"Life is tweet"

"Life is tweet"

Dieses Internet ist wirklich überall: im Bayerischen Fernsehen, in den Vollversammlungen der "Empörten vom 15. Mai" in Spanien, und selbst "Sherlock" hat ein Smartphone. In Großbritannien gibt es zudem mehr Twitter-Nutzer als Zeitungsleser. Und – das darf bitte niemand den Zeitungsverlegern sagen: Der Guardian freut sich darüber

Es gibt da ja jetzt dieses neue megascharfe Ding, es heißt Internet, und man weiß, dass es, seit es das gibt, manche Menschen versuchen, die ganzen anderen Sachen, also konkret zum Beispiel Radio, Fernsehen und Zeitung, ins Internet hineinzujubeln. Hier und da klappt das auch schon ganz gut.

Die FTD zum Beispiel, Zeitungsmarke, die sie ist, hat seit Montagnachmittag eine kleine Infografik namens "Die Facebook-Story" auf ihren Onlineseiten, weil man in der Papierzeitung immer noch so schlecht herumscrollen kann. (Für Freunde des direkten Vergleichs siehe auch jene Infografik zum Thema von Spiegel Online vom Februar, wo das Form-Inhalt-Verbindungsspiel noch ein bisschen weiter im Vordergrund stand. Bitte bilden Sie sich Ihr Urteil jetzt!)

Warum Facebook-Infografik? Weil Facebook – ach so: Das ist so ein sogenanntes "soziales Netzwerk" – dieser Tage an die Börse geht. Weshalb es auch Thema in der "Rundshow" vom Dienstag war (siehe etwa Youtube-Zusammenfassung und auch Sendungsblog mit einem für Facebook schön apokalyptischen Einspieler von Mario Sixtus). Internetthemen funktionieren in Formaten, die selber irgendwie internetty sind, ja in der Regel ganz gut.

Die "Rundshow", die im Internet, aber auch im Bayerischen Fernsehen läuft und nicht als erstes, aber als ein von Beginn an ernstgenommenes Social-Media-Experiment in die Fernsehprogrammlexika eingehen wird, weil man dort als Zuschauer per Mail, Twitter, Facebook, Skype, Google-Hangout und via App-Bedienung dazwischenfunken kann, ist der jüngste Versuch, nicht nur die alten Medien ins Internet, sondern auch das Internet in die alten Medien zu stecken. Und das gilt gemeinhin vielleicht gar als noch ein bisschen schwieriger. Weil: Die sind linear, zeichnen sich aus durch Redaktionsfilter, sind zeitlich begrenzt, so Zeug, was das Internet erstmal alles nicht braucht.

Insofern ist es folgerichtig, dass gestern (online) und heute (gedruckt) hier und da vor allem das Experiment als solches wahrgenommen und gewürdigt wird, obwohl es für vier Wochen spätabends in einem Dritten Programm ausgestrahlt wird – und auch wenn die Premierensendung vielleicht recht eindeutig nach "Jetzt fangen wir halt einfach mal an" aussah. Die Stimmen sind zahlreich, daher hier nur eine kleine Auswahl aus jenen Medien, die schon zum Altpapier-Standardprogramm gehörten, als sie noch gar nicht alle gegründet waren – nämlich aus welchen mit bekannter Printmuttermarke:

"Die Medienmacher haben kapiert, was die Nutzer schon länger wissen: Jede Jauch-Sendung, jeder Sonntagskrimi ist lustiger mit Blick auf den Twitterstream. Erst am Tag vor der 'Rundshow'-Premiere sollte man beim Tatort also erstmals live nebenher online mitermitteln können - was aber grandios scheiterte, weil die SWR-Planer offenbar mit keinem Ansturm gerechnet hatten. Und auch das ZDF versuchte jüngst, solche Spielereien bei einer Krimiserie einzubinden. (...) In der ersten 'Rundshow'-Folge ist das alles aber noch nicht wirklich aufgegangen. Es sieht nach Atari-Commodore-Teletext aus und hört sich an, als wäre die erste rauschfreie Live-Schalte im Fernsehen noch Jahrzehnte entfernt",

schreibt Spiegel Online.

