Misstrau mir!

Misstrau mir!

Die 400 Fragen an Christian Wulff machen eine zweite Medienkarriere: Zeitungen geben ihre Fragen zur Veröffentlichung frei. Aber: Es geht nicht nur um Transparenz, sondern darum, ob Wulff sie selbst herstellt. Die Zeit dekonstruiert derweil die Transparenz als solche. Und es gibt irgendwas mit Baku

Da waren wir gestern, zumindest hier im Altpapier, schon halb los von Christian Wulff, und jetzt der Rückfall. Ja sorry. Aber das zentrale Medienmedienthema heißt, neben "Unser Star für Baku" (siehe Altpapierkorb), eben Wulff. Es geht heute um die Zahl 400, die gerade eine steile Karriere hinlegt, weg jedenfalls von den Euro-Jobs, die nach ihr benannt sind.

Steffen Grimberg holt in der taz, die online am Freitag um 10 Uhr auch aus Gründen der, ja, Transparenz eine Mail mit Fragen an Bild-Chefredakteur Kai Diekmann veröffentlichte, jedoch zunächst einmal einen allgemeinen, aber für die Medienbetrachtung zentralen Aspekt auf den Radar der überregionalen Presse (der regional schon Gegenstand war, etwa in der Thüringer Allgemeinen): Der "Schauplatz unfreier Berichterstattung", so Grimberg, liege nicht um Umfeld des Bundespräsidenten; der habe sich zwar "hochgradig dämlich" angestellt, aber deswegen sei noch lange nicht strukturell – meine Formulierung – die Pressefreiheit bedroht. Der Schauplatz liege vielmehr a) im öffentlich-rechtlichen Rundfunk; b) dürfe man die "schizophrene Kaste" der Medienanwälte nicht vergessen. Vor allem aber liege der Schauplatz c) "im Lokalen":

"Wenn es um echte Drangsalierung der Presse geht, ist jeder Provinzbürgermeister effizienter als der Bundespräsident: indem der gesetzliche Auskunftsanspruch der Presse, gerade im Lokalen oder im Regionalen, ignoriert wird. Indem missliebigen Medien der Zugang verwehrt, sie indirekt abgestraft oder andere eben bevorzugt informiert werden. Denn wo es – anders als auf Bundesebene, wo man einfach ein Ministerium weiter noch mal nachfragt – keine 'Ausweichmöglichkeiten' bei der Recherche gibt, wird dann oft tatsächlich eine kritische Berichterstattung behindert."

Wie der Zufall es will die Agenda es will, berichtete Joachim Braun, der Chefredakteur des Nordbayerischen Kuriers, in seinem Blog genau gestern über solche Behinderungen. Oder zunächst einmal: über beleidigte Anrufe und Verlegerbesuche von Politikern.

"Der (all)tägliche Wulff. (...) So ist das seit jeher zwischen (Lokal-)Politikern und (Lokal-)Journalisten. Und daran wird sich auch durch die jüngsten Diskussionen nichts ändern".

Jenseits davon geht es derweil aber vor allem um die viel zitierten 400 Fragen an Christian Wulff und dessen Antworten darauf, deren Offenlegung im Internet der im ARD- und ZDF-Interview angekündigt haben soll. Die Diskussion heute kreist um die Argumentation von Wulffs Anwalt Gernot Lehr, dessen Kanzlei "im Auftrag von Christian Wulff“ um "Verständnis dafür" bat, "dass wir aus Rechtsgründen daran gehindert sind, den Schriftverkehr mit den Medienvertretern zu veröffentlichen".

[listbox:title=Artikel des Tages[Fragen an Kai Diekmann (taz.de)##Die Fragen der Welt (welt.de)##Entbindung (FR/BLZ)##Historischer Vorgang (SZ)]]

Der Anlass der Medien, diese Veröffentlichung überhaupt zu fordern, ist allerdings zunächst einmal ein konstruierter: Stefan Niggemeier greift in seinem Blog den Hinweis eines Blog-Kommentators auf, der behauptet hatte, Wulff habe diese Veröffentlichung doch gar nicht versprochen. Und schau an, hat er tatsächlich irgendwie nicht: Die Zitate "Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen" und "Ich geb ihnen gern die 400 Fragen – 400 Antworten", die hier und da in Medien direkt hintereinander auftauchen, werden im Originalinterview Wulffs mit ARD und ZDF unterbrochen von, im Transskript, 11818 Zeichen inklusive Interviewerfragen. Wulff hat nie unmissverständlich gesagt, dass er 400 Antworten auf 400 Fragen ins Internet stellen lassen wolle. Auch wenn er offensichtlich mit einer Art von Transparenz punkten wollte, die als Transparentwashing besser beschrieben ist. Hans Leyendecker nennt Wulffs Äußerungen (SZ, S. 5) daher zutreffend "unpräzise oder sogar irreführend".

Es geht heute also dennoch um das 400-Fragen-und-Antworten-Spiel. Die Welt veröffentlichte nun selbst all ihre Fragen zur Causa Wulff sowie alle Antworten, die sie bekommen hat. Ebenso entbinden die Schwesterblätter Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau Anwalt Lehr von der Schweigepflicht – wobei sie die Veröffentlichung, wie Die Welt, natürlich selbst in der Hand hätten. Es geht insofern dabei nicht um Transparenz, sondern darum, zu sehen, ob Wulff selbst Transparenz herstellt. Auch Bild, Spiegel und SZ hätten ihre Fragen freigegeben, so Leyendecker, der den Vorgang historisch einordnet:

"Dass viele Medien ihre vorläufigen Rechercheergebnisse nicht für sich behalten, sondern in aller Öffentlichkeit präsentieren wollen, ist einmalig in der deutschen Pressegeschichte. 'Alle Anfragen zu Wulffs Privatdarlehen, zu seinem BW-Bank-Kredit, zu Zinskonditionen und Urlaubsreisen, zu Unternehmerfreundschaften, Grundbucheinträgen, Sicherheiten, zu eventueller Steuerhinterziehung, zu Überweisungen, Daueraufträgen und Tilgungen dürfen gern veröffentlicht werden', teilten etwa die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau mit. Eine solche Veröffentlichung werde zeigen, 'wie wenig manche Antworten erklären, wie oft Nachfragen nötig waren'."

Das, wie gesagt, steht auf SZ-Seite 5. Auf Seite 1 landet Wulff allerdings auch wieder – nämlich auf jener der FAZ –, und zwar wegen der Begründung Gernot Lehrs, aus rechtlichen Gründen könne man nicht den Schriftverkehr mit den Journalisten veröffentlichen: In einem anderen Fall habe Wulffs Anwaltskanzlei schon einmal einen solchen Schriftverkehr veröffentlicht, schreibt die FAZ heute im Zeitungsaufmacher. Lehr gab den

"Mailwechsel mit dem 'Welt'-Redakteur Jörg Eigendorf vom 21. Dezember weiter, in dem zahlreiche detaillierte Fragen des Journalisten zu Wulffs Krediten bei der BW-Bank, die Antworten Lehrs, Nachfragen und weitere Antworten sowie Kontaktdaten enthalten sind".

Lehr nennt das selbst  "ein bedauerliches Versehen", sagte aber zu Spiegel Online auch (wovon man in der FAZ nichts erfährt): Der FAS-Redakteur, dem er die Fragen weitergeleitet habe, "habe ihm zugesagt, die Fragen nicht zu veröffentlichen, ihn dann aber an diesem Donnerstag überraschend angerufen, um mitzuteilen, dass er sich an die Zusage nicht gehalten habe". Wenn die Geschichte sich erwartungsgemäß weiter entwickelt, wird am Sonntag die FAS schreiben, dass das so nicht stimme, woraufhin Lehr dann sagen dürfte, das stimme aber wohl, woraufhin ein Lehr-Plag eingerich...

Wie es zu Lehrs Begründung für die Nichtveröffentlichung kam, schreibt wiederum Leyendecker, der von zwei Modellen berichtet, die am Mittwoch im Bundespräsidialamt diskutiert worden seien:

"Das eine Modell sah vor, dass die Fragen und Antworten nach Freigabe durch die jeweiligen Redaktionen ins Netz gestellt würden – umfassende Transparenz. Modell zwei verzichtete auf die Veröffentlichung. Gegen Modell eins soll es im Laufe des Tages immer stärkeren Widerstand gegeben haben. Die Fragen der Journalisten seien zwar allesamt korrekt beantwortet worden, aber ihre Veröffentlichung könnte dann den 'Steinbruch für eine Fortsetzung der Kampagne liefern', erklärt ein Wulff-Vertrauter."

[+++] Es ist aber auch verzwickt, wenn man derart im Scheinwerferlicht steht. Jedes Kopfkratzen wird sofort bemerkt. Der Druck der Transparenz, kann man das so sagen? Die Zeit hat dazu einen Text des Philosophen Byung-Chul Han im Blatt (und auch schon online), der sich dem Thema mit der Skepsis eines Datenschützers nähert, der den sog. Post-Privacy-Spackos, die er hier "naiv" nennt, das Handwerk legen will.

"Wer (...) die Transparenz allein auf Fragen der Korruption oder Demokratie reduziert, verkennt ihre Tragweite. Die Transparenz manifestiert sich heute als ein systemischer Zwang, der alle gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Prozesse erfasst und sie einer tief greifenden Veränderung unterwirft."

