Quantitätsjournalismus

Quantitätsjournalismus

Der Schriftsteller Ilija Trojanow darf nicht in die USA einreisen. Die Netzpolitik hat nicht ihre größten Erfolge, sondern wohl lediglich ihre Kindheit hinter sich. Im Fernsehen kommt was Tolles (aus Dänemark) und was Schreckliches (aus Deutschland). Michael Douglas kommt zu häufig.

"Und nein, es könne keine Auskunft darüber erteilt werden, wieso ich ins Visier der Behörden geraten sei."

Klingt wie ein Satz, an den man geradewegs die Eröffnung aus dem Buch anlegen könnte, das zur Ausprägung des Verbs kafkaesk sein Scherflein beigetragen hat "Der Prozess" von Franz Kafka anlegen könnte.

Verleumdet worden ist im aktuellen Fall der Schriftsteller Ilija Trojanow, der heute in der FAZ schreibt. Trojanow ist in Brasilien die Einreise in die USA verweigert worden:

"Eine Dreiviertelstunde vor Abflug knisterte das Sprechgerät, das Urteil über meinen Fall wurde verkündet, die Frau teilte mir knapp und emotionslos mit, die Einreise in die Vereinigten Staaten von Amerika sei mir untersagt. Ohne Angabe von Gründen. Ich solle mich an die Botschaft wenden und dort ein Visum beantragen. Wie auch die anderen Mitarbeiter von American Airlines war sie schlecht informiert, denn es gibt in Salvador da Bahia keine amerikanische Botschaft, und ein solcher Visumsantrag dauert Wochen."

In die USA wollte der Schriftsteller auf Einladung der dortigen Germanisten reisen:

"Über Miami sollte ihn die Reise nach Denver führen, wo Trojanow am größten Germanistenkongress der USA teilnehmen wollte. Er war auf der viertägigen Veranstaltung als Hauptgast eingeplant. 'Ich hätte eine Rede gehalten, diskutiert und außerdem meinen Roman ,Eistau' als Einpersonen-Stück aufgeführt', schildert Trojanow das Programm."

Schreibt Philipp Lichterbeck im Tagesspiegel. Da offiziell kein Grund für die Einreiseverweigerung angegeben wird – "Ich reichte ihr den Ausdruck, der meinen ESTA-Status ('Authorization approved') und die Zahlung der entsprechenden Gebühr bestätigte" –, liegt es nahe, einen Bezug zu Trojanows Engagement für Bürgerrechte zu sehen:

"Seit mehreren Jahren beschäftige ich mich publizistisch mit den internationalen und nationalen Überwachungsstrukturen, in Artikeln und Essays wie auch in einem zusammen mit Juli Zeh verfassten Buch zu diesem Thema ('Angriff auf die Freiheit', 2009). Zuletzt war ich Mitinitiator eines offenen Briefes an Bundeskanzlerin Angela Merkel."

In der SZ (Seite 13) weist jhl daraufhin, dass man nichts Genaues nie wissen wird:

"Was Trojanow geschehen ist, war sicherlich Willkür. Die Annahme, es gebe einen Zusammenhang zwischen seiner Arbeit, seiner Kritik an der NSA und der verweigerten Einreise, wird Spekulation bleiben."

Kann man sich fragen, was solch ein formal daherkommender Hinweis soll. Dabei wird genau dadurch das Josef-K.-Gefühl bezeichnet: Der unsichtbare Apparat identifiziert zwar Trojanow, verweigert ihm aber die Geschichte dieser Identifizierung. Man würde doch gern einmal wissen, was im Innern dieser Dienste so abgeht: Ob da einfach nur Computer ab einer gewissen Schlagwortdichte anschlagen oder Trojanow sich über den Reiseärger damit trösten könnte, dass seine Texte gelesen und dann auch noch als gefährlich eingestuft werden.

Das Interessanteste an der Geschichte ist in diesem Zusammenhang, dass der Ärger schon eine Weile läuft:

"Schon vergangenes Jahr hatte das amerikanische Konsulat in München meinen Antrag auf ein Arbeitsvisum zum Zwecke einer Gastprofessur an der Washington University in St. Louis zuerst negativ beschieden und erst nach Protesten der Universität und einer erheblichen Verzögerung, die einen Teil des Semesters nutzlos vergehen ließ, das Visum erteilt. Auch damals ohne Angabe von Gründen, ohne Kommentar, ohne Erklärung. Wann immer ich anrief, wurde mir mitgeteilt, es werde geprüft, keiner wisse, wie lange es dauern werde. Und nein, es könne keine Auskunft darüber erteilt werden, wieso ich ins Visier der Behörden geraten sei."

Trojanow stilisiert sich in seinem Text übrigens nicht zum großen Verfolgten, wie das Journalisten aus weit, weit läppischeren Anlässen zu tun pflegen.

"Gewiss, ein kleiner Einzelfall nur, aber er illustriert die Folgen einer desaströsen Entwicklung und entlarvt die naive Haltung vieler Bürger, die sich mit dem Mantra 'Das betrifft mich doch nicht' beruhigen. Das mag ja noch zutreffen, aber die Einschläge kommen näher."

In der Tat. Wird Trojanows Fall helfen, gegen das NSA-Geschäft zu mobilisieren? Schwer zu sagen. Das Vage an der Geschichte bleibt ja weiterhin vage – zwar gibt es mit Trojanow ein personifizierbares Opfer, als Täter muss man sich aber immer noch einen gesichtslosen Apparat vorstellen.

[+++] Vielleicht dauert das mit der Politisierung auch nur länger. Wolfgang Michal, der schon mehrfach hervorgetreten ist als Theoretiker einer politischen Bewegung im Netz/durch das Netz, schickt Michael Seemanns viel gescholtener Klage über die Irrelevanz der Netzpolitik auf Carta eine Analyse hinterher.

"Ich werde also den Teufel tun und Seemanns grimmigen Abriss des Niedergangs für abwegig erklären. Er hat ja im Grunde Recht. Allerdings würde ich nicht vom 'Ende einer Ära' sprechen, sondern nur vom Ende einer frühen Entwicklungsphase. Der Begriff Ära verweist nämlich schon auf die fatale Neigung vieler Netzbewegter, die eigene Rolle und Bedeutung zu überschätzen."

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Michal verweist auf eine nicht unbedeutende Umdeutung des Netzes im Zuge der Überwachungsgeschichten:

"Diese totale Umwertung hat den Netzbewegten ein bis dato unbekanntes Gefühl beschert: das Gefühl der Heimatlosigkeit. Wo früher fast zärtlich von 'Netzbewohnern' gesprochen wurde, zeigt sich nun kalte Obdachlosigkeit."

Außerdem fordert Michael erneut, dass Sascha Lobo sein Gesicht für die Netzpolitik zur Verfügung stellen sollte. Beruhigt aber vor allem die Schnell-Verdrossenen mit dem Blick in die Geschichtsbücher.

"Auch die erste industrielle Revolution (beginnend um 1840 mit dem Eisenbahnbau = analoges Breitband) brauchte zwei, drei Jahrzehnte, um (ab 1860) große Parteien hervorzubringen, die diese Umwälzung gestalten wollten."

Selbst wenn also die Piratenpartei verloren sein sollte, so ist ihr Anliegen keineswegs dahin. Oder im schönsten Satz des ganzen Michal-Texts gesprochen:

"Im Gegenteil: als Versuch und Experimentierfeld ist sie so wertvoll wie ein kleines Steak."

[+++] Während Wolfgang Michal tut, was Wolfgang Michal tun muss, geht es Stefan Niggemeier nicht anders: Dessen Blogpost beschreibt – wieder einmal – das Offensichtliche, das offenbar aber schwer zu sehen ist. Bemerkenswert am Spiegel-Titel ist nämlich nicht nur, dass er dem Focus-Titel gleicht (siehe Altpapier), sondern dass er auch ziemlich irrelevant ist für das "Uns", das im Titel so großspurig adressiert wird:

"Merkels und Gabriels Bankräuber-Forderung 'Geld her!' vom Cover richtet sich gar nicht gegen den durchschnittlichen Bürger oder Leser, sondern eher an den, sagen wir, 'Spiegel'-Ressortleiter. Das räumt sogar die 'Spiegel'-Geschichte ein:
'der überwiegende Teil der Bürger [würde] sogar weniger Steuern zahlen.'
Der 'Spiegel' geht tatsächlich davon aus, dass der 'uns' ausplündernde Staat durch die Steuerreform weniger Steuern einnimmt und rechnet nun viele Zeilen lang vor, wie dieses Minus ausgeglichen werden könnte."


Altpapierkorb

+++ Böser Verdacht: Macht der Spiegel damit nur, was sich die Bravo bei der Regenbogenpresse abgeschaut hat – knalligste Behauptungen auf dem Titel, die nichts mit der Realität der Texte und Informationen zu tun haben? Johannes Boie beschreibt in der SZ jedenfalls ausführlich, wie die Bravo aktuell drastischer wird ("Selena Gomez – Drogen-Schock"), ohne drastischer sein zu können: "Die Geschichte in der Bravo dreht sich um Cory Monteith, einen Schauspieler, der an einer Überdosis starb, und den Gomez kannte. Die Verbindung zu Selena Gomez hat die Redaktion so überzeichnet, dass es auf dem Titelbild wirkt, als sei Gomez ein Drogenopfer. Dabei ist sie doch nur ein Opfer von Bravo." Interessant ist, dass man bei Boies Text diese Politik als Krisenphänomen erzählt bekommt. Ob so der Kampf gegen den Auflagenschwund zu gewinnen ist? +++ Silke Burmester hat in ihrer TAZ-Kolumne dagegen eine andere interessante Beobachtung gemacht: "Auch etwas meschugge durfte man die letzten Tage im Angesicht der vielen, total gleichen Michael-Douglas-Interviews werden. Egal welches Blatt man bemüht hat, sie hatten alle die gleichen Themen – Vater, Matt Damon küssen, Krebs, Ehe – und die gleichen Antworten. Womit sich mal wieder zeigt, wie wichtig es ist, die Zeitungsvielfalt zu erhalten. Um überhaupt die Möglichkeit zur Verwechslung zu bieten." Der beste Text wäre in dieser Logik dann der, der am frühesten erschienen ist. Vielleicht wird man künftig von "Quantitätsjournalismus" sprechen müssen. +++

+++ "Zeitung kann nur durch Qualität überleben": Die Berliner Zeitung druckt Bilder und Text einer verlagsinternen Journalistenpreisverleihung. "Die MZ habe als erste MDS-Zeitung begonnen, einen zentralen Hebel der digitalen Revolution ernst zu nehmen, den Leser nicht länger nur als Konsumenten zu akzeptieren, sondern ihn aktiv zu beteiligen, so die Jury. Deren Vorsitzender [Frank] Niggemeier sagte, angesichts des Niveaus der eingereichten Wettbewerbsbeiträge müsse man sich 'um die journalistische Qualität des Hauses DuMont keine Sorgen machen.'" Uff. Schweißabwisch. +++ Größte Herausforderung des Tages: Kann man über den Twitter-Streit/Krieg/Schlagabtausch zwischen @TheBorisBecker und @oliverpocher was Originelles in der Welt schreiben, Pia Frey? "Das soll's gewesen sein? Keineswegs. So richtig verdaut hat das Gezänk am nächsten Morgen noch keiner der Beteiligten. Becker will weitermachen: 'Weiter geht's oder schlafen noch alle?'." 'Äh, ja. +++ Apropos originell: Man muss weder so alt wie Günter Grass sein noch Günter Grass, um vom Kissen auf der Fensterbank aus zu wissen, wie dämlich diese jungen Leute da mit ihren sozialen Netzwerken sind. Magnus Klaue in konkret unter dem – drunter würde man's selbst auch nicht machen – geisteswissenschaftlich anspielungsreichen Titel "Entgrenzte Vernunft": "Wer bereits seit Jahren, wie die neue Berufsbezeichnung lautet, 'sozial vernetzt' ist, der ist für die Belange oder gar Reize der analogen Wirklichkeit nicht mehr ansprechbar; wer sein Ich ins eigene Profil verwandelt, ist nach weniger als einem Jahr nicht wiederzuerkennen. Der Prozeß objektiver Verdummung, den jeder an sich selbst beobachten kann und den zumindest nicht zu befördern den Hauptteil der Arbeits- und Lebenskraft heute aufzehrt, läuft, ist das Leben zum Account geworden, mit der Geschwindigkeit eines Daumenkinos ab." +++

+++ Hübsche, aber folgenlose Koinzidenz: Im Fernsehen kommt die dritte Staffel "Borgen", das alle mögen. "Intelligent und auf witzige Weise böse deckt die preisgekrönte Serie von Adam Price mit dem leider schrecklichen deutschen Titel 'Gefährliche Seilschaften' die Spielregeln der Politik auf und zeigt den Preis, den die Betroffenen für ihre Ränke zahlen müssen. Der Stoff ist aktuell, und es bleibt ein Rätsel, warum das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen nichts Vergleichbares hervorbringt. Selten zeigt sich das Fernsehen so auf der Höhe wie in 'Borgen'." (Sandra Kegel, FAZ, Seite 39). "Hinter diesem Erfolg steht – angesichts deutscher Serien-Verhältnisse kaum zu glauben – der öffentlich-rechtliche dänische Fernsehsender Danmarks Radio" (Thilo Wydra im TSP). "Für DR-Produzentin Camilla Hammerich, die auch 'Borgen' verantwortet, liegt das vor allem an den Drehbüchern und deren Schreibern. 'Der Autor ist das Herzstück, das innere Geheimnis des Erfolgs', sagte sie vor der Ausstrahlung zu Arte. Hammerichs ehemaliger Abteilungsleiter Ingolf Gabold drückt es noch drastischer aus: Die Drehbuchautoren seien wie Könige zu behandeln" (Jörn Kruse in der TAZ). +++ Im Fernsehen kommt aber auch "Helden", ein deutscher RTL-Film, den keiner mag. Klaudia Wick in der Berliner: "'Helden' ist ein überlanges und phasenweise unfreiwillig komisches Filmchen, dass man eher vermuten möchte, RTL wollte die teuer produzierten 140 Minuten Banalität im Schatten des Fernsehpreises klammheimlich wegsenden." Henning Peitsmeier in der FAZ: "Ach Gott, ach Gott. So beginnt tatsächlich das Untergangsspektakel 'Helden', das am Tag der Deutschen Einheit bei RTL läuft. 'Wenn dein Land dich braucht', ist die aufwendig inszenierte Fernsehproduktion untertitelt. Es kann durchaus sein, dass sich Zuschauer, die 140 Minuten plus Werbung durchgehalten haben, am Ende fragen, ob ihr Land an diesem Feiertag einen solch patriotisch-verbrämten Unsinn braucht." Claudia Fromme in der SZ: "Bestünde vielleicht doch die Möglichkeit, ein Schwarzes Loch zu produzieren, sollte man den Film darin ganz schnell versenken." +++ Keiner? Schauspielerin Christiane Paul im Interview mit dem TSP: "Und die Rolle der Sophie Ritter in 'Helden' habe ich als eine Kassandra begriffen, die etwas sieht, was zuerst keiner hören will. Außerdem fand ich den Actioncharakter des Films spannend." +++

+++ Patrick Bahners schreibt in der FAZ über den abgesagten Hillary-Clinton-Film. +++ Meedia.de wärmt für die HuffPo-Start auf: "Zum Launch wollen die Münchner mit mindestens 60 Gastautoren starten. 'Es wird ein Mix aus bekannten Bloggern, Experten und Prominenten sein - quer durch alle Lebensbereiche.' Tatsächlich deutet Eckert einige Überraschungen und große Namen an." +++

+++ Außerdem zwei wertvolle Tipps. "Arbeiten Sie niemals für irgendjemanden!", rät Emanuel Derman in seiner FAZ-Kolumne zu einer Beschäftgiung ohne Boss. +++ Versuchen Sie wieder stärker, Sie selbst zu sein, würde ich zumindest dieser Schlagzeile entnehmen: "Dell kündigt Rückkauf durch Gründer an." +++

Der Altpapierkorb füllt sich Freitag wieder.

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