Die Welt des Investors

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Wogegen morgen wieder prostestiert wird – das Handelsabkommen ACTA engt nicht nur die Freiheit im Internet ein. Wer da eigentlich demonstriert – über das Selbstverständnis eines prekären "Wir"

Eine verdienstvolle Arbeit. Fast die gesamte Medienseite der FAZ (Seite 37) beschäftigt sich heute mit der Frage, was sich hinter ACTA eigentlich verbirgt. Sachverständige widmen sich gezielt einzelnen Aspekten des Handelsabkommens, also den Paragrafen, gegen die morgen wieder in 50 deutschen Städten demonstriert werden soll.

Zu den Sachverständigen gehört auch der jüngste Darling der Internetpublizistik, der CDU-MdB Ansgar Heveling, der mit seiner legendären Digitalkriegserklärung im Handelsblatt der Herzen der Blogosphäre im Shitstorm eroberte.

Von Heveling kann man etwas über die Geräumigkeit von internationalen Abkommen im Bezug auf nationale Gesetzgebung erfahren:

"Nach Absatz 1 darf jeder Unterzeichnerstaat bei der Rechtsdurchsetzung über die Regelungen des Vertrages hinausgehen, sofern dies dem Abkommen nicht zuwiderläuft. Eine solche Regelung ist für völkerrechtliche Verträge wie auch für EU-Richtlinien durchaus üblich. Nur so ist es Ländern mit einem höheren Schutzstandard wie etwa den Vereinigten Staaten möglich, das Acta-Abkommen zu unterzeichnen, ohne seine Gesetze zu ändern."

Der beruhigend klingende Satz –

"Acta wird somit keine unmittelbaren Auswirkungen auf das geltende deutsche Recht haben."

– klingt allerdings etwas weniger beruhigend, wenn man den Text von Tabea Rößner, der medienpolitischen Sprecherin der Grünen liest.

"Durch die Unterzeichnung werde sich die Rechtslage in Deutschland nicht ändern, weil der Vertragstext nicht über das Vorhandene hinausgehe. Genau in diesem Punkt liegt jedoch die Crux: Mit der Ratifizierung von Acta und der damit einhergehenden Bindungswirkung würde der Status quo zementiert. Insbesondere die Regelungen des 5. Abschnitts, die sich mit der Durchsetzung des Urheberrechts im digitalen Umfeld befassen, versperren in maßgeblichen Punkten eine ergebnisoffene Diskussion um die Reform des Urheberrechts."

Aufschlussreich ist auch, dass ACTA nicht nur internetrelevante Positionen betrifft. Frank Dörner, der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen notiert:

"Millionen Patienten in ärmeren Ländern sind existentiell auf günstige Generika-Medikamente angewiesen. Acta enthält einige Regelungen, die die Versorgung mit bezahlbaren Medikamenten bedrohen: In den Abschnitten 2 und 3 von Acta wird nicht zwischen zivilrechtlichen Markenrechtsstreitigkeiten und betrügerischen Markenfälschungen unterschieden. Diese Definition setzt die Hersteller von legalen generischen Medikamenten mit Medikamentenfälschern gleich und setzt sie einer Strafverfolgung aus."

[+++] In der Vermittlungsarbeit der FAZ geht es auch um ein Übersetzungsproblem zwischen "der Politik" und "dem Bürger". Warum nur lesen sich Politikertexte eigentlich meistens so mühsam?

Im Tagesspiegel referiert Joachim Huber eine Äußerung von Kurt Beck (SPD).

"In 'epd medien' schreibt er, dass ARD und ZDF den Informationskanal Phoenix stärken und ihre digitalen Infokanäle aufgeben sollen. Beim ZDF wäre das ZDFinfo, bei der ARD Einsextra. Die Intendanten werden sich die Augen reiben. Die Rundfunkpolitik hat ARD und ZDF jeweils drei Digitalprogramme zugestanden, und jetzt will man davon nichts mehr wissen."

Dem stimmt nicht nur der sächsische Staatskanzleichef und Medienobmann Johannes Beermann (CDU) zu. Auch der Medienpolitiker der SPD-Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen, Marc Jan Eumann, äußerte sich in der letzten - karnevalsbedingten? - Doppelnummer der Funkkorrespondenz in diese Richtung. Nur leider, und da sind wir bei der Übersetzungsfrage, in einem Text, der an Kontur gewinnen würde, wenn er noch etwas dezidierter seine Meinung artikulieren würde.

"Bei den Stichwörtern Kooperation, Finanzierung, Doppelausstrahlungen und Doppelstrukturen wird man auch um eine sachorientierte Debatte über die digitalen Fernsehkanäle nicht vorbei kommen. Auch sie kosten Geld. Es stimmt: Die Länder haben die Realisierung dieser Kanäle erlaubt. Seitdem haben sich jedoch die Voraussetzungen geändert, die Digitalisierung hat fast alles verändert. Darauf gilt es zu reagieren."

Kann man nichts gegen sagen, kann man höchstens etwas konkreter sagen. Das gilt auch für die, wenn wir das richtig verstehen, nicht unberechtigte Kritik an gewissen Protagonisten des öffentlich-rechtlichen Systems:

"Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang die Nachsicht vieler Sender mit festen oder freien Mitarbeitern, die weniger durch journalistische Tugenden als durch umfangreiche Werbeverträge und Nebentätigkeiten auffallen. Nicht wenige dieser Tätigkeiten sind geeignet, Zweifel an der journalistischen Unabhängigkeit zu wecken."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Wir, die Netz-Kinder (Zeit-Online)##Beck-Kritik an ARD/ZDF digital (TSP)##Eumann-Kritik an ARD/ZDF digital (FK)##Griechische Zeitungslandschaft (TAZ)##]]

Vielleicht muss Politik so reden, weil sie immerzu an alle adressiert. Vielleicht ändert sich das aber auch durch eben die Digitalisierung, weil dieser Prozess einen neuen Typus des Staatsbürgers hervorbringt, der sich durchs Internet eine Welt zusammeninformiert, die nicht vor Institutionen erstarrt, nur weil es Institutionen sind.

