Gibt es systemischen Medienzynismus? Es gibt wieder allerlei Starthelfer für Sarrazins neues Buch, aber: Nicht alle sind sofort wieder auf 180. Dazu: Zahlreiche Nachrufe auf den Fernsehentertainer Kurt Felix. Und ein detaillierter Vergleich von Nachrichtensendungen, vor allem von "Tagesschau" und "heute"
Thilo S. ist mit einem Buch zurück auf der Medienbühne. Und allen, die nur deshalb hierher gefunden haben, weil sie seinen Nachnamen gegoogelt haben, rufe ich ein freundliches "Hallihallo!" sowie ein "Morgen gerne wieder hier!" zu.
Es geht an dieser Stelle, liebe teilnehmende Beobachter der sich ankündigenden nächsten medialen Großdebatte, um die Frage, wie diese Debatte, die ich mal Sarrazin2 nenne, begann. Sie beginnt mit der gleichen unpolitischen und vornehmlich ökonomisch motivierten Zündschlüsseldreherei wie seinerzeit die Diskussion über Sarrazin1. Es gibt seitens der Medien aber diesmal andere als Starthelfer agierende Hauptakteure – es will ja jeder mal profitieren. Als Ausnahme kann man die Bild-Gruppe betrachten, die nach dem Buch-Vorabdruck im Rahmen von Sarrazin1 auch diesmal wieder ein medialer Motor ist – zwar diesmal mit anderer, mit nicht eindeutig affirmativer Haltung, aber da ist man bei Bild und Bild am Sonntag ja nicht so, wenn's der Käuferfindung dient. Zumal wenn das Ergebnis das gleiche ist: der Kick-off für mehr.
Sarrazin2 also beginnt mit einem Streitgespräch bei "Günther Jauch" zwischen jenem Sarrazin und seinem Parteigenossen Peer Steinbrück, und Bild am Sonntag nahm die "Empörung über Sarrazin als Gast von Jauch" von Politikern schon vorher auf den Titel (siehe Bild Online oder auch sueddeutsche.de und ksta.de). Die Frühkritiken der Talkshow gehen darauf ein, was die vorab ventilierte Kritik (die einen Grund in der zunächst geäußerten Kritik Sarrazins haben mag, siehe etwa FAZ-Interview) auslöst:
"einen Sender für eine Sendung anzugreifen, die noch gar nicht stattgefunden hat, das wirkt wie von Sarrazin bestellt",
schreibt etwa Nils Minkmar bei FAZ.net.
Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau schreiben online, unter dem Titel "Selbstausgelöster Ausnahmezustand":
"Die Werbemaschine dafür sprang spätestens in dem Augenblick an, als Sarrazin den Satz niederschrieb, die Eurobonds-Befürworter seien 'getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben'. Dass so etwas für Empörung und maximale Aufmerksamkeit sorgt, ist eine Binse; wer öffentlich gegen Sarrazin und seine Selbststilisierung als Märtyrer in Tabubrechergestalt ankämpft, macht gleichzeitig Reklame für ihn. So gesehen arbeitete die 'Bild am Sonntag' ihm nach Kräften zu, als sie die Stellungnahmen indignierter Politiker einsammelte."
Die BamS berief sich in ihrem Text über die Empörung auf den Vorabdruck des Sarrazin-Buchs, der diesmal im Focus stand, der wiederum den "Polit-Provokateur" auch aufs Cover nimmt – genau wie vergangene Woche der Stern, der den "Brandstifter" dort "angewidert" kritisierte, was aber – um diese simple Tatsache nochmal auszusprechen – letztlich beiden, Stern wie Sarrazin, ökonomisch nützt.
Wolfgang Michal verweist bei Carta darauf, dass Stern wie Sarrazins Verlag beide zu Bertelsmann gehören, was freilich einen Zusammenhang bedeuten kann, aber nicht muss, und er schreibt, das Magazin agiere nach der Methode "Hypen durch Bashen":
"Das Verrückte an der stern-Titelgeschichte ist: Sarrazins Buch-Thema spielt darin überhaupt keine Rolle. Der Text ist lediglich ein langgestreckter Kommentar, der in dieser Form auch Ende 2010 hätte erscheinen können. Aufhänger der Geschichte ist eine Lesung mit Sarrazins altem Buch. Man hat sich mit dem jetzigen Veröffentlichungstermin also zum Lakaien des 'Brandstifters' gemacht.
'Hypen durch Bashen' muss man die zutiefst heuchlerische Methode des stern wohl nennen. Fünf kluge Journalisten analysieren die Provo-Masche des Thilo Sarrazin ('Wie Brandstifter Sarrazin mit schrillen Thesen Millionen macht'), erliegen dabei aber ganz bewusst selbst dieser Masche."
(Von dieser Kritik wohl auszunehmen ist Arno Luiks Stern-Satire – er hat einen Brief an Henryk M. Broder verfasst, "wie ihn Sarrazin geschrieben haben könnte".)
