geht die SZ-Medienseite anlässlich der nur auf Sky im Pay-TV übertragenen Handball-WM der Frage nach, welche Sportarten das Fernsehen überträgt und welche nicht, und hat sich offenbar eine Menge erzählen lassen, ohne Gelegenheit zum Hinterfragen gehabt zu haben. +++
+++ "Immer wieder werden Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen als Freie bezeichnet und behandelt, aber wie Festangestellte eingesetzt" (DJV Hamburg-Geschäftsführer Stefan Endter wegen eines Funke/ Springer-Problems zu newsroom.de). +++
+++ "Die Leute bei Deloitte haben herausgefunden, dass sich die Aversion der nach dem Jahr 2000 Geborenen gegen physische Medien wie DVDs, CDs, Zeitungen oder Zeitschriften nicht auf Bücher erstreckt": Da hat meedia.de die "Deloitte TMT Predictions 2015", frische Prognosen der Unternehmensberatung zur Medienentwicklung, gelesen. +++
+++ Und "die 'Talkshow' heißt in Großbritannien 'Chat Show', und schon das zeigt, dass es sich um eine leichtherzigere Sparte handelt als die ernste deutsche Talkshow" (Tsp. im Rahmen einer internationalen Fernsehumschau). Wenigstens Markus Lanz' Sendung ließe sich vielleicht auch so rubrifizieren. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.