Dunkle Kapitel

Dunkle Kapitel

Bild Online springt auf den anrollenden Zug auf und bringt einen großen Wissenstest, Margot Honecker ist in einer ARD-Dokumentation mit persönlichen Einschätzungen zu bewundern, Wallraff besucht Bild, die taz besucht Bild und Wallraff, und bei Bertelsmann hängt der Haussegen ungerade

So, wir beruhigen uns. Und erinnern in aller gebotenen Nüchternheit an den gestrigen 1. April (oder wie Zeit-Leser sagen: möglicherweise Haydns Geburtstag). Was war das für eine Freude überall im Land: Milchstraße wird in irgendwas mit Helmut Schmidt umbenannt, titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Journalisten sollen ihre Presserabatte zurückzahlen, schrieb Meedia. ARD-Spendengala soll Liberale retten, meldete tagesschau.de. Joachim Gauck Gregor Gysi hatte was mit der Stasi zu tun, titelte die Welt am Sonntag.

Den Durchblick, was Aprilscherz war und was nicht, behielt natürlich wieder Deutschlands dafür leider nicht nannenpreisnominiertes Internetinvestigativmedium Nummer 1 bis 8, Bild Online. "Zeitung versteckt EINE wahre Meldung auf Seite 1", hieß es dort, und nein, es war keine Meldung in eigener Sache. Es wuchs sich zum Wissenstest aus (siehe Screenshot links). Scheint in Mode zu sein.

Während Die Zeit Mitte der Woche den großen Allgemeinbildungstest an ihren Lesern zu vollstrecken begann, wofür sie von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gestern Hohn und Spott kassierte – etwas verkürzt zusammengefasst: Wasn das jetz'? –, fragt Bild Online, welche Meldung auf Seite 1 der FAS kein Aprilscherz sei. (Liebe FAS: was warn das eigentlich?) Schön immerhin: Bild-Online-Leser wissen vielleicht nicht mehr, aber doch so einiges. 74 Prozent (Stand Sonntag 20 Uhr, Sonntag 23.30 Uhr, Montag 9 Uhr identisch bei angeblich immer weiter steigender Teilnehmerzahl) lagen wahrscheinlich richtig.

[+++] Währenddessen ging es an anderer Front weniger volksnah ernster zu. Benzin kostet Geld, hatte die Redaktion von "Günther Jauch" im Spiegel gelesen und eine illustre Runde einbestellt. Man hat schon weniger Aufschlussreiches gesehen als konkret diese Sendung. Den Sinn der politischen Talkshow als solcher zieht allerdings heute im Nerdorgan, im FAZ-Feuilleton, der Berliner Piraten-Abgeordnete Christopher Lauer in Zweifel, der vergangene Woche einen Auftritt bei "Maybrit Illner" absolvierte und dabei recht offensiv mit Kurt Beck und den eigenen nicht gemachten Gedanken zum Thema "Schlecker" umging. Er schreibt:

"Ein Pfarrer, ein Ministerpräsident, ein Bundestagsabgeordneter, ein Landtagsabgeordneter, eine Wirtschaftsverbandsvorsitzende und eine Moderatorin in einem Studio – und sie reden nicht über Schlecker, sondern erzählen sich etwas vom Pferd. Einige, weil sie keine Ahnung vom tagesaktuellen Thema haben (ich), andere, weil sie Ahnung haben, aber das nicht sagen wollen (Beck). So verkommen die Schicksale von 11 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Wahlkampf-Stunt."

Und leitet daraus die Frage ab, "ob sich Piraten künftig an solchen Veranstaltungen überhaupt beteiligen sollten":

[+++]"Es geht in solchen Situationen nicht mehr darum, Standpunkte auszutauschen. Man verkommt zum Abziehbild und wird zum Teil einer Performance, die wenig mit der Realität zu tun hat. Warum tun wir Piraten uns solche Situationen an? Sowohl ein Will-Auftritt, der vermeintlich gut lief, als auch ein Illner-Auftritt, der vermeintlich nicht gut lief, zementieren ein Bild von Politik und Politikern, das wir ablehnen. Selbst vermeintlich richtig auf diese Fragen zu antworten fühlt sich falsch an."

Kein Beitrag, der zwangsläufig in allen Aspekten zum von augenscheinlicher Seriösität motivierten Abnicken einlädt, aber falls mal jemand die Diskussion führen möchte, ob die Piratenpartei die Inszenierungen der Mediendemokratie eher von innen, wie eine Mehlmotte, auszuhöhlen versucht oder eher, indem sie ihnen die dezentrale digitale Kommunikation überstülpt, dann könnte er vielleicht noch einmal hervorgekramt werden.

