Eine mittelsubstanzielle Regierungserklärung des neuen Spiegel-Chefredakteurs. Die "Demokratie als Benutzeroberfläche", hinter der die Geheimdienstdiktatur lauere. Thomas Gottschalk und Günther Jauch als Gesichtsvermieter. Und die erste Würdigung des Hashtags #schauhin.
Der Spiegel, der eine oder andere hat vielleicht davon gehört, hat einen neuen Chefredakteur. Er heißt Wolfgang Büchner, die heute (bzw. online und mancherorts gestern) erschienene Ausgabe ist seine erste, und sie enthält auch gleich eine freundliche Regierungserklärung an die lieben Leserinnen und Leser, zu begutachten auf Seite 14 (und in Teilen kostenfrei hier), gezeichnet: "Ihr Wolfgang Büchner, Chefredakteur".
Nun soll Büchners Start – wie nennt man das gleich, wenn ein Flugzeug von einem felsbrockendurchsetzten Minenfeld aus losfliegen muss statt von einer glatt betonierten windstillen Startbahn? – etwas holprig gewesen sein. Es gab zum Beispiel die eine oder auch andere Querele um die von Büchner betriebene Verpflichtung Nikolaus Blomes von der Bild-Zeitung als u.a. stellvertretenden Chefredakteur bzw. nun Mitglied der Chefredaktion. Und da darf man eine Einladung zur Auslegung, wie sie eine schriftliche Regierungerklärung darstellt, wohl – Bitte um Verständnis dafür, dass dieser Elfer einfach mal getreten wird – nicht ausschlagen.
Also, was schreibt Büchner? Es geht in seinem Brief um genau diese Personalie. Allerdings sagt Büchner auf 40 Zeilen, zwei Leerzeilen inklusive, auf passenderweise geradezu angelamerkelische Art überhaupt nichts, was der Wahrheitsfindung dienen könnte, sondern erstellt ein kleines Best-Of der in den vergangenen Wochen meistzitierten Argumente pro Blome:
"Nikolaus Blome ist ein hervorragender politischer Journalist, der nicht nur für die 'Bild'-Zeitung, sondern auch für die 'Welt' und den 'Tagesspiegel' geschrieben hat. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis und dem Theodor-Wolff-Preis."
Dazu nutzt er listig die Argumentation der ausgewiesenen hausinternen Blome-Kritikerin Franziska Augstein, der Spiegel interessiere "sich für Aufklärung", lässt allerdings den Teil weg, indem sie den Journalismus der Bild-Zeitung als "regierungsnah" bezeichnet. Büchner:
"Der Spiegel steht den Mächtigen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kritisch gegenüber. Er deckt Machtmissbrauch und Missmanagement auf" usw.
Und schließlich versichert er, dass nicht eintreten werde, was gleich zu Beginn des Streits beim Spiegel von einem Mitarbeiter befürchtet worden war:
"Ich möchte Ihnen versichern, dass sich die journalistische Haltung des Spiegel nicht ändern wird."
Ein Bemühen "um Schadensbegrenzung", deutet die Taz via Büchners altem Arbeitgeber dpa. Man kann auf diesem Brief an die Leser alles in allem aber schon auch ganz gut Schlittschuh fahren, so wenig griffig ist er. Zusammen mit den nebenan abgedruckten fünf Leserbriefen zur Verpflichtung Blomes (Verhältnis: Vier sind dagegen, einem Schreiber ist sie eigentlich grad wurscht) dient der Brief selbst als Message: Ich hab' das hier im Griff, Folks. Man kann natürlich auch sagen, die "erstaunliche Rechtfertigung" (Meedia) bzw. "ungewöhnliche Aktion" (Turi2) – wann musste ein Chefredakteur je öffentlich eine Personalie erklären, in einem Leserbrief-Umfeld, das weitgehend von ihrer Falschheit überzeugt ist? – zeugt davon, wie viel Druck auf dem Kessel ist. Und intern dürfte vielleicht die Nachricht als wichtiger angesehen werden, dass Büchner unter Umständen doch nicht einem ganzen Stall von Ressortleitern die Verträge nicht verlängern wolle (Hamburger Abendblatt).