[+++] Was damit gemeint ist, zeigt ein schöner Text des polnischen Dichters Piotr Czerski, den Zeit-Online übersetzt hat. Czerski beschreibt in "Wir, die Netz-Kinder" anschaulich ein global-digitales Selbstverständnis, das einem schon deshalb sympathisch ist, weil Czerski um die Schwierigkeit von Begriffen wie "Generation" oder einem in diesen Zusammenhängen unvermeidbaren, alles eingemeindenden "Wir" weiß.

"Indem ich das so schreibe, ist mir bewusst, dass ich das Wort 'wir' missbrauche. Denn unser 'wir' ist veränderlich, unscharf, früher hätte man gesagt: vorläufig. Wenn ich 'wir' sage, meine ich 'viele von uns' oder 'einige von uns'. Wenn ich sage 'wir sind', meine ich 'es kommt vor, dass wir sind'. Ich sage nur deshalb 'wir', damit ich überhaupt über uns schreiben kann."

Und Czerskis Text erklärt auch, warum dieses prekäre "Wir" am Geist gewisser Handelsabkommen Zweifel hat:

"Warum sollten wir für die Verbreitung von Informationen zahlen, die schnell und perfekt kopiert werden können, ohne den Wert des Originals auch nur um ein Jota zu verringern? Wenn wir nur die reine Information bekommen, verlangen wir einen angemessenen Preis. Wir sind bereit, mehr zu zahlen, aber dann erwarten wir auch mehr: eine interessante Verpackung, ein Gadget, höhere Qualität, die Option, es hier und jetzt anzuschauen, ohne warten zu müssen, bis die Datei heruntergeladen ist. Wir können durchaus Dankbarkeit zeigen und wir wollen den Künstler belohnen (seit Geld nicht mehr aus Papier besteht, sondern aus eine Reihe von Zahlen auf einem Bildschirm, ist das Bezahlen zu einem eher symbolischen Akt geworden, von dem eigentlich beide Seiten profitieren sollen), aber die Verkaufsziele irgendwelcher Konzerne interessieren uns kein bisschen."


Altpapierkorb

+++ Monika Piel (Altpapier vom Mittwoch) ist nicht allein: Der RBB baut um, und Sprecher Justus Demmer wird im Tagesspiegel zitiert mit dem Satz, dass es sich keineswegs um einen "nie da gewesenen Kahlschlag" handelt. "'Wir brauchen Platz für Neues, daher müssen Sendungen weichen.'" Kann man nichts gegen sagen, fraglich ist nur, welchen Begriff von öffentlich-rechtlicher Informationssendung man hat, wenn das Boulevardformat "zibb" dafür als Beispiel herhalten kann. +++ Für regierungsunabhängige Information gibt es in Russland den Sender Doschd (Regen), den Frank Nienhuysen in der SZ (Seite 15) vorstellt. Offen ist die Frage der dauerhaften Finanzierung. +++ Das Modell der griechischen Zeitung Elefterotypia beschreibt Theodora Mavropoulos in der TAZ: "Seit August 2011 bekommen sie keine Gehälter mehr ausgezahlt. Ein halbes Jahr lang haben sie aus journalistischer Überzeugung und Verantwortungsgefühl gegenüber den Lesern umsonst gearbeitet. Es folgte ein Streik über 45 Tage. Doch das war für die Belegschaft nicht genug und so haben die Mitarbeiter das Blatt komplett selbst in die Hand genommen." Man erfährt auch: "Andere Verlage haben ihren Betrieb bereits eingestellt oder drastisch reduziert. So erscheint die Tageszeitung 'To Vima' nur noch wöchentlich und so sind die Zeitung 'Apogevmatini' und 'Die Welt des Investors' komplett von der medialen Bildfläche verschwunden." +++

+++ Ins Fernsehen: David Denk erzählt in der TAZ ausführlich, die gemischten Gefühle, die Drehbuchautor Orkun Ertener (KDD) mit seiner neuen Erzählserie "Die Chefin" hat, die auf dem tradtionellen Männer-Ermittler-Platz am Freitagabend im ZDF laufen wird: "'Das Projekt ist nicht missglückt', sagt er, 'aber es ist im Ergebnis ein Kompromiss.' Wie seine Aussage. Bloß keine Eskalation! Vom Kompromiss handelt diese Geschichte, von einer weiteren verpassten Chance des deutschen Fernsehens, den Abstand auf britische und US-amerikanische Produktionen zu verringern." +++ Die SZ (Seite 15) bespricht die Auftaktfolge wohlwollend, Barbara Sichtermann im TSP (mit einem wieder mal wunderbar grobpixeligen Bild, siehen oben) ist freundlich-skeptisch. +++ Aus der NZZ ist zu erfahren, dass das, was dem ZDF-Zuschauer der Freitag, dem SF-Gucker der Dienstag ist. +++ Klaudia Wick begleitet in der Berliner  RTLs Bachelor zur finalen Damenwahl. +++ Die TAZ empfiehlt einen Arte-Abend über Andy Warhol. +++

+++ Und Meedia.de zeigt, wer den längsten Atem hat und featured zum offiziellen Abgang von Andreas Bartl bei ProSiebenSat.1 sämtliche Abschiedsworte in gebührender Ausführlichkeit. +++

Neues Altpapier gibt's Montag wieder.

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