Vorläufige Regeln

Vorläufige Regeln

Für den Umgang mit erbosten Kommentatoren. Für den Umgang miteinander in sozialen Medien. Für den Umgang mit Listing-Formaten. Zwei Unterschiede zwischen Buzzfeed und NDR. 11 Richterinnen, vor denen man gestanden haben muss. Witze auf Kosten Subalterner.

Entschleunigung, wie sie im Buche steht: Die NZZ widmet einigen Umfang auf ihrer wöchentlichen Medienseite dem Thema Bart. Argumentiert wird das in der Unterzeile aka dem Teaser:

"Conchita Wurst machte mit ihrem auffälligen Aussehen eine steile Medienkarriere. Grund genug, die medialen und sozialen Aspekte der Renaissance des Bartes etwas auszuloten."

Darunter ein Text von Ursula Ganz-Blättler, der die "medialen" Aspekte vielleicht enger hätte führen können, der doch aber ambitionierter ist als die Einschaltquotenwettrennen, die normal für Medienjournalismus gehalten werden. Außerdem hält er direkt drauf auf eines der Themen, die beschäftigen, wenn Conchita Wurst eben auch vom User-Geschimpf her gedacht wird:

"Interessant ist übrigens, dass die Polemik, die dem (Über-)Flug der bärtigen Sängerin aus der Steiermark kontinuierlich neuen Zündstoff liefert, so ungeheuer gehässig gar nicht geführt wird. Vergleicht man die Kommentare unter den Wurst-Videos auf Youtube mit den Kommentaren unter den Videos von, sagen wir, Schlagerstar Helene Fischer, schlägt einem ein durchaus vergleichbarer Grad an Hass und Häme entgegen."

Darüber nachzudenken, woran das liegen könnte, wäre uffregend, muss hier aus Zeitgründen aber eider entfallen. Vielleicht kann in nicht zu großer Ferne ja eine Studentin von Prof. Lilienthal eine Masterarbeit unter dem Titel "Putin, Umerziehung, find ich gut. Eine Ästhetik des User-Gemaules" vorlegen.

Über das Problem mit den Kommentaren im Internet orientiert Christian Jakubetz auf der Seite der Akademie Berufliche Bildung der deutschen Zeitungsverlage (ABZV e.V.). Wobei sich der Text gut funktioniert als Archiv der Beiträge zum Thema, also Andrea Diener, Stefan Plöchinger oder, jüngst, Dieter Schnass von der Wirtschaftswoche referiert. Schnass:

"Die Internet-Foren der Magazine und Zeitungen dienen vielen Lesern nicht mehr als Plattform des Meinungsaustauschs mit dem Redakteur, sondern zur wechselseitigen Bestätigung ihrer angespitzten Gesinnungen – über den Redakteur (und den allgemeinen Diskurs) hinweg."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Dirk von Gehlen, der heute auf der Medienseite der SZ (Seite 31) über das Dilemma mit den Kommentaren schreibt:

"Eine deprimierende Erkenntnis mancher aus dem Ruder laufender Netzdebatte lautet nämlich: Zahlreiche Kommentatoren sind nicht einmal Leser (geschweige denn Abonnenten), sie nutzen lediglich die Öffentlichkeit des jeweiligen Mediums, um ihre Ansichten breitzutreten. Dass sie diese bekommen, ist häufig schlicht Ergebnis beständigen Wegsehens. 'Hart moderieren' lautet der Ansatz, der auch außerhalb des Netzes nicht unbekannt ist."

Ein anderer Umgang miteinander ist möglich, möchte man an dieser Stelle aufrufen – und etwa daran erinnern, dass man sich nicht zwangsläufig hassen muss, nur weil man sich nur virtuell kennt (auch wenn es im Blogpost von gedankenreiter.de streng genommen um das Miteinander in sozialen Medien ging):

1994 ging ich zum ersten Mal ins Internet, Anfang 1995 gab mir meine Universität meine erste E-Mail-Adresse. Und in einer der ersten Mails, die ich bekam, schickte mir jemand die Netiquette. Das Medium war für uns alle noch neu und aufregend. Das Internet selbst gibt es schon länger, aber das WWW stand erst am Anfang. Und natürlich wollten wir da keine Fehler machen. Weder technische im Umgang mit Browser und E-Mail (damals zählte noch jedes Bit und Byte) noch soziale im Umgang mit Menschen, die am anderen Ende des Bildschirms saßen. Entsprechend lautete der erste Grundsatz der Netiquette auch: 'Vergiss nie, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt.'"

Die pessimistische Sicht auf das Gegenüber ist wiederum die Pointe von Gehlens Text, der geschickt vor: Er fängt beim Brass des Journalismus auf die Kommentatoren an, watscht aber die Kommentatoren nicht nur ab. Sondern erklärt eben:

"Vielleicht ist der Abgrund, in den das Land dieser Tage schaut, in Wahrheit ein Spiegel, in dem man erkennen kann, welche Brandstifter in den vergangenen Jahren außerhalb des Netzes so viel Feuer gelegt haben, dass es jetzt auch innerhalb brennt."

Ein schönes Beispiel dafür wäre die FAS. Dort wurde zuletzt Reinhard Mohr gedruckt, der Ernst Elitz für konservativen Politikteile. Denn Mohr hat, seit er erfolgreich konservativ geworden ist, nur noch ein Thema im Stehsatz: das Schimpfen auf die eigene Vergangenheit (als Gegenwart und Irrtum der anderen, versteht sich), auf "linke Heuchler", kurz: den üblichen "Politische Korrektheits"-Pipapo.

Würde man sich Mohr als Geld vorstellen, wäre er der Notgroschen der Einfallslosigkeit, die Nummer, die man wählt, wenn alle im Urlaub sind, den Auftritt, den man seufzend bucht, bevor die Zeitung weiß bleibt. Journalismusoriginell gedacht ist sein Auftauchen auf einem Cicero-Titel daher weniger verwunderlich als in der FAS, aber Zeiten ändern sich ja auch.

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Interessant ist nun, dass Mohr mit seinem Standardtext dann Leserzuschriften wie noch nie generiert (steht so ähnlich dann zumindest in der FAS vom So.) – wobei eine rezeptionspsychologische Untersuchung einmal rausfinden sollte, wie die spezifische Form der Amnesie heißt, bei der Leute, den gleichen Text, der seit 1990 über "Gutmenschen" und "gegen politische Korrektheit" wieder und wieder geschrieben wird, immer wieder neu mit der Begeisterung des "Endlich sagt's mal einer" begrüßen können.

Ehe wir jetzt aber zu weit raustreiben, rasch zurück in Richtung Gehlen. Interessant ist eben, dass die FAS mit Mohr ein Geschimpf bedient, dessen Zustandekommen kurz zuvor – leider ist der Text nicht online – Mehmet Ata an gleicher Stelle am Beispiel von Akif Pirinccis Diagonalkarriere vom Katzenfreund zum Kotzbrocken kühl analysiert hatte. Da ging es darum, dass Pirincci sich in seiner Einsamkeit radikalisiert hat, als er realisierte, dass Postings bei Facebook dann dick wahrgenommen werden, wenn's gegen "Gutmenschen" und so geht. In der Verkürzung zu monokausal, aber nicht uninteressant.

Bei Gehlen gibt's übrigens noch ein Beispiel für unsere immer noch nicht als tumblr angelegte Sammlung der schönsten Zeitungs-Analogien:

"Medien sind heute keine Straßenverkaufsstellen mehr, an denen Essen zum Mitnehmen über die Theke gereicht wurde. Medien im Netz sind heute Restaurants, deren Qualität sich nicht nur daran bemisst, was verkauft wird, sondern auch daran, wer im Lokal sitzt und sich wie verhält."

Dass die Köche mehr Einsatz zeigen könnten, wäre etwas, dass man aus Jakubetzens Text ableiten könnte:

"In der Praxis gibt es nicht nur zunehmend öfter und deutlich geäußerte Kritik an der Debattenkultur gerade im Netz. Sondern auch die Erkenntnis, dass Journalisten sich immer noch gerne raushalten aus solchen digitalen Diskussionen. Im eigenen Medium weniger, an anderen Stellen dafür umso mehr. Eine Studie hat jetzt ergeben, dass sich gerade mal etwas mehr als 40 Prozent der Journalisten an Diskussionen im eigenen Medium beteiligen. Bezeichnend: selbst 'im eigenen Medium' oder 'in anderen Medien' gibt jeweils ein knappes Drittel der Befragte an, sich 'nie' an Debatten zu beteiligen."

Wobei, Moment – Studie, Umfrage, Liste?

"Nun mag man darauf verweisen, dass die Umfrage nach empirischen Maßstäben nicht wirklich repräsentativ ist und zudem die Ergebnisse aus sechs europäischen Ländern zusammengefasst wurden."

Spitzenüberleitung zum Korb, in dem es um den Ranking-Schlamassel beim NDR geht.


Altpapierkorb

+++ Die Kritik an den Manipulationen (Altpapier von gestern) hält an und nimmt zwei Wege. Der eine wäre der, sagen wir, handwerkliche. Jürn Kruse in der TAZ: "Alle beziehen ihre superlative Kraft aus Abstimmungen auf ndr.de. Welch mickrige Basis für derartige Aussagen! Da drehen sich jedem Empiriker die Fußnägel auf links." +++ Bzw. Hans-Peter Siebenhaar in seinem HB-Blog (das wohl recht rasch geschrieben wurde angesichts einiger Flüchtigkeitsfehler, aber das sagt the right one): "Diese Manipulationen sind bitter für den Gebührenzahler. Denn wenn er schon keinen direkten Einfluss beispielsweise mit einer Direktwahl der Rundfunkräte nehmen kann, so gab er sich doch der Illusion hin mit einem Anruf Rankinglisten beeinflussen zu können – eigentlich eine schöne demokratische Möglichkeit der Rundfunkbeteiligung." +++ Die andere wäre die, sagen wir, grundsätzliche, also die Möglichkeit zu erkennen, dass die Sendungen nicht "manipuliert" wurden, sondern dass sie immer schon "Manipulation" sind (legt man einen Anspruch ans öffentlich-rechtliche Fernsehen zugrunde). Stefan Niggemeier: "Das klingt eigentlich nach einer tollen pädagogischen Maßnahme: die Verantwortlichen eines Fernsehsenders zu zwingen, sich noch einmal gründlich mit dem, was sie in den vergangenen Jahren produziert haben, auseinanderzusetzen... Man könnte angesichts dessen schon zu dem Schluss kommen, dass da im Dritten Programm des NDR noch etwas ganz anderes schief gelaufen ist, als dass der Rhododendronpark Ammerland um seinen Platz als zehntschönster Garten oder Park Norddeutschlands gebracht wurde, weil es angeblich von ihm nicht so gutes Bildmaterial gab wie von Planten un Blomen." +++ Der Witz besteht natürlich darin, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen of our days auf so ein Problem immer nur "handwerklich" reagieren kann. Mit Bürokratie, den "vorläufigen Regeln für den redaktionellen Umgang mit Listing-Formaten". Punkt 2: "Auswahllisten der Redaktionen müssen bereits mit Blick auf Lizenzfragen und Materiallage vor Veröffentlichung geprüft sein, um nachträgliche Änderungsnotwendigkeiten zu minimieren. Wiederholungsrechte werden bei der Prüfung berücksichtigt." Was soll man sagen? Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! +++ Vielleicht müssten NDR, ZDF, Rest-ARD bei der Buzzfeedisierung des Programms einfach nur checken, dass Hierarchisierung voll 20. Jahrhundert ist: Statt "Die beliebtesten Gerichte des Nordens" könnte es doch einfach heißen: "11 Richterinnen, vor denen man mal gestanden haben muss". +++ Das ist nicht der einzige Unterschied zwischen Buzzfeed und dem öffentlich-rechtlichen System. Buzzfeed hat gerade 50 Millionen Dollar VC gekriegt, Geld, mit dem nicht nur Listicles performt werden sollen (etwa: meedia.de). +++ ARD und ZDF, nur zur Erinnerung, kriegen Geld von allen Bürgern, damit sie etwas machen können, was der Markt nicht hergibt. +++ Was zu diesem Komplex unbedingt noch dazugehört (weil es die Probleme zeigt, die ARD-intern wohl die größten sind): Lautstärkeregelung. "tpg" (Tilmann P. Gangloff?) in der NZZ: "Wie Gebhard Henke, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, sagt, haben viele ältere Menschen mit nachlassendem Gehör Probleme, wenn Dialog, Musik und Geräusche sehr 'gleichberechtigt' gemischt werden, wenn die Dialoge also nicht sehr abgesetzt herausgestellt sind: 'Insbesondere jüngere Regisseure mischen gern so, weil das 'realistischer' klingt. Die Balance zwischen dem künstlerischen Aspekt und dem Bedürfnis älterer Zuschauer herzustellen, ist bei uns ein Dauerthema.'" Geh mir aus der Sonne, Bildungsauftrag! Vielleicht sollte man die Digitalkanäle einfach so neu denken – nach Verständlichkeit. +++

