Christoph Bertram Rekordteilnehmer

Christoph Bertram Rekordteilnehmer

Mitleid wäre mit Blick auf Thilo Sarrazin wohl der falsche Begriff. Aber dass ein Rechthaber wie Sarrazin bei der morgendlichen Zeitungslektüre mit – ihm unbedingt zuzutrauen – analog integriertem Google-Alert-Scan-View, eingestellt auf "Politische Korrektheit", sich noch ungerechter behandelt fühlen muss als eh schon (weil Sarrazins letzter Schocker medial nicht annähernd so abging wie der vorvergangene), das kann man durchaus verstehen.

Während mit Sarrazin nicht mehr gespielt wird, machen die anderen das doch auch, wie es in der hier nur adäquaten Kindergartendiktion heißen muss.

"Die Meinungsfreiheit sieht er inzwischen nicht ganz zu Unrecht durch die politische Korrektheit bedroht."

Oder:

"Aber man dürfe es in der Kunst mit der politischen Korrektheit nicht zu weit treiben."

Beziehungsweise:

"Und so handelt es sich wohl wieder einmal um einen dieser Fälle von leicht hysterischer Political Correctness, die ... in letzter Zeit en vogue ist."

Eigentlich müsste man damit Quizduell gegen Checker-Thilo spielen: Welcher Satz ist aus Sicht des Textes, aus dem er stammt, wie gemeint – affirmativ oder inkriminierend?

Die Auflösung, von unten nach oben: Nummer 3 affirmiert, und zwar heftig. Steht in Sven Ricklefs DLR-Kommentar zur Kritik an Johan Simons' Wiener Festwochen-Inszenierung eines Jean-Génet Stücks, das im Original "Les Nègres" heißt. Für Ricklefs geht die Kritik, natürlich, zu weit, wobei man sich bei ihm fragt, wann er eigentlich zugezogen ist: "In letzter Zeit en vogue" – my ass! Seit bald 25 Jahren muss man sich von selbsternannten Opfern geschichtloses Rumgejammer über das Walten einer angeblichen "politischen Korrektheit" anhören. Get a life!

Insofern ist bei Satz 2 die Sache nicht ganz einfach, weil Christine Dössel in der SZ (Seite 13) zum gleichen Fall die Behauptung, die indirekte Rede zeigt es an, einfach Simons selbst überlassen hat. Ein wenig Distanz ist spürbar, auch weil die Überschrift "Das N-Wort" heißt. Schön wäre allerdings gewesen, hätte Herr Simons noch angegeben, wie weit genau getrieben werden darf, wenn nicht zu weit – 7,80 oder 9,10 Meter?

Satz Nummer 1 ist der interessanteste, weil der janusköpfig itself ist, wie die Gründe für den Medienbetriebsliebesentzug, der Thilo "Ich hab doch nichts gemacht" Sarrazin verdrießen muss: Jürg Altweggs FAZ-Text (Seite 13) über die "seltsame Karriere" des "Reporter ohne Grenzen"-Gründers Robert Ménard zum FN-Bürgermeisterkandidaten in Bézier läuft zwar auf eine Distanzierung von Ménard hinaus. Das bisschen Ressentiment, was Altwegg mit Rénard aber teilt ("nicht ganz zu Unrecht"), wird trotzdem rausgelassen. Spaßvögel könnten sich fragen, warum dann Rénard überhaupt doof gefunden werden soll.

Apropos Spaß: Mordsgaudi macht heute auch die Medienseite der FAZ (Seite 13). Da steht nämlich ein Artikel von Nord-by-Nordeast-Korrespondent Frank Pergande, der die Aufarbeitung der DDR-Bezirkszeitungsvergangenheit des in Neubrandenburg erscheinenden Nordkuriers (vormals "Freie Erde") diskutiert. Darin der Satz:

"Es gab immer wieder einen 'Kaderaustausch' zwischen SED-Parteiapparat und Redaktion. Journalismus wurde als Parteiarbeit verstanden."

Und, das ist der Spaß an diesem 1. April, gleich daneben ist eine Meldung gedruckt, in der unter der Überschrift "Kadertausch" "Seitenwechsel" vermeldet wird, dass die upcoming Grimme-Chefin Frauke Gerlach zwei Aufsichtsgremienmandate aufgibt.

Nee, das hat ja doch gar nichts miteinander zu tun: Frauke Gerlach ist ja als Parteilose bei den NRW-Grünen Justiziarin, und dass Grimme, dieses Flagschiff der Unbestechlichkeit, Journalismus mache, kann man ja auch nicht sagen.

So können die Assoziationen mit einem durchgehen, weil, man denke an Wolfgang Michals jüngsten Carta-Text, die Texte auf einer limitierten Zeitungsseite anders organisiert sind als im Scroll-Schlund und der Klick-Breite des Internets.

Auf den Michal-Text kommt auch zurück: Frank Lübberding in seinem Blog, in dem er einen Gastbeitrag von Pavel Lokshin zur Krim-Krisen-Putin-Vergleiche-Berichterstattung anmoderiert. Lokshin hat den Vorteil, Putins Reden im Original verstehen zu können, so richtig, wenn ich so ehrlich sein darf, leuchtet die Differenzierungsleistung – zwischen "russisch" und "russländisch" – allerdings nicht ein.

"'Russisch sein' ist eine kulturelle Identität. Gemeint sind damit weniger die Besitzer der gesammelten Werke von Dostojewskij, sondern Gruppen, die sich mehr oder weniger widerstandslos von Moskau regieren lassen – wie die Bewohner der Krim. Welchem 'Volk' sie dabei angehören, ist für Putin unerheblich."

(Und wenn wir schon bei solch intimen Lektüregeständnissen sind – Kerstin Holm berichtet für FAZ doch gerade nicht mehr aus Moskau, but aus Frankfurt)

Dem Scrollen gegenüber skeptisch zeigt sich Rainer Stadler in seiner NZZ-Medienkolumne:

"Im Unterschied zu konventionelleren Darstellungsformen kommt dabei nicht der gesamte Webseiten-Inhalt in Bewegung; vielmehr schieben sich beim Scrollen kurze Texte oder neue Fotos über stehen bleibende Bilder. Diese Technik wendet in der Schweiz auch die Website Watson an. Das wirkt avantgardistisch, allerdings bleibt mir der tiefere Sinn dieses Verfahrens verborgen."

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[+++] Wir – Hammerüberleitung – skippen mal fix in die kuscheligste Komfortzone of today's Zeitungsmachen: Die Zeit haut bekanntlich diese Woche ihren neuen Hamburger Lokalteil raus. Der freilich, so friedvoll schwimmt sich's durchs deutsche Presseaquarium, niemandem Konkurrenz machen soll. Giovanni diLorenzo im SZ-Interview mit Claudia Fromme:

"Es ist keine Kriegserklärung an das Abendblatt, das hier der Platzhirsch ist. Wir sind gar nicht dazu in der Lage, den Lokalzeitungen Konkurrenz zu machen."

Springer muss also was missverstanden haben, als der Zeit-Vertrieb für Hamburg gekündigt wurde.

Und andere Teile der Republik, die noch nicht gecovert sind von Zeit-Regionalnummern (also alle außer Hamburg und, geilste Kategorie von allen, Ostdeutschland), brauchen sich erst recht keine Sorgen zu machen vor einer – in Österreich und der Schweiz offenbar erfolgreichen – Expansion der überregionalen Wochenlokalzeitung:

"Nein, solche Pläne gibt es nicht. München hat genügend Zeitungen, und eine ganz besonders, die einfach zu gut ist."

Es soll sich ja keiner hassen, und Freund- resp. Höflichkeit ist etwas sehr Schönes. Und trotzdem mag es manche Leserin doch irritieren, wenn sich da so ultranette Kadersträuße überreicht werden zwischen den Big Zeitungen des Landes. Vielleicht kommt diese Irritation auch nur daher, dass man Ironie gedruckt nicht so gut erkennt.

In dieses plüschige Umfeld passt die, äh, Guerilla-Aktion eines Hamburger Stadtmagazins namens "Stadtlichh": Die ist von solch dröger Harmlosigkeit (das eigene Heft in Zeit-Exemplare am Kiosk stecken bzw. sie an die Zeit schicken), dass man bei dem 1.03-Minuten-Film auf der Meedia.de-Seite Mühe hat, nicht wegzuklicken. Ist der Stellenmarkt jetzt auch aus dem Internet abgewandert?

Und wer verdirbt die Laune? Der "notorisch nörgelige Medienjournalist" (Stefan Winterbauer) Stefan Niggemeier, der sich nach dem "Ethik-Kodex" von Zeit-Online nun auch noch den "Code of Ethics" von der Zeit besorgt hat. Dessen Wirkmacht scheint in der Praxis noch nicht ganz klar:

"Ein 'Zeit'-Autor schreibt über ein Projekt, bei dem eine neue Außenpolitik verhandelt wird, woran er selbst beteiligt war, ohne das zu erwähnen — ein klarer Verstoß gegen den Kodex. Angeblich handelte es sich nur eine Panne: Versehentlich habe der eigentlich vorgesehene Transparenz-Hinweis gefehlt. In der folgenden Woche veröffentlichte die gedruckte 'Zeit' eine dezente 'Klarstellung' ohne Entschuldigung. Unter der Online-Fassung des Artikels fehlt bis heute jeder entsprechende Hinweis. Es scheint mühsam zu sein. Trotz Kodex."

