Shootingstar Niger: Die neuen Pressefreiheits-Charts sind da. Supplement Hitler: Ärger an einem Londoner Küchentisch über das bayerische Hitler-Copyright. Außerdem: Was sich gegen die Gratis-Bild-Zeitung im Juni tun lässt.
Am morgigen Donnerstag wird es mal wieder spannend am Kiosk, zumindest wenn man einer geschickten Parallelmontage des Tagesspiegels trauen möchte. Das Berliner Blatt peppt die heute ansonsten die Randspalten auffüllenden Meldungen, dass das (vom Talkshow-Haudegen Markus Söder geführte) bayerische Finanzministerium gegen die schon seit einiger Zeit angekündigte Verbreitung von Auszügen aus "Mein Kampf" im Rahmen des Blattes Zeitungszeugen (TAZ kürzlich dazu: "Mit Propaganda hat das wenig zu tun. Sehr wohl aber mit dem Bemühen, aus jedem Dreck Geld machen zu wollen") vor Gericht ziehen möchte, heute mit einer Zweiautorenreportage auf.
Einerseits referiert Sonja Pohlmann die aktuelle deutsche Aufregung, die deshalb vor allem aus Bayern kommt, weil das Bundesland bekanntlich Rechtsnachfolger des Urhebers Adolf Hitler ist. Andererseits hat England-Korrespondent Matthias Thibaut den Zeitungszeugen-Verleger Peter McGee an "seinem Küchentisch" "in seinem komfortablen Wohnhaus in Sevenoaks im Londoner Stockbroker-Belt" aufgesucht. Und dort schien der alleinige Eigentümer der "Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht", Albertas Limited, ähnlich kämpferisch, wie er auf dem DPA-Foto aussieht, abgeledert zu haben:
"Stellen Sie sich das vor. Polizeirazzien an Zeitungskiosken. In Deutschland! Die Ironie ist ungeheuer",
sagte er mit Bezug auf seine Erfahrungen vor drei Jahren, als seine Zeitungszeugen damit begann, Ausgaben der Nazi-Blätter "Völkischer Beobachter" und "Der Angriff" neu herauszubringen. Das morgen zu erwartende Auszug aus "Mein Kampf", dieser "Teufelsbibel" (McGee) sei aber, so Thibault, als 16-seitiges "dünnes Schulheftchen in nüchterner Typografie, ohne Illustrationen, mit mehr Erklärungen als Text" enttäuschend.
Immerhin ist neben Historikern wie Wolfgang Benz und Horst Pöttker auch "der deutsche Geschichtslehrerverband ...mit an Bord" des Projekts (und zwar mit einer derart schwer erkennbaren Zeitungszeugen-"Anzeige" oben auf seiner Homepage, dass die ihm vermutlich um die Ohren gehauen werden würde, wenn die Geschichtslehrer nicht Geschichts- sondern Medienkundelehrer wären).
[+++] Noch ein Immerhin: Razzien an deutschen Kiosken kommen selten vor. In einem, sagen wir: Dreivierteljahrhunderts-Vergleich dürfte Deutschland in der Rangliste der Pressefreiheit noch rasanter nach oben geschossen sein als es in der aktuellen, heute erschienenen Ausgabe der Niger ist. Das afrikanische Land ist derzeit der Shootingstar in den von den Reportern ohne Grenzen herausgegebenen Rangliste. Weil sich dort "die innenpolitische Lage nach den Wahlen im Januar stabilisierte", verbesserte er sich (im Vergleich zum Vorjahr) "um 75 Positionen auf Platz 29", heißt es im ausführlichen Charts-Kommentar.
Pakistan sei das Land, in dem (wie im Vorjahr) "die meisten Journalisten weltweit getötet" wurden, rangiert auf Platz 151 aber nur drei Plätze oberhalb der Türkei, wo "Journalisten durch Überwachung und Verhaftungen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung massiv eingeschüchtert" wurden. Den letzten Platz 179 belegt Eritrea, den ersten teilen sich Finnland und Norwegen vor dem europäischen Shootingstar Estland. Deutschland nimmt auf Platz 16 "weiterhin eine stabile Mittelposition innerhalb der EU ein".
[+++] Noch auf Platz 40 befindet sich Ungarn - vermutlich weil die Liste die Lage zwischen dem Dezember 2010 und November 2011 beleuchten soll.
"Ich komme aus Ungarn, dort gibt es auch die Auffassung, dass linke Journalisten das Land bewusst schlecht darstellen wollen. Sieht die FDP das ähnlich?"
Mit dieser charmanten Frage bewegte die TAZ-Journalistin Anna Frenyo den Bundestagsabgeordneten Joachim Günther zu einem freundlichen Interview-chen, an dessen Ende sich auch Günther selbst "gut" fühlte. Der FDP-Politiker aus dem sächsischen Plauen erlangte gerade gewisse Bekanntheit, weil er zu einem "Medienboykott" aufrief (siehe evangelisch.de) gegen "Pressehetze" und "linksgrüne Hysterie-Berichterstattung" aufrief und sowohl von der gern empörten Journalistengewerkschaft DJV als auch von der FDP selbst (der zumindest ein Talkshowboykott aber wirklich gut täte) "abgebügelt" (SPON) wurde. Die deutsche Position in den Pressefreiheits-Charts des kommenden Jahres dürfte er wohl kaum gefährden.