"Insgesamt wirkt die Show ebenso improvisiert wie ambitioniert. Aus gutem Grund verkauften sie die Macher im Vorfeld als Experiment und forderten die Zuschauer bewusst auf, Feedback abzugeben. Es bleibt abzuwarten, was Richard Gutjahr und sein Team aus den Reaktionen machen. Denn auch das, was der Journalist auf der re:publica seinen potentiellen Zuschauern kundtat, gehört zu Social TV: 'Wir lernen vermutlich mehr von Ihnen als Sie von uns'",

schreibt sueddeutsche.de.

Und die Berliner Zeitung beschreibt vor allem das Konzept und bewertet die erste Sendung als recht "hektisch"; ein Eindruck, der schwer von der Hand zu weisen ist.

Auch noch festzuhalten ist vielleicht: Dass ein Drittes Programm sich hier mal als Experimentierfeld versteht, ist in der Theorie so selbstverständlich wie in der Praxis kaum hoch genug einzuschätzen. Also sollen sie – damit hier auch noch eine Meinung herausgeblasen ist – doch einfach erstmal machen.

####LINKS#### Das Thema der ersten "Rundshow" am Montag, der Jahrestag des Beginns der Jugendproteste in Spanien, ist, wie Facebook (das Thema der zweiten "Rundshow" am Dienstag) heute Thema der Medienseiten: Die FAZ (S. 34) druckt an diesem Mittwoch, an dem sich die harten Mediennews in Grenzen halten, während es sonst an Eilmeldungen gestern nicht mangelte (Eilmeldung: "Hertha steigt ab" – Protipp: Wenn man nur "Meldung" schriebe, könnte man noch schneller sein: Das sind drei Buchstaben weniger!), eine für eine Medienseite eigentlich nicht ganz typische Geschichte über die sogenannten "Empörten des 15. Mai" 2011, die sich – und da sind wir dann wieder beim Digitalen – nicht nur über Social Media vernetzen, aber doch immer wie Social Media, wie man aus der FAZ-Beschreibung ihrer Vollversammlungen sehen kann:

"Diese 'asambleas' dauern Stunden; nach wie vor wird auf Einstimmigkeit großer Wert gelegt und kommt jeder zu Wort. Die Zeitverschwendung, wie selbst Befürworter zugeben, ist enorm."

Das klingt im Grunde nach einer Kohlenstoffversion des Internets, und dass die Möglichkeit, sich die Welt als geistige Infografik vorzustellen, die ohnehin nicht recht definierbaren Grenzen des digitalen Raums überschritten hat, zeigt FAZ-Autor Paul Ingendaay recht deutlich (bevor er später im Text ausführlich auch auf klassische Medienseitenthemen – die spanische Zeitungslandschaft – eingeht):

"Wäre soziale Energie auf einer Karte farbig darstellbar – Blau für die Institutionen von Staat und Gesellschaft, Rot für außerparlamentarische Aktivität, Demonstrationen, Stadtteilversammlungen, Sitzblockaden –, ergäbe sich ein interessantes Bild. Es ist nämlich nicht so, dass die Farben um die Vorherrschaft ringen würden; die Autorität des Staates ist nicht in Gefahr, und jene, die sich 'Systemgegner' nennen, wollen nicht selbst zum System werden. Das Rot hat sich vielmehr als ständige Begleiterin etabliert, als Nebengeräusch und Störfaktor, es umspült gewissermaßen das hergebrachte Blau und erinnert alle daran, dass es keine Monochromie mehr gibt. Dass es nicht gut ist, wie es ist. Dass selbst die Machtlosen ein Bewusstsein haben."

Und weil das noch nicht genug mit der Ausdehnung der digitalen Infrastruktur ins echte Leben hinein ist, kommt an just diesem Tag auch noch folgende Meldung aus Großbritannien, konkret vom Guardian, der es mit der Trennung von Print und Online ja schon länger nicht mehr so genau nimmt:

"Der Dienstag war ein Wendepunkt für die UK mainstream media. Die Zahl der Menschen, die Tageszeitungen kaufen, liegt bei 9.002.963. Die Zahl der Menschen, die in Großbritannien Twitter nutzen, liegt jetzt bei 10 Millionen."

Der Guardian, das darf aber bitte den deutschen Zeitungsverlegern niemand sagen, nimmt das zum Anlass für eine Jubelmeldung: "Life is tweet."


ALTPAPIERKORB

+++ Kleiner Großbritannien-Schwerpunkt heute: Zwei Themen tauchen mehrfach in der deutschen Medienpresse auf, zum einen die Anklage gegen Murdoch-Tante Rebekah Brooks und zum anderen die neuen Folgen der BBC-Serie "Sherlock", die in der ARD laufen. Über Brooks berichtet selbstredend der, wiederum, Guardian. Die Nachrichtenlage auf deutsch: "Im Abhörskandal um das eingestellte Boulevardblatt News of the World ist gegen Exchefredakteurin Rebekah Brooks wegen Behinderung der Justiz Anklage erhoben worden" (dapd via taz). Die FAZ ergänzt: "Rebekah Brooks hat in ihrem fünfstündigen Verhör den Eindruck verstärkt, dass es zwischen der Politik und Murdochs Konzern eine enge Verstrickung gab. (...) Doch wie Rebekah Brooks verwahrte sich auch Alastair Campbell, der ehemalige Kommunikationschef Tony Blairs, gegen die Annahme, es habe zwischen Blair und Murdoch irgendwelche Tauschgeschäfte gegeben nach dem Motto: Einfluss gegen redaktionelle Unterstützung" (S. 34) +++ Die Berliner Zeitung konkretisiert u.a. die Vorwürfe: Brooks u.a. wird voregworfen, "im Juli des vergangenen Jahres Dokumente, Computer oder anderes technisches Gerät dem Zugriff der Polizei entzogen zu haben" (S. 29) +++

+++ Was den "Sherlock" angeht: Nicht mal der kommt ohne Smartphone aus, wie der Tagesspiegel zusammenfasst: "Weil der neue 'Sherlock' in der Gegenwart spielt, ist dem Detektiv sein Smartphone wichtiger als seine Lupe, Watson stellt die Fälle als Blog ins Netz" +++ BBC-Afficionado Steffen Grimberg lobt in der taz die "Sherlock"-Reihe: "die ideale Kombination von Spannung und selbstironischer Parodie (...). Bei allem Respekt vor dem überbordenden deutschen TV-Krimi-Schaffen: So etwas gibt es hierzulande nicht. Wieso gleich noch mal?" +++ Zwei weitere Male wird der britische mit deutschen Krimis verglichen, und immer fällt das Ergebnis gleich aus. Johan Schloemann in der SZ: "wunderbar für den Zuschauer, aber latent gefährlich fürs deutsche Fernsehen.Denn dieser Sherlock, der immer einen Tick schneller, schlagfertiger und findiger als alle anderen ist, droht nicht nur bei der englischen Polizei, sondern erst recht bei deutschen Tatort-Kommissaren oder Schnulzenprogrammplanern etwas Schreckliches zu bewirken: ein nagendes Unterlegenheitsgefühl. Hoffen wir auf nachhaltige Wirkung" +++ Voll des Lobes ist auch Jan Freitag in der Berliner Zeitung (S. 29), der ebenfalls den direkten Vergleich mit deutschen Serien zieht: "In einer deutschen Serie wären Irene Adler und ihr Jäger Holmes bloß Freaks. In 'Sherlock' zeigen sie, wie wahnsinnig die Welt um sie herum ist" +++