Immerhin hat die Zeit ihren Startplatz bei der Bilderberg-Konferenz an den Springer-Kader Mathias Döpfner abgetreten, heißt es, obwohl der laut Teilnehmerliste schon 2007 einmal in the house war. Vielleicht könnte da bei Gelegenheit mal eine von Prof. Lilienthals besten Studentinnen darüber promovieren: "Christoph Bertram Rekordteilnehmer. Die Einladungsarchitektur der Bilderberg-Konferenz zwischen gestern und morgen"


Altpapierkorb

+++ Twitter ist ja so vieles, wie Thomas Schuler unlängst in der Berliner zu klären versucht hat – auch ein Aprilscherz-Killer? Der Postillon verzichtet jedenfalls, muss er ja auch, weil dort an den 364 Resttagen 1. April ist. +++ Den größten Gag hat folglich die JVA Landsberg gelandet. Die hat so geschickt zur Vorbesichtigung des neuen Hoeneß-Environments eingeladen, dass die Berichte alle an dem medial lächerlichsten Tagen erscheinen. Und sich, siehe Welt, keine Mühe geben, anders als so zu klingen: "Vom Mörder bis zum Einbrecher, alles dabei." +++ Alexander Becker kommentiert auf Meedia.de: "Das Ergebnis der Aktion ist eine unfreiwillig komische Mediennummer geworden. Bereits wenige Stunden später ist das Web voll mit Klickgalerien, die überwiegend aus drei Arten von Motiven bestehen. Sie zeigen: 1. Leere Zellen. 2. Große Gruppen von Journalisten, die durch ein Gefängnis laufen oder vor einem Tor oder auf einem Fußballplatz stehen. 3. Vermeintlich lustige Details aus den leeren Zellen und Gängen." +++

+++ Zu den lesenswerten längeren Texten: Brigitte Hürlimann in der NZZ über die Medienarbeit des Anwalts Stephan Bernard, der die veröffentlichte Meinung über einen Jugendstraftäter geändert hat: "Tunlichst vermieden habe er es, sagt Stephan Bernard, im Fernsehen aufzutreten: 'Ich hätte an jeder Talkshow teilnehmen können und habe stets abgesagt.' Bernard agierte also bewusst im Hintergrund und wollte auf keinen Fall zum prominenten Anwalt mutieren. Homestorys oder Porträts über ihn lehnt er bis heute entschieden ab. Im Fall 'Carlos' bezweckte er mit seiner Zurückhaltung, die Behördenseite nicht zu brüskieren oder zu provozieren und nicht unnötig zu verärgern: 'Das wäre für meinen Klienten kontraproduktiv', sagt Stephan Bernard." +++ Die heillos trockene, aber höchst interessante Diskussion der Frage, ob man eBooks verleihen kann/darf, die Ilja Braun auf Carta führt: "So einfach geht es aber nicht, findet Tabea Rößner von den Grünen. Es sei schließlich ein Unterschied, ob man ein gedrucktes Buch weitergebe, das irgendwann ganz zerfleddert sei, oder eine verlustfreie digitale Kopie. Ermögliche man den Second-Hand-Handel mit Dateien, entstehe ein Zweitmarkt, der den Erstmarkt unattraktiv mache. 'Dann müssen die Preise in die Höhe gehen, und damit habe ich als Kulturpolitikerin ein Problem', so Rößner." +++ Julia Gerlach in der Berliner über Prozesse gegen angeblich der Muslimbruderschaft nahestehende Journalisten. +++

+++ Funke darf Springers Programmzeitschriften übernehmen, weil Klambt mit Springer-Geld Funke-Teile übernimmt. Das Handelsblatt mit dem Anreißer zur "Exklusiv"-Meldung. +++ Die TSP mit Bericht. +++ Die TAZ auch. +++

+++ Rudolf Neumaier schreibt in der SZ (Seite 13) über die Lage auf dem Markt für Angler-Magazine, weil dort jetzt auch der Szenevollbart einzieht: "Jahrzehntelang war das Monatsheft Blinker das Vademekum des Anglers. Bis September 2009 stand unter dem Titel 'Europas größte Angelzeitschrift'. Aus der 'größten' wurde dann die 'große', inzwischen liegt Fisch & Fang vorn, das älteste Angelmagazin Deutschlands." +++ Eine ProSieben-Tochter kooperiert zur Serienproduktion mit Amazon. Ausgerechnet Amazon, fragt Michael Hanfeld in der FAZ den Produzenten Jan Frouman: "Natürlich! Amazon passt deshalb sehr gut, weil das Unternehmen so stark im Buchgeschäft ist. Wenn Michael Connelly einen neuen Roman auf den Markt bringt, verkauft er die Auflage zu sechzig Prozent über E-Books, und den Großteil davon über Amazon. Seine Fans sind dort also zu Hause. Deshalb war Amazon sofort von dem Projekt begeistert." +++ Aus der Abteilung "Metaphern, die nicht jeder gewählt hätte": "Matthias Opdenhövel habe es gut verstanden, Scholl 'eine Rampe zu bauen'." (Aus einem SZ-Text zur WM-Berichterstattung der ARD). +++ Und Joachim Huber stellt im Tagesspiegel die Trainerfrage in Sachen Markus Lanz: "Wie lange wird das ZDF noch an seiner Show 'Wetten, dass..?' festhalten?" Nicht mehr ob, sondern wie lange. Als Anschlussbericht bietet sich eine Reflektion über den "Moderator auf Abruf" an, in dem der Begriff "lame duck" nicht fehlen darf. +++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder.

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