Wenn es unangenehm wird, sollte man "ich" sagen, rät der Journalismustheoretiker Constantin Seibt. Macht nicht jeder. Dafür gibt's Denkprozesse bei Jan Fleischhauer zu beobachten. Und apokalyptischen Furor bei Sigmund Gottlieb
Alle Versuche, über Constantin Seibt nachzdenken, also über die Rolle der Bedeutung, die er spielt im Mikrokosmos Journalistenbiz mit dem selbstreflexiven Blog Deadline, machen auf halber Strecke kehrt, weil am Ende des Weges doch nur die Metareflexion über die Metareflexion läge, und wer will schon Häuser, die aus neverending Dachgeschossen bestehen.
Aber vielleicht kann man sagen, dass Pleasure an Seibts Texten – neben der guilty Selbstbeschäftigung – gerade das Aussprechen von scheinbaren Selbstverständlichkeiten bereit, die zu exklusiven Meinungen werden dadurch, das keiner sich "traut", sie zu formulieren – sei es aus Trägheit, Ängstlichkeit oder der Sorge vor falscher Banalität. Das ist bei Stefan Niggemeier, dessen FAS-Text über das Gelingen der Onlinebezahl-PR von Springer nun online ist, nicht anders; passenderweise verbindet beide Medienjournalisten die große Ruhe in dem Gesicht ihrer Texte, wie Brecht (1. Psalm) dann vielleicht doch nicht gesagt hätte.
Die Ruhe sucht man – von Tagi-Mann Seibt aus betrachtet – nebenan bei der NZZ in Rainer Stadlers Kolumne "In Medias ras" vergebens. Dort geht es heute um den SRF, der seine größten Online-Kritiker eingeladen für ein Gespräch, und abgesehen davon, dass es immer schön ist, wenn Leute unterschiedlicher Meinung miteinander reden – natürlich diszipliniert eine solche Einladung (was man dem SRF ja auch als Taktik auslegen könnte).
"Aus dem einfachen Grund, weil sie eine Anerkennung der Kritiker impliziert. Nicht-Beachtung ist ja oft die grösste kommunikative Strafe, die man ausüben kann."
Alle wollen immer nur geliebt werden. Was an Stadlers Text dann aber unangenehm aufstößt, ist dieser schadenfrohe Überlegenheitstonfall, der den Vorgang umgibt (als ob man bei allem Geschreie und Gezeter, das es in Online-Kommentarthreads geben kann, nicht schon da unterscheiden könnte, was Geschimpfe und was Kritik ist). In dieser Hinsicht ist Stadlers Einleitung hin zur Geschichte journalismusjournalistisch interessant:
"In den Kommentarspalten von Medien-Websites und anderen Meinungsmarktplätzen geht es zuweilen unzimperlich zu und her. Während gedruckte Zeitungen schon aus Platzmangel eine zurückhaltendere Publikationspolitik verfolgen, wirkt der zivilisierende Effekt der Knappheit in den scheinbar unendlichen Weiten des Internets bedeutend weniger. Überdies handelt man sich als gestrenger digitaler Schleusenwärter schnell den Ruf des Zensors ein, was zu Zeiten der interaktiven Kommunikation ohnehin als inopportun gilt."
Hier wird kräftig nebenher ausgeteilt. Vor allem aber leckt der Text die eigenen Wunden und jammert sich was zurecht ("...ohnehin als inopportun gilt"). Hält man nun Seibts aktuelle Abhandlung über das "Ich" im Journalismus dagegen, stößt man rasch auf Stadlers Problem: eine ziemliche Verlogenheit. Seibt schreibt:
"Vielleicht war es ein Fehler, dass ich fast immer nur vergangene Zweifel, Blamagen, Niederlagen waren, die ich als Thema nahm. Ich schrieb über meine Narben, nicht über meine Wunden. Hier könnte man radikaler werden. Das Bekenntnis ist ein Genre, an das sich im Journalismus fast noch niemand getraut hat. Ein dunkles Land, ein weisser Fleck. Man könnte dem Leser den Atem rauben."
Das wäre von einer kurzen Kolumne wie der Stadlers vielleicht zu viel erwartet. Aber der gesamte Text müsste sich nicht so scheinobjektiv einen zurechtschwiemeln, wenn da "Ich" gesagt würde und die Verletzung benannt würde.
"Das Ich ist immer eine gute Option, wenn es unangenehm wird."
Wie es bei Dealine heißt. Interessant ist, dass Seibt die Zeitung aus dem Geist der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts denkt:
"Die seriöseren Stories werden fast alle in die Zwangsjacke des Nachrichtenstils gesteckt. Und dazu gibt es die Gummizellen der Kolumnen oder des Feuilletons. Hier kann getobt werden. Dieses Modell gilt als Garant für Seriosität. In Wahrheit ist es vor allem perfekt für die Bedürfnisse der Anstaltsleitung konstruiert – zwecks effizienter Organisation. (Eine Zeitung ist im Kern ja eine Organisationsform.) Das System dient der Bändigung der Redaktion, aber vor allem des Wahnsinns der Welt. Es hat nur einen Nachteil: Es ist nicht nur berechenbar – es liest sich auch so. Denn es reagiert auf alles in etwa gleich."