Man kann von einem systemischen medialen Zynismus sprechen. In Worte fasst ihn Günther Jauch, wenn Peer Steinbrück in seiner Talkshow sagt: "Ich bin auch dagegen, dass diese Empörungswellen sein Buch weiter aufwerten", und Jauch erwidert: "Das ist jetzt zu spät."
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Wie die Debatte Sarrazin2 nicht beginnt: Sie beginnt nicht, wie Sarrazin1, unter Beteiligung des Spiegels. Bei Sarrazin1 druckte der zunächst einen kaum anmoderierten Vorabdruck, dem sich eine Reihe von auch kritischen Artikeln anschloss, allerdings erst, als die Debatte bereits kochte. Aus dem eigenen schlecht kommunizierten und deshalb sehr affirmativ wirkenden Umgang mit dem ersten Sarrazin-Bestseller scheint der Spiegel unterstelltermaßen mitgenommen zu haben, dass nicht jede anheizbare Debatte auch eine anzuheizende ist. Und statt selbst einen Böller zu zünden, begleitet er das Thema an diesem Montag nur sehr randständig in einem Artikel über deutsche Künstler und Moderatoren mit sog. Migrationshintergrund (S. 136ff.) wie den Comedian Bülent Ceylan. Darin heißt es:
"Er sagt (...), er müsse eben das wieder heile machen, was der Migrationspopulist Thilo Sarrazin mit seiner These, Deutschland schaffe sich an, kaputtgemacht habe."
Sarrazins neues Buch über den Euro, das erst diese Woche erscheint, wird dabei nicht einmal im Nebensatz erwähnt (bei der Online-Schwester sieht es etwas anders aus, siehe hier und hier). Was man aber bereits vor Erscheinen über das Buch sagen kann, ist, dass Sarrazin nach wie vor kein guter Analyst der Gesellschaft ist. Er senkt mit dem Blick eines Ökonomen den Daumen über politische Gebilde, die weit mehr als Zahlen sind; er argumentiert, was keinem Kulturwissenschaftler je einfiele, mit der "Mentalität" ganzer Staaten oder spricht bei Jauch davon, "im persönlichen Umgang" das "Volk" der Griechen angenehm zu finden. Er trubelt mit rückwärts gewandten national kodierten Kulturkategorien und mit pesudosozialpsychologischer Stammtischlerei die gesellschaftliche Debatte voll.
Immerhin sagen lässt sich, dass Sarrazin, etwa bei Jauch, diesmal von Beginn an auch entzaubernde Argumente entgegengesetzt bekommt, was sich möglicherweise noch als sachdienlich herausstellen könnte. Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau loben "Günther Jauch" dafür in ihrer Fernsehkritik ebenso wie FAZ.net und Spiegel Online.
Spiegel Online: "Großrhetoriker Steinbrück und Provokationsprofi Thilo Sarrazin diskutierten über genau die Fragen, die vermutlich eine ziemlich große Zahl von Deutschen umtreibt. Und gleichzeitig strafte die Debatte ganz nebenbei all jene rechten Verschwörungstheoretiker und Sarrazin-Jünger lügen, die gerne über angebliche Denk- und Sprechverbote in Deutschland spintisieren."
Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau: "In Erinnerung bleibt Steinbrücks fulminantes Plädoyer für Europa und seine genaue Analyse des Empörungsmechanismus, der letztlich nur Sarrazin nutzt."
FAZ.net: "Aufklärung vollzieht sich ja nicht – und vollzog sich noch nie – im Tirilieren schöner Geister gleichen Sinnes unterm Kirschbaum, es ist stets ein Kampf, stets hardcore."
+++ Zahlreiche Artikel sind heute Kurt Felix gewidmet, der am Mittwoch im Alter von 71 Jahren gestorben ist. Sie lesen sich wie Erinnerungen an die beste Zeit des Fernsehens: "Felix hat Fernsehgeschichte geschrieben mit 'Verstehen Sie Spaß?', bis zu 23 Millionen Zuschauer hat der Schweizer mit der Show in den 80er Jahren zum Lachen gebracht, er erreichte Marktanteile von bis zu 48 Prozent", schreibt der Tagesspiegel +++ Die 23 Millionen finden sich auch in anderen Texten, etwa bei Spiegel Online +++ Die taz: "Der Kurt-Felix-Humor war vollkommen unzynisch, schmunzelnd und auch ein bisschen bräsig – die gute alte Zeit eben, bevor die Privatsender alle Tabus gebrochen haben mit Titten, Zoten und nachgespielten Unfällen. 'Verstehen Sie Spaß?' ist Fernsehen, das in der Erinnerung am schönsten ist, nostalgische Wärmeschübe auslöst, bei erneuter Ansicht alter Schnipsel allerdings vor allem – Langeweile" +++ Beate Wedekind schreibt bei Welt Online: "Unterhaltung darf sich nicht anbiedern, Humor nie aus der untersten Schublade hervorgezogen werden, ein Lächeln ist mehr wert als ein großer Lacher. Seine versteckte Kamera zielte auf Situationskomik und nicht auf Schadenfreude." +++ Pionierstatus spricht die FAZ ihm ab, wenn sie schreibt: "Die Idee, unbescholtene Bürger, am liebsten Prominente, so richtig zu verladen oder total zu erschrecken und sie dabei auch noch zu filmen, hatte zwar ein anderer Ausländer im deutschen Fernsehen eingebürgert, Chris Howland. Aber Kurt Felix hat sie dann mit seiner Frau Paola (nach einem Vorlauf im Schweizer Fernsehen) ab 1980 in der ARD perfektioniert" +++ Doch Pioniere und Perfektionierer sind nicht immer deckungsgleich: Die SZ (S. 15) vergleicht die Show damals mit der von heute: "Seit zwei Jahren wird die Show mit der versteckten Kamera nun vom gemütsblonden Einmannkarneval namens Guido Cantz moderiert. Tiefer kann auch Spaß nicht sinken. Was der Show heute fehlt, ist das, was Kurt Felix ihr mitgegeben hat. Es kommt eben nicht nur darauf an, Streiche mit der versteckten Kamera zu inszenieren und die Filmchen dann irgendwie anzusagen. Es kommt darauf, immer das rechte Maß zu finden zwischen kecken Streichen und der zuverlässigen Warmherzigkeit eines gelassenen Könners" +++
+++ Bernd Gäbler analysiert für den Tagesspiegel Nachrichtensendungen – und lobt vor allem die "Tagesschau" dafür, dass sie sich dem Bilderfluss am konsequentesten verweigert, und kritisiert dagegen "heute" für die Floskelhaftigkeit: "Irgendwie soll die Sendung stilistisch lockerer sein als der große Bruder in der ARD, sie wirkt aber oft lediglich bemühter. Das Ziel ist unbedingte Verständlichkeit, was zu Erklärstücken führt, die den Zuschauer in die Rolle eines Förderschülers versetzen", und er schließt: "'heute' schwankt zwischen Gravitas und Hopsasa. Gravitas, ein offizielles Verkündigungsfernsehen, will keiner sehen, heißt es. Aber soll das ZDF deswegen die Marke „heute“ wirklich in die Richtung von positiveren Geschichten, salopper Sprache, mehr Sport und Schmunzelbildchen entwickeln? Das Problem von 'heute' führt mitten hinein in Identitätsfragen, die für das ZDF insgesamt gelten" +++
+++ Vor dem Eurovision Song Contest am kommenden Wochenende kritisiert Spiegel-Autor und BakuBlogger Stefan Niggemeier den NDR- und taz-Kollegen Jan Feddersen für seine Aussage, "(f)ür Polit-Sperenzchen haben die meisten Künstler gerade keinen Sinn" +++ Die taz titelt heute derweil mit den Politsperenzchen +++
+++ Fußballnachwehen: Sat.1 erreichte mit der Übertragung des Champions-League-Finals Kurt-Felix-Quoten; bis zu 20,38 Millionen Zuschauer in der Spitze, "den besten Wert seit Senderstart im Jahr 1984" (SZ) +++ Der Tagesspiegel ist vom Kommentar von Wolf-Christian Fuss allerdings schwer unbeeindruckt: "Herrgott, ja, bitte Klappe halten, betete der Zuschauer" +++
+++ Die SZ legt nochmal in Sachen WDR-Radioreform nach, mit einem Interview mit dem NRW-Kulturpolitiker Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU), der sagt, es sei "eine Katastrophe, dass ausgerechnet ein Kommunikationsunternehmen wie der WDR sich ein solches kommunikatives Desaster erlaubt" sowie "Verflachung, Oberflächlichkeit, Stromlinienförmigkeit" – Worte, wie sie aus dem Mund eines Politikers immer interessant klingen, wenn es um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht +++
+++ Im Fernsehen werden heute vor allem zwei Sendungen besprochen: "Verzockt – und verklagt" (ARD, 22.45 Uhr) von SZ und taz (die auch über die spanische Zeitung El Publico – mit Genossenschaftsmodell wie die taz – berichtet) +++ Und den ZDF-Film "Schmidt & Schwarz" besprechen Tagesspiegel und FAZ, die sich angesichts der Beteiligung Corinna Harfouchs beinahe zu einem Brief ans ZDF angeregt fühlte: "Liebe Kollegen aus Mainz, Glückwunsch, es ist Ihnen gelungen, eine der profiliertesten Darstellerinnen des Landes in ein Szenario zu verstricken, gegen das sich Baumarkt-Werbung ausnimmt wie Nouvelle Vague". Oha +++
Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.