Und auch in diesem Text steckt natürlich ein bisschen Wulff:

"Immer wieder betonte Wulff, 'er wolle Vertrauen schaffen durch Transparenz'. (...) Vertrauen ist nur möglich in einem Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen. Vertrauen heißt, trotz Nichtwissen gegenüber dem anderen eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen. (...) Weiß ich im Vorfeld alles, erübrigt sich das Vertrauen. Die Transparenz ist ein Zustand, in dem jedes Nichtwissen eliminiert ist. Wo die Transparenz herrscht, ist kein Raum für das Vertrauen. Statt 'Transparenz schafft Vertrauen' sollte es eigentlich heißen: 'Transparenz schafft Vertrauen ab'."

Ein kluger Gedanke, mit dem man aber vielleicht noch einmal weiterdenken darf: Was nämlich, wenn Vertrauen gar nicht erst vorhanden ist? Vielleicht müsste es in diesem Fall also doch eher heißen: Transparenz schafft Misstrauen ab.


Altpapierkorb

[+++] "Unser Star für Baku" heißt das zweite große – oder eher größere – Thema des Tages: Die Castingshow, in der ermittelt wird, wer für "Deutschland" beim Eurovision Song Contest in Baku antritt, hat begonnen. Und die Rede ist, etwa in der FR-BLZ-Frühkritik, von einer Neuerung im wie immer demokratisch zu nennenden Abstimmungsverfahren: "Eine Skala, die permanent eingeblendet wurde, zeigte den sich rasant ändernden Stand der Favoriten und spornte alle Abstimmungsteilnehmer an, doch immer wieder anzurufen" +++ Hans Hoff lobt bei sz.de das Abstimmungsverfahren als besonders spannend: "Fünf von zehn Kandidaten hatten die Chance, im Auswahlverfahren eine Runde weiter zu kommen, und bis zur letzten Sekunde lagen sechs Kandidaten gleichauf. In einer Art Fotofinish wurde schließlich um kurz nach 23 Uhr entschieden, im Sport spricht man da gerne von einem Herzschlagfinale. Spannender wurde noch keine Castingshowentscheidung präsentiert" +++ Komisch ist, dass sich die Transparenz auch bei der Castingshow als Schlagword wiederfindet: von "absoluter Transparenz" spricht laut DWDL Jury-Nichtpräsident – den ich hier aus Gründen explizit nicht Putin nenne – Stefan Raab +++ Und auch der KSTA macht "erhebliche Spannung" aus +++

+++ Vor der Golden-Globe-Verleihung am Sonntag kritisiert die FAZ (S. 33), dass auf der Liste der für den Golden Globe für die beste Serie nominierten Serien die beste Serie fehle: "Breaking Bad" +++

+++ Dass man mit dem Thema Burnout auflagentechnisch punkten kann, hatten wir schon. SZ-Wissenschaftsredakteur Werner Bartens erzählt die Geschichte der Medienkarriere des Burnouts heute noch einmal (S. 15) und beklagt einen zugrunde liegenden Etikettenschwindel, da hinter dem Burnout "in den meisten Fällen eine Depression steckt, die aber oft mit Schuldvorwürfen und dem Gefühl des eigenen Versagens einhergeht. Das will keiner lesen. Sich im Burn-out und in anderen Opfern der Verhältnisse wiederzuerkennen, stimuliert hingegen sichtlich zum Heftkauf." Der schönste Absatz gilt der Zeit: "Die Kollegen von der Zeit erweckten eine ganze Weile den Eindruck, das Thema des Jahres komplett zu verschlafen. Im Dezember erkannten sie ihr Versäumnis und brachten den Burn-out in Ausgabe 49 auf den Titel. Sie machten das in einer Art, für die wir die Zeit lieben: Verspätet, aber unfassbar ausgeruht, fragten sie 'Jemand noch ohne Burn-out?', taten so, als ob sie das ganze Jahr nur darauf gewartet hätten, diese Aufräumer-Geschichte abzufeuern und lagen mit dem Nachsitzertitel 20000 Exemplare über dem Einzelverkauf der Vorwochen" +++

+++ Dschungelcamp: Tagesspiegel +++ Der auch über die Konkurrenz zwischen dpa und dapd um den Auftrag des Auswärtigen Amts berichtet +++ Die SZ berichtet über das Buch des Krisenreporters Carsten Stormer +++ Und über das Remake von "The Prisoner" für ZDFneo +++ Die FAZ rezensiert "Der Staatsanwalt" (ZDF) +++ Und berichtet über den Tod des Kriegsreporters Gilles Jacquier, der am Mittwoch in Syrien starb, und die Reaktionen der französischen Medien +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Montag.

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