Nun handelt aber in der aktuellen Spiegel-Ausgabe nicht nur Büchners 40-Zeiler vom jüngsten Popcornthema der Medienbranche. Da ist auch noch eine amüsante Distanzierung der Redaktion von der Bild-Zeitung, hinten im Medienressort auf Seite 143. Springers buntes Blatt wird dabei dorthin gerückt, wo sich die Spiegel-Mitarbeiter in der Diskussion um Blome nicht sahen: nach rechts. Die Spiegel-Dokumentation hat dafür die Bild-Rubrik "Gewinner/Verlierer des Tages" statistisch ausgewertet, und das Ergebnis lautet, dass die Zeitung
"in dieser Rubrik dem Links-rechts-Klischee folgt; je weiter links die Partei eines Politikers steht, desto geringer die Chance, als 'Gewinner' dargestellt zu werden".
Im Rahmen dieser Distanzierung wäre dann weniger das Medium die Message als umgekehrt: Die Botschaft ist, Bild und Spiegel haben grundverschiedene Markenkerne, insofern ist es nicht egal, ob ein Bild-Vertreter den Spiegel macht oder nicht. Ob die implizite These von der grundlegenden politischen Unterschiedlichkeit einer Inhaltsanalyse standhielte, das wäre nochmal interessant. Eleganter als die Spiegel-Redaktion an dieser Stelle hat aber wohl noch kein SPD-Linker Nein zur Großen Links-Rechts-Koalition gesagt, auf die uns Die Welt nach Recherchen im Arbeitermilieu heute schon mal vorbereitet.
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+++ Nebenbei oder hauptsächlich stehen im Spiegel eine Titelgeschichte über Angela Merkel (an der Spiegelblog.net, nicht zu verwechseln mit spiegel.de/spiegelblog, das frisch mit der erweiterten "Hausmitteilung" von Wolfgang Büchner gefüllt ist, etwas auszusetzen hat) und vor allem die jüngste Fortsetzung zur NSA-Affäre, mit der der Spiegel, online vorab verbreitet, ein mediales Kernthema des Wochenendes gesetzt hat:
"Der US-Geheimdienst NSA kann sich Zugang zu Nutzerdaten von Smartphones aller führenden Hersteller verschaffen. In den geheimen Unterlagen des Nachrichtendiensts, die der Spiegel einsehen konnte, ist unter anderem ausdrücklich von Apples iPhone, Blackberry-Geräten und Googles Betriebssystem Android die Rede."
Vor allem die Nachricht, dass das auch für Blackberrys gelte, hat Neuigkeitswert, "(f)ür das kanadische Unternehmen wäre dies ein herber Rückschlag; bislang hat Blackberry stets beteuert, sein E-Mailsystem sei unknackbar" (sz.de).
Frank Rieger vom Chaos Computer Club brauchte diese Nachricht gar nicht, um einen gewohnt kämpferischen Aufmacher fürs heutige FAZ-Feuilleton zu schreiben, in dem er das Bild von der Demokratie als Benutzeroberfläche prägt und an dessen Ende er die effektive Kontrolle oder aber Auflösung der Dienste fordert. Den Spiegel zitiert er allerdings doch:
"Jürgen Leinemann schrieb 1978 im 'Spiegel' über Horst Herold, damals Chef des BKA und Erfinder der Rasterfahndung: 'Gehorsam, Führung, Kompetenz, Entscheidungskraft – das alles will er zu ,Befolgungsreflexen‘ einer lückenlosen Informationslage machen.' Die NSA ist seinem Wunschtraum nun ein großes Stück näher gekommen. Doch solche Ideen höhlen unsere Demokratie aus, sie ist bloß noch die Benutzeroberfläche auf dem Weg zur Geheimdienstdiktatur."
+++ Kübra Gümüsay, z.B. Bloggerin und u.a. ehemalige Taz-Kolumnistin, hat am Freitag um 15.55 Uhr den Twitter-Hashtag #schauhin in die Welt geworfen, unter dem sich seither Beiträge sammeln, die von Alltagsrassismus handeln; in ihrem Blog schreibt sie über die Entstehung und ihre Gründe. Dass unter dem Hashtag am Ende auch die eine oder andere wenig plausible Geschichte stehen wird, ist abzusehen; und dass manches, was Rassismus genannt wird, sinnvoller zum Beispiel als Othering beschrieben wäre, damit kann man auch rechnen. Warum Bernd Ulrich von der Wochenzeitung Die Zeit jedoch meinte, twittern zu müssen, #schauhin sei "typisch deutsch" – eine Reaktion, die bislang niemand als typisch deutsch bezeichnet hat –, erschließt sich mir irgendwie nicht. Aber es ist ja auch nur ein Tweet.
Hakan Tanriverdi hat für jetzt.de eine erste Würdigung der #schauhin-Aktion verfasst und erklärt sie so, dass auch jeder, der bei jeder Art von -ismus-Kritik sofort aussteigt, verstehen könnte, warum sie großartig ist:
"#Schauhin zeigt schnell und eindrucksvoll, wie Rassismus funktioniert und vor allem, wie jede Art der vermeintlichen Andersartigkeit zum Anlass genommen wird, Menschen auszugrenzen. Das fängt an bei der Hautfarbe, die immer nur dann thematisiert wird, wenn sie nicht-weiß ist, und hört auf bei Menschen, die ausgelacht werden, weil sie beten. Bei #schauhin geht es darum, dass Menschen, die in der medialen Präsenz so gut wie keine Plattform haben, um über ihre Probleme zu reden, sich diese Plattform eben kurzerhand selbst schaffen. Das Neue ist ja nicht die Diskriminierung, sondern der Hashtag."
+++ Das Number-One-Medienseitenthema ist die heutige Premiere der per Plakat breit angekündigten Eishockey-Senioren-WM RTL-Show "Die 2 – Gottschalk und Jauch gegen alle" mit Bohlen und Pilawa (kleiner Scherz). Thomas Gottschalk und Günther Jauch haben dazu laut SZ (die aus diesem Anlass einen "flächendeckenden medialen Synapsenbrand" diagnostiziert) zwölf Journalisten ein Gemeinschaftsinterview verpasst, die alle zu versichern gezwungen gewesen seien, "die wörtlichen Zitate vor Abdruck vorzulegen, was befremdlich ist, wenn das zwölf Menschen tun sollen, die ein und dasselbe Gespräch mitgeschnitten haben". Die Welt am Sonntag ist dabei, DWDL und der Tagesspiegel, der seinen Text zumindest online vielleicht ein Häuchlein zu exklusiv als "Interview" verkauft. Nehmen wir als Beispiel für einen hübschen Satz diesen von Gottschalk, zitiert nach SZ: "Ich bin Dienstleister. Ich bin kein Genie, das sich im Fernsehen selbst verwirklichen muss. Ich bin Gesichtsvermieter, und wer sagt, mit dem Gesicht komme ich ein Stückchen weiter, der kann es haben. Und die Mieten sind günstiger geworden" +++
+++ Good ol' Taz-Ironie: In der Medienseitenrubrik "Mitarbeiterin der Woche" steht heute über Inka Bause: "Von 810.000 Zuschauern auf 340.000 in nur vier Tagen: Der ZDF-Nachmittagstalk 'Inka!' hat in seiner ersten Woche deutlich zu spüren bekommen, dass offenbar niemand Nachmittagstalks vermisst" +++
+++ Die Welt am Sonntag druckte eine Recherche über einen "bizarren Fall roter Vetternwirtschaft", mit Sahra Wagenknechts Ex-Mann in der Hauptrolle. Eine Geschichte in einem Ton, wie ihn so nur Die Welt hinkriegt, wenn es um irgendwas mit SED geht. Sie schreibt über Ralph Thomas Niemeyer, der für die Linke direkt für den Bundestag kandidiert, er werde von anderen Mitgliedern der Fraktion beschäftigt. Irgendwie konnte man sich dann aber wohl nicht entscheiden, über eine zumindest diskussionswürdige Versorgungsnummer zu schreiben, und hat vorsorglich allerlei dafür irrelevantes Schlafzimmergeraune dazu gepackt. Auf der Titelseite ist das Ganze, kurz vor der Bundestagswahl, dann angekündigt als Geschichte über Wagenknecht. Dafür gibt's jetzt mal einen Klaps aufs Popöchen +++
+++ Apropos Wahlkampf: Die ARD, die am Sonntagabend den Wahlkampf einer "Tatort"-Nachbesprechung geopfert hat, veröffentlicht "keine Umfragen in der 'Tagesschau', um die Zahlen nicht zu Nachrichten zu überhöhen" – hat WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn vergangene Woche in einem Taz-Interview gesagt, das veröffentlicht wurde, kurz bevor am Abend die Ergebnisse der Sonntagsfrage in den "Tagesthemen" liefen. Schönenborns Position, eine Woche vor der Wahl keine Umfragen mehr zu veröffentlichen, um die Wähler z.B. nicht in Datennebel einzuhüllen, hat am Freitag cicero.de diskutiert: Die Entscheidung des ZDF, am 19. September die letzten Umfragewerte zu präsentieren, sei "absolut richtig und nachvollziehbar. Und die Entscheidung der ARD in gewisser Weise so, als würde man zehn Minuten vor Ende der Spielzeit eines Fussballspiels die Übertragung mit dem Hinweis beenden, dass man ja nun den wahrscheinlichen Spielausgang wüsste, da der Spielstand nach 80 Minuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dem Spielstand nach 90 Minuten entsprechen dürfte" +++
+++ Olaf Scholz, Hamburgs Bürgermeister, ist jetzt Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats (Funkkorrespondenz) +++ Ebenfalls in der Funkkorrespondenz findet sich eine eigenhändige Berechnung der Redeanteile von Angela Merkel und Peer Steinbrück im TV-Duell – das Endergebnis waren die Damen und Herren Sender schuldig geblieben: "Am Ende lag der SPD-Kanzlerkandidat also nur noch um 30 Sekunden hinter der Amtsinhaberin" +++ Und auch hübsch ebd.: Harald Kellers Betrachtung des Werbespots vor der "Tagesschau" +++
+++ Die Berliner Zeitung schreibt über "kreative Wahlspots" unter anderem bei MTV +++ Die Taz über den Kanal i24, der von Tel Aviv aus einem internationalen Publikum die "Wahrheit über Israel" näherbringen wolle +++ Und der Tagesspiegel über eine Tagung von oder zumindest mit ProQuote +++
+++ In der SZ geht es um die Auskunftsgesuche der CIA über einen deutschen Journalisten: "Pressefreiheit ist in Deutschland ein konstituierendes Element der Demokratie, niedergelegt in Artikel 5 des Grundgesetzes. Wie kam die CIA auf die Idee, dass deutsche Dienste bei der Ausspähung eines kritischen deutschen Journalisten, der in Jemen oder Afghanistan recherchiert hat, behilflich sein könnten?" +++
+++ Im Fernsehen: "die story" über Fußball-Ultras (WDR, 22 Uhr), besprochen vom Tagesspiegel +++ Und die FAZ schreibt über den "klugen Film" "Die Kreuzigung – Ein heiliger Skandal" (Arte, Mittwoch, 22.40 Uhr) +++
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.