Dass die Zeitung eine Organisationsform ist, dämmert Stadler wohl auch – er sieht das bloß nicht kritisch, sondern, äh, emphatisch, so er darüber überhaupt reflektiert, wenn er von der "zivilisierenden" Wirkung der – mit Seibt gesprochen – Zwangsjackenverteilung redet.
Bemerkenswert beim Blick in den weiterhin aktuellen Spiegel ist nun, dass das "Ich" nicht unbedingt zu größerer Aufrichtigkeit befähigt. Wie gestern hier schon zitiert, lässt sich schwer behaupten, dass Thomas ";-)" Tuma beim Versuch, die Kritik an seinem ProQuote-Diss (Altpapier von letzter Woche) im Spiegel-Hausblog zu kontern, sich nicht weiterhin lächerlich mache mit verharmlosenden Ausflüchten, wie man sie von Politikern oder Kleinkindern kennt:
"Die 'Beratung' sah so aus, dass ich bei zwei ZDF-Jahresrückblicken, die Gottschalk moderierte, hinter den Kulissen herumlungerte und ihn auf allzu blöde, weil womöglich unjournalistische Fragen hingewiesen hätte – was indes nicht notwendig war. Gottschalk ist gar nicht so blöd, wie manche denken ;-)"
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Bei Tuma macht man sich dagegen Sorgen, dass er in Geschlechterfragen tatsächlich so unterreflexiv sein könnte, wie er sich auf Wolfgang Michals Invektiven hin gibt. Das alles wird hier nur noch einmal erwähnt, um das Gegenbeispiel um so leuchtender erscheinen zu lassen: Jan Fleischhauer, der Springteufel des so genannten Linken-Bashings, findet, gemeinsam mit Wiebke Hollersen, den Feminismus mittlerweile gut oder zumindest besser. Versteckte sich der Kolumnist zur Brüderle-Affäre noch hinter der kanonischen Diskriminierungsumkehrungsarithmetik ("Ist es so schwer vorstellbar, dass auch Frauen gemein, hinterlistig, machtbesessen sein können?"), so markiert gerade das Walten des Spiegelsounds im aktuellen Heft (S. 60) einen Lernprozess.
"Es kann sehr kurzweilig sein, mit [Anna-Katharina] Meßmer zu reden. Sie hat das ganze Theoriegebäude des modernen Feminismus drauf, von Simone de Beauvoir bis Judith Butler. Sie kann einem genau erklären, warum es wichtig ist, 'Studierende' statt 'Studenten' zu sagen, und man in der Schriftsprache nie das 'Gender Gap' vergessen sollte."
Das Alice Schwarzer das noch erleben darf: Es wird nicht mehr abgewertet durch die szenische Miniatur, sondern gepriesen. (Wie die Abwertung klingt, kann man sich weiter hinten im Text am Beispiel der Critical-Whiteness-Aktivisten anschauen, deren Theoriegebäude gilt noch nicht so viel.)
Schließlich gehört in diesen Durchgang von Ich-Texten, die keine geworden sind, noch Peer Schaders Betrachtung im Fernsehblog über die Hochwasserberichterstattung im allgemeinen und die Brennpunkte von BR-Chefredakteur Sigmund Gottblieb im besonderen. Der ventiliert den ganzen apokalyptischen Kram, der sich an die Bilder von überfluteten Ortschaften heften lässt, mit großer Freude:
"Dabei wäre die hastige Kombination aus Helferreportage, bei Facebook hochgeladenen Zuschauer-Flutvideos und Klimaforscher-Kurzinterview halbwegs in Ordnung gewesen – hätte sich Gottlieb dazwischen nicht so aufgeführt als könne die Apokalypse jederzeit in die Live-Sendung hineinschwappen."
Man fragt sich natürlich, ob so eine routinierte Medienmaschine wie Sigmund Gottlieb überhaupt noch weiß, wie sehr sie da jetzt Gummi gibt oder ob das quasi der über Jahre antrainierte Autopilot von selbst übernimmt.
"Im Gegensatz zu den besonnen agierenden Helfern, die derzeit in den Beiträgen porträtiert werden, wirken Journalisten mit übertriebener Sensationsrhetorik, die genüsslich das Wort 'Katastrophengebiet' betonen und sich mit Höchststandmeldungen übertrumpfen, aber besonders fehl am Platze. Erst recht in einem Sender, der so sehr die eigene Nachrichtenkompetenz vor sich herträgt."
Gottlieb wird seine Ergriffenheit Journalismus nennen. Man versteht dadurch immerhin, warum es Constantin Seibt so leicht hat.
+++ Apropos Deutschland ist schön – Jan Freitag schreibt in der TAZ über Heimat-Wellness-Sendungen, dass man sich fragt, warum sich Verantwortliche wie Birgitta Kaßeckert (BR) oder Patricia Schlesinger (NDR) nicht in Yoga-Studios verwirklichen können, sondern Fernsehen machen müssen: "Es geht also um die schönen Seiten unserer fehlerlosen Werbespotrepublik. Denn Rassismus, Armut, Verfall, auch nur lange Gesichter werden dem Publikum garantiert nirgends zugemutet. Schließlich ist das Format aus Sicht Birgitta Kaßeckerts vom verantwortlichen BR 'ein Stück Heimatkunde zum Wohlfühlen'." +++ Deutschland nicht so schön: der NSU-Prozess, der heute weitergeht. Marc Reichwein schreibt auf Welt.de lobenswerterweise ausführlich und unvoreingenommen über die bei der Presseplatzverlosung vielgescholtenen Gewinner wie Brigitte oder Radio Lotte Weimar: "Lotte-Chefredakteur Shanghai Drenger nutzt die Häme, die sich über seinen Sender ergossen hat, um die Kompetenz der sogenannten großen Medien seinerseits infrage zu stellen. Richtig geärgert hat er sich über die 'taz', die Lotte Weimar unterstellt hatte, eine Radiostation zu sein, die dann wohl bald mal die 'Top-Ten-Hits des Terrortrios' durchdudelt. Gar nicht so unsymptomatisch: Medien, die anderen den Katzentisch zuweisen, haben, ohne es zu merken, oft selbst schon die Grenze zum Unseriösen überschritten." +++ Spiegels Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen resümiert auf vocer.org: "Betrachtet man die Berichterstattung über die ersten vier Verhandlungstage, so ist festzustellen, dass es der Verteidigung weder gelungen ist, einer der Feinheiten des Strafprozesses weitgehend unkundigen Öffentlichkeit die Notwendigkeit beziehungsweise Funktion von Verteidigung nahezubringen, noch ist es zu einem Diskurs über die Aufgaben von Nebenklage in einem Strafprozess gekommen." +++
+++ Rheinland-Pfalzens Ministerpräsidenten Malu Dreyer spricht im SZ-Interview (Seite 31) mit Claudia Tieschky über die Haushaltsabgabe zu den Eingeweihten der Diskussion. Stichwort Erhöhung: "Ich halte das für schwer vorstellbar. Man kann nicht ein neues Beitragsmodell einführen und schon gleich sagen, eigentlich brauchen wir mehr, bevor der Abschlussbericht der Evaluation vorliegt. Das finde ich schwierig." +++ Anschaulicher beschreibt Jürgen Kalwa auf Carta die Nachteile der Dradio-App gegenüber der US-amerikanischen NPR-Variante: "Es sieht schick aus, aber man kann nur drei Kanäle haben. Und die nur live. Und alles, was die ARD im Rahmen ihrer Mediathek anbietet, ist schwierig zu navigieren. Das ist nicht die Schuld der Designer, die für die Öffentlich-Rechtlichen arbeiten. Denn sie werden massiv von den Auflagen aus dem politischen Deutschland gehandikapt. Die Printverlage, die so etwas wie den Alleinvertretungsanspruch auf Online- und Mobilgeräteinformationen erheben, haben dafür gesorgt, dass der deutsche Radiokonsument nichts Besonderes für das Geld bekommt, das er bereits in Form von Gebühren bezahlt hat." +++
+++ Auf Medienwoche.ch informiert Adrian Lobe über den einstigen Reporter-ohne-Grenzen-Gründer Robert Ménard, der nun für den rechtsextremen Front National kandidiert: "Ménard gefällt sich in der Rolle des Bad Guy. 'Ich bin eine Agentur mit schlechter Werbung', jubilierte er. Mit Marine Le Pen teilt er den anti-elitären Impetus. Er spricht von einer 'politisch-medialen Klasse'. Über Journalisten sagt er: 'Das Problem mit dieser Kaste voller Dünkel ist, dass, wenn man nicht wie sie denkt, zwängläufig falsch denkt.' Die Gewerkschafter der AFP erklärten Ménard zur persona non grata." +++ In der Berliner berichtet Axel Veiel über Ménard. +++ In der TAZ verweist Wilfried Urbe auf die Krise der Quotenmessung in der Schweiz (siehe Altpapier). +++ Katharina Riehl portraitiert in der SZ (Seite 31) Closer und Chefredakteur Tom Junkersdorf, ein Boulevardmagazin über deutsche Prominente. +++ Hannah Lühmann hat für die FAZ (Seite 31) Michael Mittermaier getroffen. +++ Ebendort weist Jan Ludwig entschiedenst die Idee von Glenn Greenwald aus dem Guardian zurück, über den (richtigen) Gebrauch des Worts Terror nachzudenken: "Wenn ein 'Krieg gegen den Terror' je grenzenlos war, dann der des Glenn Greenwald. Es gibt Briten, die haben nun Angst. Im Lateinischen gibt es für den 'Schrecken' ein Wort. Es lautet 'terror'." Ob das jetzt überzeugend argumentiert ist, dürfen Sie entscheiden. +++
Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder