Leistung lohnt sich nicht

Leistung lohnt sich nicht

Was war Henri Nannen in der Nazi-Zeit? Steht Spiegel Online gerade kurz davor, einen strategischen Fehler zu begehen? Welche Genres macht das US-Serienfernsehen gerade obsolet fürs Kino? Außerdem auf der Agenda: die Forderung nach einem „Nothilfefonds für freie Journalisten“.

Dass Henri Nannen am kommenden Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre - daran werden wir nun auch schon seit mindestens drei Wochen erinnert, als in der Zeit ein großer Text über den Illustrierten-Gründer erschien. Je näher der runde Jahrestag rückt, desto größer wird das Debattenpotenzial der Abhandlungen. Der sehr lange FAZ-Text über „die braunen Wurzeln des Stern“ (siehe Altpapier) steht inzwischen frei online. Heute ist zu diesem Thema ebenfalls in aller Ausführlichkeit Willi Winkler in der SZ (Seite 29) am Start, jener Autor also, der wohl die kenntnisreichsten Texte zu den Fragestellungen verfasst, welche „Wurzeln“ diverse große deutschen Medien haben bzw. inwiefern sich dort nationalsozialistisches Gedankengut auch in demokratischen Zeiten noch unterbringen ließ  - ein facettenreicher Komplex, der ja noch längst nicht vollständig ausgeleuchtet ist.

„Ein Nazi sei Henri Nannen nie gewesen, versichern seine Weggefährten bis heute, nicht einmal im Krieg. Was aber war er dann?“,

lautet der Vorspann zu Winklers Text, in dem es kurz auch um den gestern im bereits erwähnten Altpapier genannten Nils Minkmar geht, der

„schon vor elf Jahren (...) darauf hingewiesen (hat), dass der Stern womöglich von der gleichnamigen Nazi-Zeitschrift herstammen könnte. Wahrscheinlicher ist der Einfluss der Propaganda-Flutblätter, die Nannen 1944 in Oberitalien in der Gruppe ‚Südstern‘ veranstaltete. Von dort brachte er seinen SS-Kameraden Hans Weidemann mit zum Stern (...) 1952, da war Nannen (...) nicht mehr ganz klein, sondern bereits 38 Jahre alt und tätig in einem Land, dem kein Propagandaministerium mehr vorschrieb, was geschrieben werden sollte, brillierte Nannen mit einem schamlos antisemitischen Hetzartikel (...) Dem Journalisten Hans Habe, Jude und 1938 aus Großdeutschland hinausgetrieben, danach mit der Besatzung wiedergekommen, wird (...) ganz zeitgemäß und adenauergetreu (vorgeworfen), dass er einen jeden begeifere, ‚der im Dritten Reich irgendwo einmal einen Türsteherposten bekleidet hat‘: ‚Hans Habe alias Janos Békessy, galizischer Immigrant“ mit „jäh erblondeten Haaren‘ und einer ‚demagogischen Begabung von Goebbels’ Gnaden‘. Nicht schlecht für einen ehemaligen Angehörigen der SS-Propaganda-Kompanie ‚Kurt Eggers‘“.

Winkler erinnert auch daran, dass Nannen „in seinem eigenen Verlag“ ein Buch des bei vielen Medienhäusern gern gesehenen „Wehrmacht-Verherrlichers“ Paul Carell herausbrachte und für den Stern einst auch ein, nun ja, Journalist im Einsatz war, der Nicht-Experten dank eines ARD-Dokudramas bekannt sein könnte:

„Den SS-Mann Willem Sassen, beschäftigte er, noch bis vor drei Jahren vom Stern standhaft geleugnet, als Südamerika-Korrespondenten.“

Die Ausstrahlung des Films war dann auch der Anlass für den Stern, sich von der Haltung des standhaften Leugnens zu verabschieden.

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Zur Einordnung eines Vorfalls der etwas jüngeren Medienhistorie hat Winkler auch noch eine - auf einer Einschätzung Erich Kubys basierende -These beizutragen:

„Der Sündenfall der Hitler-Tagebücher (...) war (...) kein Zufall, sondern für ein Sensationsblatt wie den Stern unausweichlich“

bzw. nicht zu verstehen ohne die spezielle Beziehung der Illustrierten zum Nationalsozialismus.

[+++] Während Nannen „in den goldenen Jahren des Magazinjournalismus“ wirkte, als „die Auflagen sich in nur eine Richtung bewegten: nach oben“ (Diemut Roether in einem Nannen-Geburtstagstext für epd Medien, der noch nicht frei online steht), leben wir jetzt in Zeiten, die manche vielleicht nicht einmal mehr silbern nennen würden.