+++ Stefan Mrossens Unwohlsein nach Scharfe-Saucen-Testen wird allen Ernstes von Sara Lienemann in der TAZ besprochen – auf eine Weise, die jeder unidentifizierbaren Fernseh-Nacherzähl-Seite zur Ehre gereicht hätte: "Mit Schweißperlen auf der Stirn verzog er das Gesicht, stützte sich auf dem Tisch ab und schaffte es nur noch gerade so, den nächsten Schlageract anzumoderieren, nach welchem er dann auch verschwunden war." Ehrlich, TAZ? +++ Kaffeesatzleser hätten doch immerhin darüber nachdenken können, wie a) zynisch, b) lustig oder c) irrelevant es ist, wenn der ARD-Programmverschickerdirektor Volker Herres seine Sendehinweise aus Hilton Head Island, South Carolina einmal unterbricht für einen Witz über den Moderator, der sich die Sauce ja auch reinpfeifen muss, damit Herres bei der nächsten Gremienkonferenz gute Quoten melden kann (oder gute Quoten an ihn gemeldet werden, sind gerade nicht im Bilde über das Angstgefälle): "Einmal Mross mit scharfer Soße". +++

+++ Gewisse Zweifel an der Erkenntnistiefe aka Relevanz der Floskelwolke.de (AP von gestern) packt Victoria Morasch in der TAZ in lauter Floskeln. +++ Christoph Kappes auf Carta über die wenigen Autorinnen in einer Buchveröffentlichung: "Obwohl wir uns in der Redaktionssitzung am 30.9.2013 eine Autorinnenquote von rund 30 Prozent als Ziel gesetzt haben, haben wir dieses Ziel nicht erreicht. Ich kann hier nicht ohne Rücksprache für die anderen Herausgeber sprechen, für mich scheint der Fall aber recht klar: Wir spiegeln hier die Autorinnenquote der Blog-Auswahl, und wir spiegeln hier eine Leser- und Followerschaft." +++

+++ Günter Junghans ist gestorben, und wird in den dürftigen Agenturnachrufen – wie hier in der FAZ – erinnert mit: "In der ARD-Serie 'Weissensee' spielte er die Rolle des Generaloberst Koweitz." +++ Hans-Dieter Schütts Text im ND liest sich da doch lebendiger und reicher: "Ich sehe ihn noch quirlig, verquer mit Hilmar Thate und Wolfgang Greese in Ostrowskis Komödie 'Der Wald', auch war er ein sinnfällig verdruckster Franz Moor in der legendären Inszenierung von Schillers 'Räubern'." +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder.

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