Ein Tweet lebt 18 Minuten

Ein Tweet lebt 18 Minuten

Sowohl Spiegel Online als auch Jakob Augstein stehen aus unterschiedlichen merkwürdigen Gründen im Fokus der Weltöffentlichkeit. Außerdem: Bud Spencer und Robert Walser, Nachrichten-Überflussgesellschaften und rätselhafte Personalien, "das Jahr der Zuversicht".

Zurück aus der romantischen bzw. "romantischen" Sphäre, in der das Altpapier über Silvester und Neujahr zu verweilen einlud (um die weltumspannende Leistungsfähigkeit des öffentlich-rechlichen Systems  zu würdigen), in die harten digitalen Sphären.

Die heißeste News der letzten Tage war der zu früh gezündete vorauseilende Spiegel Online-Nachruf auf George Bush, den Älteren und "besseren", wie Marc Pitzke meint bzw. vermutlich wieder gemeint haben wird, wenn es soweit ist. In der gedruckten deutschen Presse (Tsp.-Zusammenfassung) spielt er heute keine Rolle mehr, vorauseilende Nachrufe in den Schubladen haben schließlich alle Nachrichtenmedien mit genügend Manpower, und wer in Echtzeit immer vorne dabei sein will oder muss, kann diese bei unglücklichen Fügungen gewiss auch mal überflügeln. Ziemlich viel zu sehen vom deutschsprachigen Text, für den SPON sich am 30. Dezember "to our english-speaking readers" per Twitter entschuldigte, ist hier beim Weekly Standard.

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Wer außer dem Screenshot auch Benjamin Weinthals flankierenden Text liest, stößt auf die globale News, die gerade Deutschlands Feuilletonisten mit Recht erregt: Jakob Augstein, der Herausgeber und frischgebackene Chefredakteur der Wochenzeitung Freitag (siehe Altpapier) ist als "left-wing online columnist" (Weinthal) des Spiegel bzw. von Spiegel Online auf Platz neun der "Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs"-Liste 2012 (PDF) des Simon Wiesenthal Center gelandet.

Das Wiesenthal-Center beruft sich auf den "respected Die Welt columnist" Henryk M. Broder, den vorn auf dem FAZ-Feuilleton Augstein zur Seite springend Nils Minkmar nicht nur "begnadeten Polemiker", sondern auch den "Bud Spencer unter den deutschen Kommentatoren" nennt. In der Welt selbst bzw. einem der dort geführten Blogs scheint Gideon Böss, selber ebenfalls Blogger auf der u.a. von Broder geführten "Achse des Guten", nicht ganz glücklich mit der Wiesenthal-Center-Einschätzung, ohne jedoch Broder zu erwähnen (der übrigens gerade hübsch mit Harald Glööckler posierte). Sehr elegant streicht Böss gleich im ersten Satz seines Eintrags den Bildungsgrad der Springer-Journalisten heraus:

"Jetzt hat es Jakob Augstein, Sohn von Rudolf Walser, tatsächlich in die Bestenliste des globalen Antisemitismus geschafft. ..."

Ob Boess mit "Rudolf" womöglich Robert meinte, zwar elf Jahre vor Jakob Augsteins Geburt verstorben, aber wie Martin auch ein Schriftsteller [Nachtrag 3.1.: oder ob er doch eher einen Scherz um Augsteins Biografie und die Springerpresse-Obsession, sie in jeder Meldung wieder mit dazuzuschreiben, intendierte], können die Spencers und Hills des deutschen Hochfeuilletons dann auch mal debattieren. Falls Sie sich für die aktuell relevante Augstein-Sache interessieren, empfehlen wir Markus Ehrenbergs nüchterneren Tagesspiegel-Text, der u.a. auch auf einen Facebook-Kommentar Augsteins selbst verlinkt.

[+++] Zurück zum Bush-Nachruf bzw. zum weiteren Zusammenhang der versehentlich überflügelten Echtzeit. Unter den rustikalen und alles andere als unverbrauchten Metaphern "Über Säue und Dörfer" gut getarnt, steht bei Carta ein großartig grundsätzlicher Zwischen-den-Jahren-Text über die Entwicklung in "Nachrichten-Überflussgesellschaften". Wolfgang Michal schildert, "wie schnell sich die Erregungs- und Empörungswellen, die das Internet ermöglicht, auftürmen und wieder verlaufen" und wie eigentlich alle, ob sie wollen bzw. müssen oder auch gar nicht, dabei mitmachen. Z.B. das heute schon mehrfach erwähnte vergleichsweise seriöse Boulevardmedium SPON, z.B. man selbst:

"Spiegel Online z.B. veröffentlicht etwa 100 Beiträge am Tag. Der Turbojournalismus, das Live-Ticker-Getöse und die +++breakingnews+++ sind zwar inzwischen zu Parodien ihrer selbst geworden, aber die Macher wissen auch, dass ihre Leser nur wegen dieser 'Aufregernews' fünf oder zehn Mal am Tag 'vorbei(!)schauen'. Als Prosumer schämt man sich über die eigene Inkonsequenz – a) auf keinen Fall ein Durchlauferhitzer für Themen sein zu wollen und b) trotzdem ein Durchlauferhitzer zu sein."

Prosumer sind z.B. Twitterer, und

"viele Twitterer sorgen auch selbst für die Zerstreuung ihrer Tweets, indem sie kurz nacheinander auf NSU-Fahndungspannen, Markus Lanz, den Syrien-Konflikt, ein Fußballspiel, Wettendass, die Netzneutralität und ihre eigene Befindlichkeit verweisen."

In dem Zusammenhang verlinkt Michal zu diesem t3n.de-Artikel über die "Halbwertszeit eines Tweets". 18 Minuten soll sie durchschnittlich betragen.

[+++] Und vor dem Hintergrund wiederum scheint dann auch völlig in Ordnung, dass der "Tweet des Jahres", den die Webseite juiced.de die "Twitteraner" jetzt zu suchen aufgefordert hat, auf der materiellen Ebene mit einem "Amazon.de-Gutschein in Höhe von 25 Euro" bedacht wird.
 


Altpapierkorb

+++ Jetzt aber schnell auf die Medienseite der Süddeutschen geblättert. Kurz vor Weihnachten ist schließlich die Medienmedien-News Kai-Hinrich Renners im Hamburger Abendblatt etwas untergegangen, dass Claudia Tieschky, "eine der profiliertesten deutschen Medienjournalistinnen, die seit etwa zehn Jahren für die 'SZ'-Medienseite arbeitet", "übergangen wurde", indem die Ressortleitung im Januar der "unter Medienjournalisten bisher gänzlich unbekannten", Lesern dieses Buchs hingegen als Coautorin bekannte Claudia Fromme anvertraut werde. Heute jedoch steht dort noch "verantwortlich: i.V. Claudia Tieschky". +++

+++ Auf Seite 3 der Süddeutschen heute ein großes Stück "Über eine Beziehungskiste: Die Deutschen und ihr Verhältnis zum Papier", in dem es einerseits um die Zeitungskrise bzw. die  Zeitungskrisen und andererseits um den öffentlich-rchtlichen Rundfunk sowie die neue Haushaltsabgabe geht. Es richtet sich scheinbar vor allem an Zeitungsleser, denen es zu mühsam oder gleichgültig war, irgendwo weit hinten die immer durch die Bücher der Zeitung wandernde Medienseite zu suchen. +++ Leser, die sich dafür interessieren, könnten sich auch auf das Zeitungskrisen-Auswege-Allerlei interessieren, das der Tagesspiegel noch einmal rund um die durchaus interessante News, dass die der WAZ-Gruppe gehörende Braunschweiger Zeitung "als erste Regionalzeitung nun für [ihr] Onlineportal eine Bezahlschranke eingeführt" hat, anrichtet: "2013 könnte nun das Jahr der Zuversicht werden". +++

+++ Was im Zentrum der SZ-Medienseite steht: was auch im Zentrum der FAZ-Medienseite steht und in mehreren Zeitungen vierfarbig von der ARD bzw. mit Einnahmen aus den Haushaltsgebühren beworben wird - der heute anlaufende ARD-Zweiteiler "Das andere Kind", dessen Inhaltsangabe mit den Worten "Leslie Cramer, eine erfolgreiche und angesehene Londoner Ärztin, erhält eine Einladung nach Scarborough, zur Verlobungsfeier ihrer Jugendfreundin Gwen Beckett" beginnt. Über die Pilcherhaftigkeit der Charlotte-Link-Verfilmung wird auf den Medienseiten gestritten: "Mit einer deutsch-britischen Starbesetzung ist ein Film entstanden, der ein bisschen Rosamunde Pilcher und wenig Inspector Barnaby atmet, aber aus beidem nur das beste: Sperrige Figuren agieren in einzigartiger Kulisse", schreibt Ralf Wiegand in der Süddeutschen. "Dass am Ende beinahe jedes Detail und jede historische Verwerfung miteinander zusammenhängen, und alles, aber auch alles auf die Sühneaufgabe der tapferen Leslie zuläuft - das ist dann allerdings noch oberpilcheriger, als wir es aus den Pilcher-Filmen gewohnt sind", würde Heike Hupertz (FAZ) sagen. "Richtig gut", meint die TAZ. "Streckenweise pilchert es gewaltig" (Tsp.). +++

+++ Noch' ne Personalie, die sich einstweilen nicht geändert hat: Steffen Grimberg (inzwischen NDR) schreibt weiter in der TAZ, heute über ein offenbar nicht ganz unlesenswertes Journalismus-Buch. +++ Das womöglich Rudolf-Martin Walsers Tagebuch entstammende Gedicht "MEDIEN sind, wenn ehrlich/ zuweilen höchst gefährlich;/ drum schickt die taz gekonnt/ nur Profis an die FRONT./ Deshalb sind im Feuilleton auch Worte drin/ Von einer 'KRIEGSREPORTERIN'…" flankiert Silke Burmesters Interview mit den "Tatortreiniger"-Machern Bjarne Mädel und Arne Feldhusen (ebd.). +++

+++ Sorgen um den Privatfernsehsender Sport 1 macht sich der Tagesspiegel. +++

+++ Die Berliner Zeitung schaute bei Berliner Youtube-Portalen vorbei, wie Bertelsmanns Ufa und First Entertainment, "eine Tochter der Bavaria Film, eines der größten deutschen Filmstudios" (das vor allem ARD und ZDF gehört, wie man hinzufügen könnte) sie betreiben. +++

+++ Richtig Öffentlich-Rechtliches: ZDF vs. Bild-Zeitung vs. ZDF (DPA/ Tsp.), Michael Hanfeld nimmt sich in einer FAZ-Medienseiten-Glosse aktuelle Äußerungen WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn (ARD, kress.de) recht sanft vor und fordert in einer anderen, dass das ZDF, wenn es die Gehälter der Bundeskanzlerin und des VW-Chefs vergleicht auch Claus Klebers Gehalt einblenden sollte. +++

+++ "Sechs Tipps für den ersten Talkshow-Auftritt" stehen unter dem zeitweilig recht kritisch klingenden, am Ende aber sicher auch Lanz prächtig amüsierenden SPON-Beitrag des Betroffenen Ralf Grauel darüber, wie es bei Markus-Lanz-Talkshow-Aufzeichnungen so zugeht. +++

+++ Und während Sascha Lobo in dem SPON-Beitrag, in dem er den Begriff "Digitale Sphäre" "für alles ..., was elektronisch und datenbasiert funktioniert" vorschlägt, seine Einschätzung "Die Piratenpartei hätte für das Internet sein können, was die CSU für Bayern ist" nicht nur in den Konjunktiv, sondern auch in die Form abgeschlossener Vergangenheit kleidete (SPON), zettelte Don Alphonso noch 19 79 Minuten vor dem Jahreswechsel eine Debatte über "Netzpolitik nach dem Untergang der Piraten" an (sofern sich sich der Begriff "Anzetteln" auch in der digitalen Sphäre verwenden lässt). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
 

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