„Jeden Mitarbeiter des Spiegel-Verlags kann es jederzeit erwischen, völlig unabhängig von seiner Leistung“,

hat gerade der Betriebsrat von Spiegel Online festgestellt, und zwar in einem Schreiben, das beim Tagesspiegel gelandet ist. Abgesehen davon, dass eine gute „Leistung“ noch nie jemanden davor geschützt hat, „erwischt“ zu werden, lässt sich kaum etwas sagen gegen die Einschätzung, deren Anlass Bestrebungen des Verlags sind, „das englischsprachige Angebot von Spiegel Online ein(zu)dampf(en)“:

„Fünf Redakteure stehen derzeit im Impressum, jetzt soll die Redaktion auf 1,4 Stellen schrumpfen, heißt es in (dem) Schreiben (...)  Dabei habe die Chefredaktion gerade erst den Redakteuren vom Ressort International bestätigt, dass sie ‚ihren publizistischen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit erfüllt‘ haben. Es sei ‚erstaunlich‘, so der Betriebsrat, dass den Kollegen ‚sehr gute Arbeit attestiert‘ und gleichzeitig deren Kündigung gerechtfertigt werde."

Der Spiegel hat, anders als fast alle anderen deutschen Medien, die Chance, global im Netz zu wirken. Sich diese Perspektive zu verbauen, könnte sich als „strategischer Fehler“ erweisen. Dies würde wohl Donald R. Winslow, „a veteran photographer and editor of News Photographer magazine“ sagen, mit dem The Atlantic über einen anderen Fehler dieser Art gesprochen hat. Es geht um folgende Statistik aus den USA:

„More news photographers, artists, and videographers have been laid off than any other type of journalist. Nationwide, their numbers decreased by 43 percent, from 6,171 in 2000 to 3,493 in 2012."

Winslow wird dann wie folgt zitiert:

„We now live in the most visual, literate society America has ever had (...) As newspapers took their product to the Web, they failed to realize that they needed to add photographs, not reduce them.

[+++] Um wieder auf die Spiegel-Gruppe zurückzukommen: Nicht nur der Online-Bereich gibt Anlass zur Berichterstattung, auch die Fernsehtochter, die gerade zwei neue Kanäle eingeführt hat, unter anderem „45 Min“ und „Weltreisen“. Die Besonderheit besteht darin, dass er mit öffentlich-rechtlichem Material bestückt wird - genauer gesagt: mit Ausgaben der gleichnamigen Sendungen, die im NDR bzw. im Ersten zu sehen sind. Der Film- und TV-Branchenblog Out Takes schreibt dazu:

„Tolle Sache das, denkt man: Das Angebot von Spiegel TV wird mit Dokumentarfilmen ausgebaut.“

Das Tolle wirft allerdings vor allem die Frage auf,

„wie die Verwertung dieser Filme rechtlich einzuordnen ist. Der Berliner Dokumentarfilmer Reinhard Schneider nahm die Pressemitteilung auf Spiegel TV zum Anlass, eine Anfrage an den Sender zu stellen. Schneider schrieb: ‚Grundsätzlich begrüße ich jede Erweiterung von Abspielkanälen, welche Dokumentationen betreffen (...) Über etwas Grundsätzlicheres bin ich allerdings befremdet. Auf welcher Rechtsbasis stellt denn der durch Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Sender NDR dem kommerziellen Unternehmen Spiegel TV die Dokumentationen zur Verfügung? Die weitere Frage wäre, wieviel Geld von Spiegel TV für die Zusatzverwertung der Dokumentationen an den NDR fließen – denn davon gehe ich einfach mal aus. Daraus ergibt sich wiederum die Frage an den NDR, wie viel von diesen Zahlungen an die Urheber oder Produzenten der Dokumentationen gehen? Falls außerdem keine Zahlungen von Spiegel TV erfolgen, stellen sich weitere grundsätzliche Fragen. Aber vielleicht können Sie mir ja bis zu diesem Punkt zumindest eine Erörterung zukommen lassen.'”

NDR und ARD haben also für Sendungen, die vielleicht auch jene interessieren, die es mit dem linearen Fernsehen nicht so haben, neue Verbreitungswege gefunden. Dass auch die Verträge mit den Urhebern entsprechend angepasst werden müssten, hat man aber bisher möglicherweise „übersehen“. Von Spiegel TV hat Schneider laut Out Takes keine Antwort bekommen.

[+++] Mit anderen Folgen des Strukturwandels beschäftigt sich der Freischreiber-Vorsitzende Benno Stieber in der Zeit (Seite 13):

„Die freie Meinung kann freie Journalisten oder Kleinverleger teuer zu stehen kommen. Sie haben keine Rechtsabteilungen oder Budgets für langwierige Prozesse.“

Stieber bezieht sich darauf, dass der Anteil freier Journalisten und Kleinverlegern an der Produktion freier Meinung wächst. Konkreter Anlass für seinen Text ist der Fall des Passauer Bürgerblick-Herausgebers Hubert Denk, dem die „Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses“ vorgeworfen wird (siehe diverse Altpapiere, beispielsweise dieses). Ein „Nothilfefonds für freie Journalisten“ sei  notwendig, ihn zu schaffen, sei eine „gesellschaftliche Aufgabe“, meint Stieber. Darüber könnten sich Medienpolitiker ja mal Gedanken machen.

[+++] Wer zum Jahresende Feuilletonistisches diskutieren will, dem sei ein Blogbeitrag von Dirk Peitz empfohlen, in der er zwei Fragen aufwirft: „Was kann amerikanisches Serienfernsehen (...) nicht, was nur das Kino kann?“ Und: „Welche Genres und Erzählmethoden macht denn das amerikanische Serienfernsehen gerade obsolet fürs Kino?“ Seine Antwort auf letztere Frage lautet:

„Das herkömmliche Epos ganz sicher, siehe „Mandela“ (kommt am 30. Januar in die deutschen Kinos): (...)Die Kinoversion eines so großen menschlichen Lebens kommt einem lächerlich verkürzt vor, wenn man sich allein schon an die Zeit gewöhnt hat, die das Serienfernsehen sich für Figurenerzählungen nehmen kann (...) Und ganz tot ist die herkömmliche romantische Komödie, die hat ja weder echte Schauwerte zu bieten noch eine Story, die nicht völlig absehbar wäre; im amerikanischen Kino kommt sie jetzt schon quasi nicht mehr vor.“

Apropos US-Serien:

„Schlimmer als die teils absurden Plottwists ist aber die politische Haltung der Serie“,

steht in einem freitag.de-Text zur dritten Staffel von „Homeland“, den man aber lieber nicht lesen sollte, falls man sich über Weihnachten (oder zu einem anderen Zeitpunkt) diese Staffel zu Gemüte zu führen möchte.


ALTPAPIERKORB

+++ Die SZ würdigt heute in ihrem Feuilleton-Aufmacher (nicht frei online) eine noch bis März in Berlin zu sehende Retrospektive, die Barbara Klemm gewidmet ist. Sie war, von 1970 an, 35 Jahre „Redaktionsfotografin für Feuilleton und Politik in der FAZ“.

+++ Im Zentrum auf Seite 1 der SZ steht ein auch online verfügbarer des Leo-Kirch-Experten Klaus Ott über mutmaßliche Unsauberkeiten bei der Deutschen Bank: „Anfang 2002 gab es in der Bank ein Geheimprojekt mit Namen ‚Barolo‘, bei dem es darum ging, den Film- und TV-Konzern des Magnaten Leo Kirch aufzuspalten (...) Das steht offenbar in Widerspruch zu Angaben des Geldinstituts (...) in dem Schadensersatzprozess, den der 2011 verstorbene Kirch gegen die Bank begonnen hatte.“ Die Folge: „Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Prozessbetrugs gegen das Geldinstitut und fünf seiner Manager.“

+++ „Die Zeichen stehen auf Streik. 220 Mitarbeiter in einer Druckerei im Berliner Bezirk Spandau blicken auf ein Jahr zurück, in dem sie hoch gepokert haben und tief gefallen sind. Und sie werfen dem Axel-Springer-Konzern vor, ihnen den entscheidenden Stoß versetzt zu haben.“ Mehr zu dieser Causa rund um „prekäre Arbeitsverhältnisse“ steht in der taz.

+++ Alkohol ist auch keine Lösung? Das sieht The Times vielleicht anders, jedenfalls bringt das britische Medienhaus zwecks Erweiterung des Geschäftsfeldes unter dem Namen der Zeitung jetzt auch eine Gin-Sorte unter die Leute (siehe Guardian). Zu haben für schlappe 30 Pfund pro Buddel.

+++ Mehr aus dem Murdoch-Reich: News of the World hat 2006 auch die Mailbox einer Frau abgehört, die heute auch unter dem Titel „Duchess of Cambridge“ bekannt ist (AP/taz, dpa/FR).

+++ Freitag-Chefredakteur Jakob Augstein im Gespräch mit dem Internet-Skeptiker Evgeny Morozov (Seite 5, derzeit nicht frei online): „Haben die Menschen (...) überhaupt noch die Möglichkeit, offline zu gehen (...)?“ - „Wie Sie vielleicht wissen habe ich mir einen Safe gekauft, der mit einem Timer versehen ist. Dort kann ich mein iPhone und mein Internetkabel wegschließen und so meine eigene Vernetzung so lange unterbrechen, wie ich möchte (...) Für mich ist letztendlich entscheidend, wie viel ich pro Woche lesen kann. Wenn jemand das seltsam findet, ist mir das egal, ich lese jedenfalls dadurch fünf Bücher mehr.“

+++ Noch ein Gespräch über die ganz großen Themen: The European traf Christian Ströbele, unter anderem ging es um seinen Besuch bei Edward Snowden„Ist es (...) nicht (...) sonderbar, dass Sie der Erste waren, der Snowden ausfindig gemacht hat??" - „Es war natürlich schwierig, dahin zu kommen. Sehr viele Leute haben sich bemüht, vor allem Journalisten. Oft ist es an Snowden selbst gescheitert, weil er es nicht wollte. Er muss sehr vorsichtig sein um seiner Sicherheit willen." - „Wie ist das Vertrauen Ihnen gegenüber entstanden??" - „Wir haben ab Ende Juni versucht, einen Kontakt zu ihm zu bekommen, weil die offiziellen deutschen Stellen nichts unternommen haben. Irgendwann habe ich gesagt: 'Wenn ihr’s nicht macht, mach ich’s.' Nur hat das niemand so richtig ernst genommen. Und wir waren ja auch lange Zeit erfolglos – bis er sich dann selbst gemeldet hat."

+++ Einen ausführlichen Nachruf auf den am vergangenen Freitag verstorbenen konkret-Kolumnisten, Satire-Innovator und TV-Schauspieler Horst Tomayer hat Thomas Blum für die Jungle World verfasst.

+++ Über eine befremdliche Pressemitteilungs-Verbreitungsschleuder, die auch PR-Material der NPD in Umlauf bringt und sich mit dem sehr irritierenden Namen BundesPressePortal schmückt, berichtet die Jüdische Allgemeine.

+++ Geht es 2014 in irgendeiner Form weiter mit Friedrich Küppersbuschs „Tagesschaum“? Beim WDR, schreibt Dietrich Leder in der Funkkorrespondenz, gebe es „Überlegungen, zu welchem Anlass das Format erneut an den Start gehen könne. Der muss allerdings stark sein, denn bei einem beliebigen Anlass würden die Idee und damit auch die Haltung, welche die Sendung ausgezeichnet haben, beschädigt. Eine andere Möglichkeit wehrt Küppersbusch allerdings nicht ab: dass die Dritten Programme sich darauf verständigten, am Ende jedes Werktags eine solche Sendung anzubieten, die den Tag politisch Revue passieren lässt und ihn und seine Ereignisse bewertet“.

+++ Ebenfalls in der FK: eine Würdigung der schwarz-weiß fotografierten WDR-Reportage „Linie 107“, die Heimatfernsehen im bestmöglichen Sinne ist (Disclosure: Der Text ist von mir).

+++ Ein Vorausblick aufs Weihnachtsprogramm: Oliver Jungen schreibt in der FAZ, dass er von Klaus Scherers ARD-Doku „Im Bann der Arktis“ gern eine „achtstündige“ Fassung gesehen hätte: „Es sind die kleinen Geschichten und die überraschenden Perspektiven (eben nicht nur Hundeschlitten), welche diesen Reisebericht so charmant machen (...) So bezaubernd ist das alles, dass man nicht einmal dem Ersten Offizier auf Russlands größtem Atomeisbrecher, einer marode wirkenden Zeitbombe, angemessen böse sein kann, wenn er stolz erzählt, dass laut Handbuch ein sicheres Hochfahren des Reaktors zwei bis fünf Tage beanspruche, die Besatzung dies jedoch an einem Tag erledige.“

+++ Radio am Wochenende: Jochen Hieber preist, ebenfalls auf der FAZ-Medienseite, „Stille Nacht“, das neue, bei WDR 3 zu hörende Werk des ARD-Hörspiel-Preisträgers Paul Plamper: „Exemplarisch lässt sich (...) an ‚Stille Nacht‘ Plampers raffinierte Arbeitsweise nachvollziehen. Sie beruht auf Mimikry, also auf einer das Kneipen-, Küchen-, Couch- oder Bettgespräch scheinbar authentisch wiedergebenden, in Wahrheit aber filigran inszenierten Sprach-Spontaneität, die seinen Hörspielen Live-Charakter verleiht.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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