[listbox:title=Artikel des Tages[taz zu Besuch bei Diekmann und Wallraff##Thomas Middelhoff verschieft den Haussegen (FAS)##Die Piratenpartei und die Überschätzung des Meinens (BLZ)]]

Für zweiteres, dafür, dass der massenmedialen Wirklichkeit, eher das Digitale (und dessen "Geschwindigkeitsverhältnisse") übergestülpt werden, spricht die Argumentation von Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanne Detel im Spiegel (S. 140f.). Ihr Essay handelt, zurückblickend auf die Wulff-Affäre und andere Skandale der jüngeren Zeit, von "extremen Kommunikationseffekten":

"Möglichkeitsblindheit, so könnte man das fehlende Gespür für extreme Kommunikationseffekte nennen, die prinzipiell unbeherrschbar sind. In dieser Situation, in der das Skandalrisiko allgegenwärtig wird, lässt sich der Imperativ des digitalen Zeitalters nur noch resignativ formulieren: 'Handle stets so', so könnte er lauten, 'dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.'"

Was tatsächlich ein wenig resignativ klingt, doch immerhin schließt sich eine kleine Utopie an:

"Es mag utopisch klingen, aber ähnlich wie das demokratische Prinzip müssen journalistisches Bewusstsein und eine Mentalität des empathischen Abwägens heute zu einem universellen Wert und zur Lebensmaxime des digitalen Zeitalters werden."

[+++] Empathisches Abwägen, wer da nicht an Bild denkt, dem ist auch nicht zu helfen. taz-Medienredakteur Felix Dachsel hat eine gemeinsame Recherche von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und Bilds "größtem Kritiker" Günter Wallraff von Diekmanns Büro aus beobachtet.

Es geht um die Abhörung von Wallraffs Telefon im November 1976 durch einen Bild-Redakteur, dessen Aussagen Wallraff 1979 im Buch "Die Zeugen der Anklage" dokumentierte. "Es geht um das", schreibt Dachsel, "was Kai Diekmann das 'dunkle Kapitel' seiner Zeitung nennt." Und wenn man nicht beinahe lachen müsste, wenn man von "dem" dunklen Kapitel liest, das Diekmann da aufklären will, als gäbe es sonst nur weiße Weste, könnte man sich fast ein wenig über die Verbreitung der Bild-Botschaft ärgern, die im Kern mitschwingt: "Wir sind dermaßen päpstlich, wir helfen sogar unserem größten Kritiker bei der Beantwortung seiner Fragen."

Siehe hierzu bei Bedarf auch noch einmal Christopher Lauers oben zitierten Talkshowtext: "Selbst vermeintlich richtig auf diese Fragen zu antworten fühlt sich falsch an."


Altpapierkorb

+++ Zentrale Nachricht der Bertelsmann-Bilanz-PK vergangene Woche: die Rechtsformänderung: "Zum 30. Juni soll die Bertelsmann AG mit 100.000 Mitarbeitern und 15,3 Milliarden Euro Umsatz ihre Rechtsform ändern in eine SE & Co. KGaA. Die Buchstabensuppe bedeutet, dass aus Bertelsmann eine Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) wird, die von einer europäischen Aktiengesellschaft (SE) gesteuert wird" (FAS). Das Interview der FAS mit dem ehemaligen Bertelsmann-Vorstandschef Thomas Middelhoff schlägt ein paar Wellen, etwa die FTD greift es auf: "Er sehe das Vorhaben 'mit einem lachenden und einem weinenden Auge', sagte der 58-Jährige der 'Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung'. 'Weinend, weil dieser Konzern zehn Jahre Stillstand hinter sich hat. Lachend, weil endlich umgesetzt wird, was mein Führungsteam schon vor einem Jahrzehnt als richtig und wichtig empfohlen hat.' Middelhoff verließ Bertelsmann 2002 im Streit um einen möglichen Börsengang" +++ Und auch zwischen Bertelsmann und Gruner+Jahr (Bertelsmann) hänge "der Haussegen schief", behauptet Der Spiegel +++

+++ Sat.1. Das ist ein Fernsehsender, und es gehe ihm so lala, schreibt, verkürzt zusammengefasst, Der Spiegel. Anlass für den Text ist das bevorstehende Ende der "Harald Schmidt Show": "Für die prominenten Gesichter Pocher, Kerner und Schmidt durfte zwar viel Geld ausgegeben werden, dafür aber musste an anderer Stelle gespart werden, zuallererst an Ideen und Entwicklungen für den ausgebluteten Nachmittag und Vorabend. (...) Der Optimierungswahn des Konzerns hat vor allem bei Sat.1 seine Spuren hinterlassen. Die Werbekunden sind zwar zufrieden, solange das Abendprogramm läuft, hier wird das Geld verdient. Sat.1 ist noch immer der größte Umsatzbringer der TV-Familie. Aber sollte der tägliche Marktanteil von Sat.1 dauerhaft auf zehn Prozent oder gar weniger absinken, be- strafen die Werbekunden irgendwann die ganze Gruppe. 'Das Eis ist dünn, vielleicht hilft die Angst jetzt, den Sender zu drehen', sagt ein Konzernmanager" +++

[+++] Franz-Josef Wagner (Bild) kritisiert im "Mordfall von Emden" in seinem Brief an den "lieben Unschuldigen" natürlich den Twitter-Mob, vergisst aber vielleicht dabei eine Kleinigkeit – die Berichterstattung seiner Zeitung +++

+++ Die kleine Wochenzeitung Kontext aus Stuttgart, die samstags Teilen der taz beiliegt, bittet vor dem ersten Geburtstag um "Solidaritätsabos, 10 Euro im Monat – weil das Kontext-Angebot frei zugänglich ist, also eigentlich um Spenden", so die SZ (S. 16), sonst werde aus der Geburtstags- vielleicht eine Abschiedsfeier +++

+++ Dass die Piraten an dieser Stelle bisweilen Thema sind, mag daran liegen, dass sie ohne Medienwandel kaum zu denken sind. Harry Nutt schreibt in der Berliner Zeitung: "Ein wichtiges Medium des piratischen Selbstverständnisses ist der Verdacht. Die repräsentative Demokratie, so lautet dieser, unterschlägt Informationen und verschleiert Machtverhältnisse. Die liquide Demokratie trachtet danach, das zu ändern. Unter der Piratenflagge sollen die Parlamente und deren Ausschüsse in Informationsmaschinen verwandelt werden – eine Dauerdemokratie, immer auf Sendung. Mal abgesehen davon, dass ein solches Modell erhebliche kommunikative Störungen hervorbringt, speist sich diese Idee des permanenten Informationsflusses aus einer gewaltigen Überschätzung des Postens und Meinens" +++ Sascha Lobo, der einmal das schöne Wort "Herummeinen" geprägt hat, wird von der FAZ porträtiert +++

+++ Die "Nachrichten aus dem Netz" in der Süddeutschen Zeitung (S. 11) führen weg von der Piratenpartei, allerdings hin zum "impliziten Versprechen des Netzes, ein Korrektiv für alte Ungleichgewichte zu sein". Implizit heißt aber nicht zwangsläufig eingelöst, wie man etwa an der Wikipedia sehe, "für deren Themenschwerpunkte der Begriff Eurozentrismus schon fast zu milde erscheint". Niklas Hofmann zitiert hier einen Guardian-Text vom Januar, in dem Mark Graham moniert, dass dabei "zu oft" das "Potential mit tatsächlicher Praxis verwechselt" werde +++ Stefan Niggemeier bloggt über die Zuschauerfreundlichkeit der ARD-Vorsitzenden Monika Piel +++ Und Privatsenderlobbyist Jürgen Doetz beschwert sich über die Öffentlich-Rechtlichen in Sachen Fußballrechte (TSP) +++

[+++] Und zum Fernsehen: Es gibt drei Programme, die zeitungsübergreifend besprochen werden. Vor allem zu erwähnen wäre "Der Sturz – Honeckers Ende", in dem Margot Honecker persönlich vorspricht (ARD, 21 Uhr): "Packend erzählt, mit sicherem Gespür für Nuancen und ohne pädagogischen Zeigefinger ergibt sich das bizarre Bild einer komplett verunsicherten, überlasteten neuen DDR-Führung", schreibt die taz. Die Süddeutsche beginnt ihren Text: "Jeder historische Umbruch hinterlässt Überlebende, deren innere Uhren zum Stillstand gekommen sind, wie rüstig sie sonst auch sein mögen. Das Interview, zu dem der brillante NDR-Dokumentarfilmer Eric Friedler jetzt Margot Honecker überreden konnte – das erste der vormaligen Ministerin für Volksbildung der DDR und Ehefrau Erich Honeckers seit zwanzig Jahren - ist ein monumentales, beeindruckendes, am Ende aber vor allem gruseliges Beispiel für so eine stehengebliebene Lebensuhr". Die FAZ zitierte: "Die Vierundachtzigjährige redet nicht wirr und nicht verbittert, sondern in dem Bewusstsein, dass die nächste Chance kommt. Sie hat sich nicht zu entschuldigen, sie legt Zeugnis ab über eine von der „Konterrevolution“ beendete Erfolgsgeschichte: „Es ist eine Tragik, dass es dies Land nicht mehr gibt." Nicht übertrieben begeistert ist der Tagesspiegel: "(M)an muss die ersten, raunenden Minuten dieses Films mit bis zur Peinlichkeit dramatisierender Musik überstehen, um eine Episode des Untergangs der DDR spannend, wenn auch filmisch konventionell, geschildert zu bekommen" +++

+++ Nach der SZ vom Samstag bespricht heute die FAZ (S. 27) den "Buback"-Film von 3sat (22.55 Uhr. Während die SZ eine fehlende Distanz zum Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Michael Buback, moniert, zumal der auch bei 3sat bloggt, zitiert die FAZ den im Film zitierten FAZ-Feuilletonchef Nils Minkmar mit einem Filmzitat +++

+++ Dem "gar nicht unsympathischen, aber zuweilen recht zähen" ZDF-Montagsfilm "Fischer fischt Frau" wünscht die SZ "ein wenig von Otto Waalkes' Albernheit". Die taz wünscht sich, wenn man zwischen den Zeilen liest, eher, dass er nicht entstanden wäre: "Beim Zweiten Deutschen Fernsehen läuft so ein seichter Käse unter dem Label 'Wohlfühlfilm'. Wenn dieses Wort auftaucht, das bestätigt sich immer wieder, bleibt nur eines zu tun: umschalten". Und der Tagesspiegel changiert zwischen "nicht originell" und trotzdem "sehenswert" +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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