[listbox:title=Artikel des Tages[Tsp. über den Zeitungszeugen-Verleger##Zeitungszeugen über "Mein Kampf"##Aktuelle Pressefreiheits-Charts##Joachim Günther-Interviewchen (TAZ)##Tagesspiegel vs. Bild-Zeitung##Petra Grotkamp, das Phantom von Essen (FTD)]]
[+++] "Bitte keine Werbung"-Aufkleber helfen nicht, den Briefkasten von der Gratis-Ausgabe der Bild-Zeitung, die im Juni bundesweit verteilt werden, frei zu halten. Und ob "Bitte keine Anzeigenzeitungen"-Aufkleber helfen, bleibt ungewiss. Doch der vergangene Woche auch an dieser Stelle geäußerte Wunsch, etwas dagegen zu tun, zog breite Kreise. Neben Udo Vetter im Lawblog entwarf auch der Kölner Rechtsanwalt Andreas Schwartmann (rheinrecht.wordpress.com) zwar keinen Aufkleber, aber ein an die Axel Springer AG in der Axel-Springer-Straße 65 in Berlin zu richtendes Schreiben.
Dass die TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester in ihrer heiteren Medienseiten-Mittwochsglosse (in der Joachim Günther ebenfalls zu Ehren kommt) auf dem etwas umständlichen Umweg über "die [äh, sic] Asta der Uni Darmstadt" darauf hinweist, überrascht nicht.
Dass es der Tagesspiegel vorn auf seiner ersten Seite ebenfalls tut, dass Helmut Schümann dort dem Bild-Zeitungs-Chefredakteur Kai Diekmann den Namen "Kai Jong Dick Man" verpasst und dass er den Hinweis dann gar noch in Form eines Links zu einer PDF-Datei auf Dropbox tut (jetzt wo, "nach der Megaupload-Razzia" bei anderen One-Klick-Hoster gelinde Panik bzw. "vorauseilender Gehorsam" herrschen, vgl. wiederum TAZ...), das überrascht jeweils doch angenehm.
Altpapierkorb
+++ Top-Thema Tommy Gottschalk (vgl. Altpapier gestern): Das medienjournalistisch schwierige Experiment, einen großen Artikel über die seit Montag laufende ARD-Werberahmenshow des Entertainers zu berichten, ohne sich deren zweite Ausgabe gestern angeschaut zu haben, unternimmt nicht nur die TAZ, die wegen ihres frühen Redaktionsschlusses nicht anders kann (hübscher Fachbegriff für das, was eine FAZ-Printglosse "eine sehr lange, sehr selbstbezogene Einleitung" nennt, von David Denk darin: "Selbstbeschwipstheit"), sondern auch die Süddeutsche. Dort schreibt Christopher Keil auf der Medienseite aufmunternd über Gottschalk: "Er ist erfahren, schlau und souverän genug, sich und die Sendung fortlaufend zu entwickeln. Sie könnte ein hübscher Standard am Vorabend werden. Doch dafür braucht die halbe Stunde Struktur und Spielereien. Vielleicht wäre so etwas wie ein Publikum nicht schlecht. Im Wohnzimmer mit Klavier, Kuhfell und Fritz-Hansen-Sessel ist genug Platz - für zwei oder drei Besucher, auch ungebetene." Also muntert Keil sozusagen alle auf, doch mal ins Berliner Humboldt-Carré hereinzuschneien. +++ Und wenn keine Rezensenten mehr zuschauen, sinkt die Einschaltquote doch beträchtlich (kress.de). +++
+++ Falls unser Tommy gestern mit Studiogast Armin Rohde einen Eindruck vermitteln vom heutigen 20.15 Uhr-ARD-Film "Alleingang" vermitteln wollte, ist ihm das eher nicht gelungen. Die Süddeutsche schreibt nun dazu: "Für ein echtes Experiment fehlte letztlich wohl der Mut. Am Ende also versucht der Film aufzuholen, was bisher versäumt wurde - weil nicht mehr viel Zeit ist, muss dann alles sehr schnell gehen. Und am Ende bleibt vom Experiment nicht viel mehr als ein vorbeirauschender Streifen." +++ Michael Hanfeld in der FAZ (S. 33) über die Schauspieler Rohde, Alexander Held und weitere: "Ihr Zusammenspiel verrät die Handschrift des Regisseurs [Hartmit Schoen], der ein Meister der Introspektion ist und stets seine Schauspieler in den Mittelpunkt rückt, ihnen Raum gibt, Seelenlagen auszuloten bis zur Neige." +++ Siehe natürlich auch Tsp., Gangloff, Tittelbach. +++ Der Tsp. weist außerdem, während die Berliner Kollegen von der BLZ die alte Tugend der Nachbesprechung am Beispiel des in der zweiten Folge "noch unterirdischer" gewordenen ZDF-Formats "ZDFzeit" reanimieren, darauf hin, dass die Arte-Dokumentation "Comics ziehen in den Krieg" heute "erneut ausgestrahlt", also wiederholt wird. +++