+++ Im Nachtrag zu gestern (siehe Altpapier) gibt es auch heute noch mal jede Menge Hörste und Cläuse: Bei Welt Online, in einem Text, der das "heute-journal"-Interview, die medialen Aspekte also – wie auch dieser aus der SZ – eher randständig behandelt, heißt es: "welche Maßstäbe Seehofer mit seiner offenbar spontan – und nicht, wie unterstellt, kühl kalkulierten – Interview-Freigabe gesetzt hat, ist nicht abzusehen" +++ Die taz erklärt: "Zwischen Politikern und Journalisten gibt es feste Regeln für den Grad der Vertraulichkeit. Findet ein Gespräch 'unter eins' statt, heißt das, dass namentlich zitiert werden darf. Zitate 'unter zwei' dürfen Journalisten verwenden, sie müssen die Quelle jedoch verschleiern - dann steht in Zeitungstexten 'aus Parteikreisen heißt es'. 'Unter drei' sind komplett vertrauliche Gespräche. Und, auch das gehört zu dem System: Meist erzählen Politiker auch vertraulich nur das, was ihrem strategischen Interesse dient. Dies ist beim vermeintlichen Kleber-Coup der Fall. Denn inhaltlich bringt er wenig Neues. Seehofer wiederholt lediglich mit anderen Worten, was er schon sagte". Und am Ende ordnet Ulrich Schulte ein: "Die hätten den Mitschnitt wegen der Dopplungen einfach wegschmeißen können. Aber das hätte bedeutet, auf den Anschein des Enthüllungsjournalismus zu verzichten. Es geht also um eine klassische Win-win-Situation: Seehofer kriegt für die gleiche Botschaft die doppelte Sendezeit. Die CSU freut sich über ihren Rebellen, dessen unverblümte Worte im Netz bejubelt werden. Und das ZDF hat mit einem Seehofer-Interview eine investigative Großtat vollbracht" +++ Angetan von der Leistung Claus Klebers ist der Tagesspiegel, der den Nachrichtenanker zum Lohn auch angerufen hat: "Kleber sagte dem Tagesspiegel am Dienstag: 'Ich finde, es war die besondere Qualität dieses Gespräches, dass es mit allem drum und dran vollkommen transparent war'" +++

+++ In einem keineswegs undiskutierenswerten Beitrag für Cicero Online schimpft Hugo Müller-Vogg über die ZDF-"heute show": "Wer nicht mehr von Politik weiß, als das, was auf eine Smartphone-Seite passt, der fühlt sich bestens unterhalten" – "Nach vollen 30 Minuten 'heute-show' weiß ich jetzt wenigstens, was als 'vorbildliche und modellhafte' Polit-Satire gilt: Wenn die Politiker als Deppen der Nation hingestellt werden" +++

+++ Sky – das ist der Sender, der als Harald-Schmidt-Sender bekannt wurde – nähere sich der Gewinnzone, heißt es bei der FTD. Dank der Fußball-EM. Noch so ein Wendepunkt, womöglich: "Sky liegt damit auf einem guten Kurs, Bezahlfernsehen erstmals in Deutschland zu einem lukrativen Geschäft zu machen. Unter seinem alten Namen Premiere hatte das Unternehmen bereits seit rund 20 Jahren versucht, mit Abo-Fernsehen Geld zu verdienen, jedoch bis auf ein Jahr stets Verluste eingefahren" +++ Der WDR will die Reform seines Kulturradios jetzt öffentlich diskutieren lassen, so die SZ: "Man muss sich das einmal vor Augen halten: Der WDR will vor Publikum diskutieren, was das Publikum schon lange diskutiert. Gut 18500 Menschen haben sich inzwischen bei www.die-radioretter.de in eine Liste eingetragen und ihren Unmut bekundet, dass es bei WDR 3 demnächst ein paar Veränderungen geben soll" +++

+++ Die taz-Kriegsreporterin schreibt über die Zahl der Referentinnen bei einer Medientagung – null – und fasst darüber hinaus wieder einmal die ganz heißen Eisen an: die Abo-Werbung der Süddeutschen: "Entscheidet man sich spontan am Bahnhof Dammtor für ein Probeabo, bekommt man eine Capri-Sonne. Und kann sich auch noch die Sorte aussuchen: Orange oder Kirsch" +++

Das Altpapier stapelt sich nach dem Feiertag wieder am Freitag.

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