+++ Dass die WAZ-Gruppe zuletzt "publizistisch und wirtschaftlich erfolgreich war", das "kann jedoch nur behaupten, wer die realen Zahlen ausblendet", zumal die WAZ "bei den neuen Medien bisher nur geübt und eher Geld verbrannt hat, ohne wirkliche Umsätze zu generieren", analysiert knallhart der Tagesspiegel. Was genau das "Filmreife" an dem jetzt abgeschlossenen Familienstämme-Deal war, lässt er hingegen offen. +++ "Nach Ende der Doppeldynastie dürfte der Konzern rasch eine Holdingstruktur erhalten. Offenbar könnten neben [Christian] Nienhaus mehrere weitere Geschäftsführer mit klaren Ressortzuständigkeiten berufen werden. Verkäufe wird es erst einmal nicht geben", weil die neuen Mehrheitseigentümer zusagten, "dass für mindestens ein Jahr keine Konzerngesellschaft weiterverkauft wird", weiß Claudia Tieschky (Süddeutsche, S. 17). +++ In der FTD stellt Bernhard Hübner "Petra Grotkamp - Das Phantom aus Essen" schon in eine Reihe mit Liz Mohn und Friede Springer. +++
+++ Letzte Woche angekündigt, gab es gestern den ersten "Meilenstein", mit dem o.g. Springer AG den anstehenden 100. Geburtstag ihres Namensgebers feiern möchte: Im beliebten Bild-Zeitungs-Stil blendet sie ins Jahr 1947 ("Hamburg lag noch in Trümmern, doch der junge Verleger war in Aufbruchsstimmung") zurück: "Den Alliierten war damals vor allem eines wichtig: eine weiße Weste aus der Zeit der braunen Herrschaft. Auf die Frage, ob Axel Springer während der Nazi-Zeit verfolgt worden war, antwortete er geradezu britisch trocken: 'Nur von den Frauen.' Das machte Eindruck." Seien Sie schon jetzt gespannt auf "Was Papst Johannes Paul II. und Otto Waalkes gemeinsam haben" nächste Woche! +++
+++ Zur Sache ging es bei Hubert Burdas DLD-Sause. Während Maria Furtwängler bei einer Laudatio ein ödipaler Versprecher herausrutschte ("Als sie der 'Huffington Post'-Gründerin Arianna Huffington den diesjährigen 'Aenne Burda Preis' übergab, bezeichnete sie die namensgebende Verlegermutter im Eifer des Moments als Hubert Burdas Ehefrau", obwohl sie eigentlich selbst Hubert Burdas Ehefrau ist), empfahl Huffington "allen Ernstes Medienfrauen, sich erfolgreich hochzuschlafen", berichtet kress.de. "'Und ich meine das im Wortsinn', sagte Huffington". Andererseits, Artikel in denen einfach so mal steht "Hierzulande wurden zudem durch Facebook-Aktivitäten 36.000 Arbeitsplätze geschaffen", sollte man nicht zu ernst nehmen. +++ Infos zur Veranstaltung gibt's bei auch ksta.de. +++
+++ In der pressefreiheitlich nicht ganz irrelevanten Frage des Pressegrossosystems begann gestern vor dem Landgericht Köln eine neue Runde. In der Süddeutschen berichtet Wolfgang Janisch zitiert den Anwalt des mal wieder involvierten Bauer-Verlags, Matthias Wolter: "'Eine historische Entwicklung begründet keinen Bestandsschutz'". Das Urteil wird am 14. Februar erwartet, "vermutlich wird Bauer gewinnen, doch letztlich wird auch dieser Fall beim BGH landen." +++
+++ Seitdem die digitale Bildbearbeitung in Agenturen, Redaktionen und Druckereien Einzug hielt, ist "kaum ein Bild im öffentlichen Raum ... unbearbeitet - mit der Folge, dass wir fast jedes Image als Werbung interpretieren. Klassische Fotografie aber hatte immer einen Ausgangspunkt: das Negativ. Mit der Überschreitung dieser unscheinbaren Linie war ein Tabu gebrochen, das auch gedanklich ein Negativ obsolet zu machen schien. Wenn alles bearbeitet wird, warum dann nicht gleich einen Datensatz nehmen anstelle des Negativs? Seither ist das Fehlen eines Originals der Phantomschmerz der Fotografie." (Schöner Jim Rakete-Nachruf auf die insolvente US-Firma Kodak auf Seite 2 der Süddeutschen schließlich).
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag